Audienz für die Teilnehmer an der Vollversammlung der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE)

Mit Weitsicht und Kreativität für den Frieden eintreten

 Mit Weitsicht und Kreativität für den Frieden eintreten  TED-013
31. März 2023

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag, willkommen!

Ich danke dem neugewählten Vorsitzenden und wünsche ihm alles Gute für seinen Dienst. Kardinal Hollerich gilt meine aufrichtige Dankbarkeit. Er ist immer aktiv, nie ruht er sich aus! Ich grüße euch alle und danke euch für eure anstrengende, auch begeis-ternde Arbeit, wenn man nicht in der Bürokratie steckenbleibt, sondern den Blick zum Horizont erhebt und ihn auf jene Werte richtet, die das »Projekt Europa« inspiriert haben. Daher möchte ich heute mit euch kurz über zwei Schlüsselaspekte nachdenken, die den zwei großen »Träumen« der Gründerväter Europas entsprechen: es sind der Traum von der Einheit und der Traum vom Frieden.

Die Einheit. Hinsichtlich dieses ersten Punktes ist es notwendig klarzustellen, dass die europäische Einheit keine einförmige Einheit sein kann, die Unterschiede einebnet, sondern dass sie im Gegenteil eine Einheit sein muss, die die Einzigartigkeiten, Besonderheiten der Völker und Kulturen, aus denen sie sich zusammensetzt, respektiert und wertschätzt. Denken wir an die Gründerväter, die aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Kulturen kamen: De Gasperi und Spinelli, Italiener; Monnet und Schuman, Franzosen; Adenauer, Deutscher; Spaak, Belgier; Beck, Luxemburger – um nur die wichtigsten zu nennen. Der Reichtum Europas liegt in der Konvergenz der verschiedenen Inspirationsquellen des Denkens und der unterschiedlichen historischen Erfahrungen. So wie ein Fluss von seinen Zuflüssen lebt. Wenn die Zuflüsse geschwächt oder blockiert werden, dann wirkt sich das auf den ganzen Fluss aus, der an Kraft verliert. Die Originalität der Zuflüsse. Das muss man respektieren: die Originalität jedes Landes.

Das ist der erste Gedanke, auf den ich eure Aufmerksamkeit lenken möchte: Europa hat eine Zukunft, wenn es wirklich eine Union ist und keine Schmälerung der Länder mit ihren jeweiligen Merkmalen. Die Herausforderung ist genau dies: Einheit in der Verschiedenheit. Und das ist möglich, wenn eine starke Inspiration vorhanden ist. Andernfalls überwiegt der Apparat, überwiegt das technokratische Paradigma, das aber nicht fruchtbar ist, weil es die Menschen nicht begeistert, die jungen Generationen nicht anzieht, nicht die lebendigen Kräfte der Gesellschaft beim Aufbau eines gemeinsamen Projektes einbezieht.

Fragen wir uns: Was ist die Rolle der christlichen Inspiration bei dieser Herausforderung? Zweifelsohne hat sie in der Gründungsphase eine grundlegende Rolle gespielt, weil sie in Herz und Geist der Männer und Frauen verankert war, die das Unternehmen begonnen haben. Heute hat sich viel verändert, sicher, aber es ist weiterhin wahr, dass es die Männer und Frauen sind, die etwas bewirken. Daher ist es die erste Aufgabe der Kirche in diesem Bereich, Menschen zu formen und zu bilden, damit sie die Zeichen der Zeit zu deuten und das Projekt Europa in die heutige Geschichte zu übersetzen wissen.

Und damit kommen wir zum zweiten Aspekt: Frieden. Die heutige Geschichte braucht Männer und Frauen, die beseelt sind vom Traum eines im Dienst am Frieden geeinten Europas. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Europa die längste Friedensphase seiner Geschichte erlebt. In der Welt allerdings gab es verschiedene Kriege. In den vergangenen Jahrzehnten zogen sich einige Kriege jahrelang hin, bis heute, so dass man mittlerweile von einem dritten Weltkrieg sprechen kann. Der Krieg in der Ukraine ist nicht weit weg und hat den europäischen Frieden erschüttert. Die Nachbarstaaten haben sich für die Aufnahme der Flüchtlinge eingesetzt; alle Völker Europas engagieren sich in der Solidarität mit dem ukrainischen Volk. Dieser einstimmigen Antwort auf der Ebene der Caritas sollte ein geschlossenes Engagement für den Frieden entsprechen, aber dies ist natürlich weder einfach noch selbstverständlich.

Diese Herausforderung ist sehr komplex, weil die Länder der Europäischen Union an verschiedenen Bündnissen, Interessen, Strategien beteiligt sind; es sind eine ganze Reihe von Kräften, die man nur schwer in einem einheitlichen Projekt zusammenfließen lassen kann. Doch sollte ein Grundsatz von allen klar und entschieden geteilt werden: Krieg kann und darf nicht als Lösung für Konflikte betrachtet werden (vgl. Fratelli tutti, 258). Wenn die Länder Europas heute nicht alle diesem ethisch-politischen Grundsatz zustimmen, dann heißt das, dass sie sich vom Ursprungstraum entfernt haben. Wenn sie ihm dagegen zustimmen, dann müssen sie sich für dessen Umsetzung engagieren, mit all der Mühe und Komplexität, die die historische Situation erforderlich macht. Denn »Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit« (ebd., 261). Das müssen wir den Politikern immer wieder sagen.

Auch hinsichtlich dieser Herausforderung des Friedens kann und muss die COMECE ihren Beitrag leisten, sowohl aus dem Wertverständnis als auch aus dem Fachwissen heraus. Ihr seid von eurem Wesen her eine »Brücke« zwischen den europäischen Teilkirchen und den Institutionen der Europäischen Union. Von eurer Sendung her pflegt ihr Beziehungen, Begegnungen, Dialog. Und das bedeutet bereits, für den Frieden zu arbeiten. Aber das reicht nicht. Auch Prophetie ist notwendig, ebenso wie Weitsicht und Kreativität notwendig sind, um das Anliegen des Friedens voranzubringen. Auf dieser Baustelle sind sowohl Architekten als auch Handwerker notwendig, aber ich würde sagen, dass der wahre Friedensstifter sowohl Architekt als auch Handwerker sein muss: das ist der wahre Friedensstifter. Das wünsche ich auch einem jeden von euch, wohl wissend, dass jeder seine eigenen Charismen hat, die mit denen der anderen zur gemeinsamen Arbeit beitragen.

Meine Lieben, ich bringe euch erneut meine Dankbarkeit zum Ausdruck und versichere euch, dass ich für euch bete und dass ich für euren Dienst bete. Heute habe ich über diese beiden, besonders dringlichen Schlüsselaspekte gesprochen, aber ich ermutige euch, wie immer auch eure Arbeit im kirchlichen Bereich fortzuführen. Die Muttergottes möge euch behüten und unterstützen. Von Herzen segne ich euch alle und bitte euch, für mich zu beten. Danke.

(Orig. ital. in O.R. 23.3.2023)