Generalaudienz auf dem Petersplatz am 22. März

Das Zeugnis für Christus ist der erste Weg der Evangelisierung

 Das Zeugnis für Christus ist der erste Weg der Evangelisierung  TED-013
31. März 2023

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag!

Heute wollen wir der »Magna Carta« der Evangelisierung in der heutigen Welt Gehör schenken: dem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi des heiligen Paul VI. (EN, 8. Dezember 1975). Es ist zeitgemäß, es wurde 1975 geschrieben, aber es ist, als wäre es gestern geschrieben worden. Die Evangelisierung ist mehr als eine einfache Weitergabe der Lehre und der Moral. Sie ist vor allem Zeugnis. Man kann nicht evangelisieren ohne Zeugnis; Zeugnis der persönlichen Begegnung mit Jesus Christus, dem fleischgewordenen Wort, in dem das Heil zur Vollendung gebracht wurde. Ein unverzichtbares Zeugnis, denn vor allem braucht die Welt »Verkünder, die von einem Gott sprechen, den sie kennen und der ihnen […] vertraut ist« (EN, 76). Es geht nicht darum, eine Ideologie oder eine »Lehre« über Gott weiterzugeben, nein. Es geht darum, Gott weiterzugeben, der in mir zum Leben erweckt wird: Das ist Zeugnis; denn »der heutige Mensch […] hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind« (ebd., 41). Das Zeugnis für Christus ist also gleichzeitig der erste Weg der Evangelisierung (vgl. ebd.) und eine wesentliche Bedingung für ihre Tiefenwirkung (vgl. ebd., 76), damit die Verkündigung des Evangeliums fruchtbar sein kann. Zeugen sein.

Glaube und Heiligkeit

Man muss daran erinnern, dass das Zeugnis auch den Glauben, den man bekennt, einschließt, also die überzeugte und offensichtliche Treue zu Gott, dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, der uns aus Liebe erschaffen, uns erlöst hat. Ein Glaube, der uns verwandelt, der unsere Beziehungen ebenso verwandelt wie die Kriterien und die Werte, die unsere Entscheidungen bestimmen. Das Zeugnis kann daher nicht absehen von der Stimmigkeit zwischen dem, was man glaubt, und dem, was man verkündigt, und dem, was man lebt. Man ist nicht glaubwürdig, indem man nur eine Lehre oder eine Ideologie aufsagt, nein. Ein Mensch ist glaubwürdig, wenn er Harmonie besitzt zwischen dem, was er glaubt, und dem, was er lebt. Viele Christen sagen nur, dass sie glauben, aber leben etwas anderes, so als wären sie es nicht. Und das ist Heuchelei. Das Gegenteil vom Zeugnis ist Heuchelei. Wie oft haben wir gehört: »Ach, der geht jeden Sonntag in die Messe, und dann lebt er so und so und so und so«: Das stimmt, es ist ein Gegenzeugnis.

Jeder von uns ist aufgerufen, auf drei grundlegende Fragen zu antworten, die von Paul VI. so formuliert wurden: »Glaubst du an das, was du verkündest? Lebst du, was du glaubst? Predigst du, was du lebst?« (vgl. ebd.). Es ist eine Harmonie vorhanden: Glaubst du an das, was du verkündest? Lebst du, was du glaubst? Predigst du, was du lebst? Wir dürfen uns nicht mit einfachen, vorgefertigten Antworten begnügen. Wir sind aufgerufen, das – auch destabilisierende – Risiko der Suche auf uns zu nehmen, indem wir vollkommen dem Wirken des Heiligen Geistes vertrauen, der in jedem von uns wirkt und uns drängt, immer weiterzugehen: über unsere Grenzen, über unsere Hindernisse, über unsere Beschränkungen jeder Art hinaus.

In diesem Sinne bringt ein christliches Lebenszeugnis einen Weg der Heiligkeit mit sich, der auf der Taufe gründet, die uns »der göttlichen Natur teilhaftig und so wirklich heilig« macht (Dogmatische Konstitution Lumen gentium, 40). Eine Heiligkeit, die nicht nur wenigen vorbehalten ist; die ein Geschenk Gottes ist und die angenommen werden und fruchtbar gemacht werden muss für uns und für die anderen. Wir, die wir von Gott auserwählt und geliebt sind, müssen diese Liebe zu den anderen bringen. Paul VI. lehrt, dass der Eifer für die Evangelisierung der Heiligkeit entspringt, dem Herzen entspringt, das erfüllt ist mit Gott. Genährt vom Gebet und vor allem von der Liebe zur Eucharistie lässt die Evangelisierung ihrerseits die Menschen in Heiligkeit wachsen, die sie durchführen (vgl. EN, 76). Gleichzeitig gelangt ohne die Heiligkeit das Wort des Evangelisierenden »nur schwer in die Herzen der Menschen unserer Zeit«, sondern »läuft Gefahr, hohl und unfruchtbar zu sein« (ebd.)

Wir müssen uns also bewusst sein, dass Empfänger der Evangelisierung nicht nur die anderen sind – jene, die sich zu einem anderen Glauben oder zu keinem Glauben bekennen –, sondern auch wir selbst, die wir an Christus glauben und tätige Glieder des Got-tesvolkes sind. Und wir müssen jeden Tag umkehren, das Wort Gottes annehmen und unser Leben verändern: jeden Tag. Und so findet die Evangelisierung des Herzens statt. Um dieses Zeugnis zu geben, muss auch die Kirche als solche beginnen, sich selbst zu evangelisieren. Wenn die Kirche sich selbst nicht evangelisiert, bleibt sie ein Museumsstück. Was sie dagegen beständig aktualisiert, ist die Evangelisierung ihrer selbst. Sie muss un-ablässig vernehmen, was sie glauben muss, die Gründe ihrer Hoffnung, das neue Gebot der Liebe. Die Kirche, die ein Volk Gottes ist, das mitten in der Welt lebt und oft durch Idole – viele Idole – versucht wird, muss immer die Verkündigung der Großtaten Gottes hören. Das heißt, kurz gesagt, dass sie immer evangelisiert werden muss, dass sie das Evangelium in die Hand nehmen, beten und die Kraft des Heiligen Geistes spüren muss, der das Herz verwandelt (vgl. EN, 15).

Umkehr und Erneuerung

Eine Kirche, die sich selbst evangelisiert, um zu evangelisieren, ist eine Kirche, die aufgerufen ist, vom Heiligen Geist geleitet einen anspruchsvollen Weg zu gehen, einen Weg der Umkehr, der Erneuerung. Das bringt auch die Fähigkeit mit, sich zu verändern, wie man ihre evangelisierende Anwesenheit in der Geschichte versteht und lebt, indem man es vermeidet, sich in die Zonen zurückzuziehen, die geschützt sind von der Logik des »das hat man schon immer so gemacht«. Das sind Rückzugsorte, die die Kirche krank machen. Die Kirche muss vorangehen, sie muss beständig wachsen, so wird sie jung bleiben. Diese Kirche ist vollständig Gott zugewandt, hat also teil an seinem Heilsplan für die Menschheit, und sie ist gleichzeitig vollständig der Menschheit zugewandt. Die Kirche muss eine Kirche sein, die dialogisch der heutigen Welt begegnet, die geschwisterliche Beziehungen knüpft, die Räume der Begegnung schafft, indem sie gute Praktiken der Aufnahme, der Anerkennung und der Eingliederung des anderen und des Andersartigen umsetzt, die Sorge trägt für das gemeinsame Haus, das die Schöpfung ist. Also eine Kirche, die der heutigen Welt dialogisch begegnet, die mit der heutigen Welt einen Dialog führt, die jedoch auch jeden Tag dem Herrn begegnet und mit dem Herrn einen Dialog führt und den Heiligen Geist hereinlässt, der der Protagonist der Evangelisierung ist. Ohne den Heiligen Geist könnten wir nur Werbung für die Kirche machen, nicht evangelisieren. Es ist der Heilige Geist in uns, der uns zur Evangelisierung drängt, und das ist die wahre Freiheit der Kinder Gottes.

Liebe Brüder und Schwestern, ich lade euch erneut dazu ein, das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi immer wieder zu lesen: Ich sage euch die Wahrheit, ich lese es oft, denn es ist das Meisterwerk des heiligen Paul VI., es ist das Erbe, das er uns hinterlassen hat, um zu evangelisieren.

(Orig. ital. in O.R. 22.3.2023)