Ansprache von Papst Franziskus beim Angelusgebet am vierten Fastensonntag, 19. März

Sind wir frei?

 Sind wir frei?  TED-012
24. März 2023

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag!

Heute zeigt uns das Evangelium, wie Jesus einem von Geburt an blinden Mann das Augenlicht wiedergibt (vgl. Joh 9,1-41). Doch dieses Wunder wird von verschiedenen Personen und Gruppen schlecht aufgenommen. Sehen wir uns das im Einzelnen an.

Doch zuerst möchte ich euch sagen: Nehmt heute das Johannesevangelium zur Hand und lest dieses Wunder Jesu selbst, es ist wunderschön, wie Johannes es erzählt. Kapitel 9, in zwei Minuten könnt ihr es lesen. Es zeigt, wie Jesus vorgeht und wie das menschliche Herz vorgeht: das gute menschliche Herz, das laue menschliche Herz, das ängstliche menschliche Herz, das tapfere menschliche Herz. Kapitel 9 des Johannes-evangeliums. Tut es heute, es wird euch sehr helfen. Und wie nehmen die Menschen dieses Zeichen auf?

Da sind zunächst die Jünger Jesu, die angesichts des Blindgeborenen ins Schwatzen geraten: Sie fragen sich, ob die Schuld bei den Eltern oder bei ihm liege (vgl. V. 2). Sie suchen nach einem Schuldigen; und wir verfallen so oft in das, was so bequem ist: nach einem Schuldigen zu suchen, statt im Leben anspruchsvolle Fragen zu stellen. Und heute können wir sagen: Was bedeutet die Anwesenheit dieses Menschen für uns, was verlangt er von uns? Dann nehmen, nach erfolgter Heilung, die Reaktionen zu. Die erste ist jene der Nachbarn, die skeptisch sind: »Dieser Mann war schon immer blind: es ist unmöglich, dass er jetzt sieht, er kann es nicht sein, es ist ein anderer«: Skepsis (vgl. V. 8-9). Für sie ist es inakzeptabel, sie halten es für besser, alles beim Alten zu lassen (vgl. V. 16) und sich nicht mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Sie haben Angst, fürchten die religiösen Autoritäten und enthalten sich der Stellungnahme (vgl. V. 18-21). Bei all diesen Reaktionen tauchen vor dem Zeichen Jesu verschlossene Herzen auf, aus unterschiedlichen Gründen: weil sie einen Schuldigen suchen, weil sie nicht verstehen, sich überraschen zu lassen, weil sie sich nicht ändern wollen, weil sie durch Angst blockiert sind. Und viele Situationen ähneln dem auch heute. Konfrontiert mit etwas, das gerade eine Botschaft des Zeugnisses einer Person ist, das eine Botschaft Jesu ist, verfallen wir in dieses Verhalten: Wir suchen nach einer anderen Erklärung, wir wollen uns nicht ändern, wir suchen nach einem eleganteren Ausweg, statt die Wahrheit zu akzeptieren.

Der Einzige, der gut reagiert, ist der Blinde: Er freut sich, dass er sehen kann, und bezeugt das, was ihm widerfahren ist, auf die einfachste Weise: »Ich war blind und jetzt sehe ich« (V. 25). Er sagt die Wahrheit. Vorher war er gezwungen, um seinen Lebensunterhalt zu betteln und litt unter den Vorurteilen der Menschen: »Er ist arm und blind von Geburt an, er muss leiden, er muss für seine Sünden oder die seiner Vorfahren büßen.« Jetzt, frei an Leib und Geist, legt er Zeugnis für Jesus ab: er erfindet nichts und verbirgt nichts. »Ich war blind und jetzt sehe ich.« Er hat keine Angst vor dem, was die anderen sagen könnten, denn er hat schon sein Leben lang den bitteren Geschmack der Ausgrenzung gekannt, er hat die Gleichgültigkeit und die Verachtung der Passanten bereits verspürt, derer, die ihn als einen Ausschuss der Gesellschaft betrachteten, der bestenfalls für die fromme Geste eines kleinen Almosens nützlich war. Nun, wo er geheilt ist, fürchtet er diese verächtliche Haltung nicht mehr, da Jesus ihn mit voller Würde ausgestattet hat. Und das ist klar, das geschieht immer: Wenn Jesus uns heilt, gibt er uns die Würde zurück, die Würde der Heilung Jesu, die volle Würde, eine Würde, die aus dem tiefsten Herzen kommt, die das ganze Leben umfasst; und er hat ihn am Sabbat vor aller Augen befreit und ihm das Augenlicht geschenkt, ohne eine Gegenleistung, nicht einmal ein Dankeschön, zu verlangen, und dafür legt er Zeugnis ab. Das ist die Würde eines edlen Menschen, eines Menschen, der sich geheilt weiß und aufatmet, der wiedergeboren wird; diese Wiedergeburt im Leben, von der heute im Fernsehprogramm »A Sua Immagine« die Rede war: wiedergeboren zu werden.

Brüder und Schwestern, mit all diesen Gestalten versetzt das heutige Evangelium auch uns mitten in die Szene, damit wir uns fragen: Welche Position nehmen wir ein, was hätten wir damals gesagt? Und vor allem: Was tun wir heute? Verstehen wir wie der Blinde das Gute zu sehen und für die Gaben, die wir erhalten, dankbar zu sein? Ich frage mich: Wie steht es um meine Würde? Wie steht es um deine Würde? Geben wir Zeugnis für Jesus oder verbreiten wir Kritik und Misstrauen? Sind wir frei angesichts von Vorurteilen oder verbünden wir uns mit denen, die Negativität und Klatsch verbreiten? Freuen wir uns zu sagen, dass Jesus uns liebt, dass er uns rettet, oder lassen wir uns, wie die Eltern des Blindgeborenen, von der Angst vor dem, was die Leute denken, gefangen nehmen? Die Menschen lauen Herzens, die die Wahrheit nicht akzeptieren und nicht den Mut haben zu sagen: »Nein, es ist so.« Und weiter: Wie nehmen wir die Schwierigkeiten und die Gleichgültigkeit der anderen auf? Wie nehmen wir Menschen an, die so viele Einschränkungen im Leben haben? Seien sie nun körperlicher Art, wie bei diesem blinden Mann, oder sozialer Art, wie bei den Bettlern, die wir auf der Straße finden? Betrachten wir das als einen Fluch oder als eine Chance, ihnen mit Liebe zu begegnen?

Brüder und Schwestern, lasst uns heute um die Gnade bitten, jeden Tag über die Gaben Gottes zu staunen und die verschiedenen Umstände des Lebens, auch die am schwersten zu akzeptierenden, als Gelegenheit sehen, Gutes zu tun, so wie es Jesus mit dem Blinden tat.

Möge die Gottesmutter uns dabei helfen, gemeinsam mit dem heiligen Josef, einem gerechten und treuen Mann.

Nach dem Angelus sagte der Papst:

Liebe Brüder und Schwestern!

Gestern hat ein Erdbeben in Ecuador Tote, Verletzte und große Schäden verursacht. Ich bin dem ecuadorianischen Volk nahe und sichere mein Gebet für die Verstorbenen und für alle Leidenden zu.

Ich grüße euch alle, die Römer und die Pilger aus vielen Ländern – ich sehe Fahnen: kolumbianische, argentinische, polnische… viele, viele Länder… – ich grüße die Spanier, die aus Murcia, Alicante und Albacete gekommen sind.

Ich grüße die Pfarreien San Raimondo Nonnato und der Kanadischen Märtyrer in Rom und die Pfarrei Cristo Re in Civitanova Marche; die Vereinigung der Salesianischen Mitarbeiter Don Boscos; die Jugendlichen aus Arcore, die Firmlinge aus Empoli und aus der Pfarrei Santa Maria del Rosario in Rom. Ich grüße die Jugend der Immacolata, die so tüchtig ist.

Mit Freude grüße ich auch die Teilnehmer des Rom-Marathons! Ich beglückwünsche euch, weil ihr auf Anregung von »Athletica Vaticana« dieses wichtige Sportereignis zu einem Anlass der Solidarität zugunsten der Ärmsten macht.

Und heute wünschen wir allen Vätern alles Gute! Mögen sie im heiligen Josef das Vorbild, die Unterstützung und den Trost finden, um ihre Vaterschaft gut zu leben. Und lasst uns alle zusammen für die Väter das Vaterunser beten. [Vater unser…]

Brüder und Schwestern, lasst uns nicht vergessen, für das gemarterte Volk der Ukraine zu beten, das weiterhin unter den Kriegsverbrechen leidet.

Ich wünsche allen einen schönen Sonntag. Bitte vergesst nicht, für mich zu beten. Gesegnete Mahlzeit und auf Wiedersehen.