Eine jüdische Perspektive

Gegenseitige Zuneigung

 Gegenseitige Zuneigung  TED-011
17. März 2023

Als Kardinal und Erzbischof von Buenos Aires pflegte Jorge Mario Bergoglio enge Beziehungen zu den Juden seiner Stadt. Er unterhielt einen offenen Dialog mit Rabbinern, Gemeindeleitern und Einzelpersonen, und so entwickelten sich viele Freundschaften, die sich im Laufe der Zeit vertieften.

Ich gehöre zu denjenigen, die sich des Segens seiner Freundschaft erfreuen konnten, gegründet auf unsere regelmäßigen interreligiösen Gespräche. Gemeinsam haben wir ein Buch über unsere Dialoge geschrieben (Über Himmel und Erde, auf dt. im Riemanverlag 2013) und 31 Sendungen für den Fernsehkanal der Erzdiözese aufgezeichnet. Bergoglio hat in verschiedenen Synagogen gesprochen, meine eingeschlossen, wo er von Herzen kommende und spirituell inspirierende Worte an die Gemeinden richtete. Er war eine beständige Quelle der Zuversicht und Unterstützung, insbesondere nach dem schrecklichen Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires im Jahr 1994. Besonders berührend für mich persönlich war seine Bitte an mich, das Vorwort zu seiner autorisierten Biographie zu verfassen. All dies zeugte von Kardinal Bergoglios aufrichtigem Engagement für den Aufbau von Beziehungen und Freundschaften mit Juden und ihren Gemeindeeinrichtungen.

Nach dem präzedenzlosen Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. und der historischen Wahl meines Freundes zum ersten Papst aus Latein-amerika erfuhr jeder, der sich über diesen Kardinal »vom Ende der Welt« (wie er es ausdrückte) informieren wollte, wie wichtig ihm seine Erfahrungen mit der jüdischen Gemeinschaft waren.

Nach seiner Wahl zum Papst hielt Franziskus den Kontakt zu seinen jüdischen Freunden durch Emails und Telefonanrufe aufrecht. Mir und anderen gegenüber bringt er weiterhin seine persönliche Zuneigung zum Ausdruck, wenn er sich nach unserer Gesundheit oder dem Wohl unserer Familien erkundigt. Hat es das in der Geschichte der Beziehungen zwischen Katholiken und Juden je gegeben?

Weniger als ein Jahr nach der Wahl hat er das Apostolische Schreiben Evangelii gaudium veröffentlicht. Es war ein umfassender Überblick über die Situation der katholischen Kirche und der Welt zu Beginn seines Pontifikats. Der Abschnitt über die interreligiösen Beziehungen fasste in maßgeblicher Weise die Entwicklungen seit der Erklärung Nostrae aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils im Jahr 1965 zusammen. Wie er es immer tut, unterstrich er, dass der Dialog zwischen den Völkern und religiösen Traditionen Priorität haben muss, und brachte wichtige Erkenntnisse über die Beziehungen der Kirche zum jüdischen Volk zum Ausdruck.

Darunter denkwürdige Worte wie: »Der Dialog und die Freundschaft mit den Kindern Israels gehören zum Leben der Jünger Jesu.« Und: »Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes und lässt einen Weisheitsschatz entstehen, der aus der Begegnung mit dem göttlichen Wort entspringt.« Das erklärt, wa-rum der Dialog zwischen Katholiken und Juden für Papst Franziskus so wichtig ist: Wir können gemeinsam Gottes Weisheit in unseren heiligen Texten finden, auf Wegen, zu denen es im Gespräch unter anderen religiösen Traditionen keine Parallele gibt.

Papst Franziskus unternahm 2014 eine Pilgerfahrt ins Heilige Land und betete an
der Westmauer. Im Vernichtungslager Au-schwitz-Birkenau vermochte er 2016 keine Worte zu finden, um seinem Entsetzen an diesem Ort Ausdruck zu verleihen, und bat Gott vor seiner Reise um die Gabe der Tränen. Ich hatte das Privileg, persönlich Zeuge dieser beiden denkwürdigen Reisen zu sein.

Während des Besuchs in Jerusalem legte Franziskus als erster Papst Blumen am Grab von Theodor Herzl nieder, dem Vater des politischen Zionismus, und ehrte so die Bewegung, die die jüdische Kultur in ihrer alten Heimat wieder aufgebaut hat. Am Vortag hatte er, der sich stets für die Menschenrechte einsetzt, seine Hände auch auf die Mauer gelegt, die Israel von Palästina trennt. Für mich war dies mehr als nur eine politische Geste. Es war ein Gebet, in dem er Gott bat, Israelis und Palästinenser mit Frieden zu segnen, alle Mauern der Trennung und des Hasses zu beseitigen und sie durch Beziehungen des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses zu ersetzen. Die Worte eines jungen Palästinensers aus dem Flüchtlingslager Dheisheh, der die Frustration seines Volkes zum Ausdruck brachte, wurden vom Papst mit Weitsicht beantwortet: Wir können nicht an die grausamen Fesseln der Vergangenheit gekettet leben, wir müssen unseren Bezugsrahmen ändern und einen Weg finden, der es allen ermöglicht, sich gemeinsam in Würde zu entwickeln. Das Friedenstreffen, das kurz darauf in den Vatikanischen Gärten stattfand, war ein Versuch, dies im Kleinen zum Ausdruck zu bringen. Es brachte als ein Zeichen die Präsidenten Peres und Abbas mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios zusammen, um einen symbolischen Olivenbaum des Friedens zu pflanzen, der mit Gottes Hilfe in Zukunft Früchte tragen wird.

Sehr wichtig ist, dass Papst Franziskus, seit ich ihn kenne, stets alle verbalen und physischen Angriffe auf Juden, nur weil sie Juden sind, entschieden verurteilt hat. Diese kontinuierliche Botschaft ist besonders tröstlich für Juden auf der ganzen Welt in der heutigen Zeit, in der antisemitische Aufrufe und blutdürstige Gewalt zunehmen.

In diesem Zusammenhang war die Öffnung der Vatikanarchive für die Zeit des Pontifikats von Papst Pius XII. im Jahr 2020 eine weitere bedeutsame Geste von Papst Franziskus. »Man muss die Wahrheit kennen« ist ein Grundsatz, den er bei vielen Gelegenheiten wiederholt hat. Er ist sich bewusst, dass ohne eine solche Verpflichtung zur Wahrheit keine Beziehung über Oberflächlichkeiten hinaus vertieft werden kann.

Das vielleicht wichtigste Merkmal der Beziehungen von Papst Franziskus zur jüdischen Gemeinschaft ist jedoch die unbestreitbar aufrichtige Zuneigung zu den Juden, die er beständig zum Ausdruck bringt. Es scheint mir, dass die meisten Juden dasselbe für ihn empfinden. Möge diese gegenseitige Zuneigung für alle kommenden Generationen das Vorbild dafür sein, wie Katholiken und Juden miteinander umgehen!

Von Rabbiner Abraham Skorka