Liebe Brüder und Schwestern!
An Euch alle, die Ihr Euch zum Generalkapitel des Ordens vom heiligen Johannes zu Jerusalem versammelt habt, richte ich meinen herzlichen Gruß.
Zunächst möchte ich gemeinsam mit Euch auf das Evangelium hören: »Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt […] wird [er] denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd gesehen und aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird [er] ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,31-40).
Diese Worte sind eine sehr gute Zusammenfassung der tausendjährigen Mission des Souveränen Ritter- und Hospitalordens vom Heiligen Johannes zu Jerusalem, von Rhodos und von Malta. Und sie zeigen, was Jesus verkündet und vor allem gelebt hat: dass die Liebe zu Gott die Liebe zum Nächsten erfordert. Jesus identifiziert sich mit den Armen und Bedürftigen, mit den Kleinen dieser Welt. Er ist selbst der Geringste geworden, und Ihm gleich zu werden in der Beziehung zum bedürftigen Nächsten geht über Philanthropie und Wohltätigkeit hinaus, denn es wird Zeugnis Seiner Nähe, Seiner Liebe.
Im Gleichnis des Evangeliums wird die Liebe konkret durch die Geste des zu Trinken- und zu Essengebens; sie ist der Akt des Bekleidens und der Aufnahme; sie ist die Zeit des Besuchens; sie ist die Haltung der Gastfreundschaft. Wie viel Zeit widmen wir dieser Liebe, die Dienen ist (vgl. Joh 13,4-5)? Zeit, uns des Durstes, der Nacktheit, der Krankheit, der Gefangenschaft unserer Nächs-ten anzunehmen? Vielleicht zu wenig, weil wir mit unseren eigenen Dingen beschäftigt sind, unserer Arbeit, unseren Interessen. Die Liebe dessen, der – demütig, verborgen, klein und in aller Stille – dient, ist dagegen der Same, aus dem der größte Baum aufkeimt und wächst, zu dem alle kommen wollen (vgl. Mt 13,32): der Baum des ewigen Lebens (vgl. Gen 2,9).
Jesus gibt uns also ganz klar zu verstehen, dass wir am Ende des Lebens gerichtet werden nach dem, wie sehr wir Ihn konkret geliebt haben, dadurch dass wir den anderen begegnet sind und sie geliebt haben. Er offenbart uns, dass jede Geste der Aufmerksamkeit gegenüber dem Kranken, Hungrigen, Dürs-tenden, Nackten und so weiter ein Akt der Liebe zu Ihm ist. Und genauso verweigern wir Ihm das, was wir für unseren Nächs-ten nicht tun wollen.
Für den Aufbau einer gerechteren Welt gibt es keinen anderen Weg als das Evangelium, und wir sind aufgerufen, bei uns selbst anzufangen, indem wir Nächstenliebe dort üben, wo wir leben.
Mit der Geste der Fußwaschung zeigt uns Jesus, dass der Sinn des Herr- und Meister-Seins der Dienst an den anderen ist (vgl.
Joh 13,12-16; 18,37). Jesus herrscht in Demut: von einer Krippe und von einem Kreuz aus. Mit seinen Worten, seinem Leben und seinem Tod weist uns der Meister darauf hin, dass die Werke der Barmherzigkeit die Tore des ewigen Reiches öffnen. Und in Eurem Orden bemüht Ihr Euch, genau dies Tag für Tag zu leben. Das ist für mich ein Grund zu großer Freude!
Sehr verdienstvoll ist Euer Wirken, die Trauernden zu trösten, sowohl in ihren geistigen als auch materiellen Nöten.
Zugefügtes Unrecht vergeben! Ich bitte Euch von Herzen, dass Ihr zu einem aufrichtigen gegenseitigen Verzeihen gelangen könnt, zur Versöhnung nach Momenten der Spannungen und Schwierigkeiten, die Ihr in der jüngeren Vergangenheit erlebt habt. Die vergebende Nächstenliebe soll der Lebensstil sein, der Euch auszeichnet. Vergeben zu können ist Zeichen der Freiheit, der Großmut des Herzens, der Fähigkeit zu bedingungsloser Liebe. Es ist Ausdruck eines barmherzigen Herzens, es wird übersetzt in gelebte Geschwisterlichkeit, zum Ausdruck gebrachte Herzlichkeit, Gegenseitigkeit der Gefühle. Und daran wird man erkennen, dass ihr Jünger Jesu, des Herrn, seid (vgl. Joh 13,35).
Dieser Geist und diese Art des Handelns verbinden Euch eng mit dem seligen Gerhard und den ersten Gefährten, die sich ihm anschlossen, um im Hospital von Jerusalem den Heilig-Land-Pilgern zu dienen.
Die egoistische und heute auch konsumis-tische weltliche Mentalität ist – weil sie im offensichtlichen Gegensatz zum Evangelium steht – eine Herausforderung, der Ihr Euch stellen sollt durch Euer vorbildliches Leben und eure Werke der Barmherzigkeit. Das tut Ihr zum Beispiel durch die Pflege der Kranken und die Besuche der Gefangenen. Ich weiß, dass ihr Euch als Mitglieder diesen Werken widmet, wie dies auch Eure ehrenamtlichen Helfer tun. Ihr begleitet auch die Sterbenden, die sich dem oft so schwierigen Moment des Todes nähern, dem Übergang von dieser Welt zum ewigen Leben.
Die alten Kämpfe zur Verteidigung des Glaubens und der Christenheit haben sich heute an umfassendere und universalere Fronten verlagert: zum Wachsen im Glauben und in der Wahrheit, die die Grundlage eures humanitären Einsatzes sind. Der erste Teil Eures Mottos ist in der Tat die »tuitio fidei«. Ohne Glauben wären Eure Werke lediglich Philanthropie. Jünger Jesu zu sein macht aus Euch Zeugen seiner Auferstehung und Ausbreiter seines Reiches auf Erden. Das erfordert selbstverständlich eine beständige Weiterbildung, für Euch Professen und auch für Euch, die Mitglieder des Ersten und Zweiten Standes, woraus, so hoffe und bete ich, viele Berufungen zur Ganzhingabe im Ordensstand zum Dienst an den »Armen unseres Herrn Jesus Christus« hervorgehen werden. Dieser Ausdruck gefällt mir sehr, die »Armen unseres Herrn Jesus Christus«. Er verweist auf den zweiten Teil Eures Mottos: »obsequium pauperum«, die Hingabe an die Armen und Kranken. »Tuitio fidei« und »obsequium pauperum« sind für Euch untrennbar miteinander verbunden.
Ich schätze die Tatsache, dass Ihr Euch bemüht, dieses Wortpaar im Heute zu verwirklichen, wie zum Beispiel in Lampedusa bei den Migranten, die aus ihren Heimatländern fliehen, in der Ukraine und den angrenzenden Ländern bei denen, die vor dem Krieg fliehen, und so auch an vielen anderen Orten und in vielen anderen Nöten.
Danke! Danke für all dies. Danke, dass Ihr verfügbar seid für die bedürftigsten Brüder und Schwestern, indem Ihr in die existentiellen Peripherien vordringt, um Christus zu begegnen und ihm zu dienen.
Es sind einige Jahre vergangen, seit für den Orden die Notwendigkeit bestand, dass ich ihn begleite auf einem Weg, der zuweilen unwegsam war, aber auch notwendig, um mit erneuerter Liebe dahin zu gelangen, den »Armen und unseren Herren Kranken« zu dienen. Die Kirche, die Mutter ist, konnte nicht anders als sich um Euch, um Euren Orden zu kümmern, in vollem Einklang mit eurem Leben und Eurer historischen Tradition. Im Lauf der fast eintausend Jahre seiner Geschichte hat der Malteserorden stets seine Treue zu Christus, seiner Kirche und seinem Stellvertreter auf Erden, dem Papst, gezeigt. Daher haben, wie ich im Dekret vom 3. September vergangenen Jahres geschrieben habe, viele meiner Vorgänger eingegriffen, um heikle Übergangsphasen zu begleiten.
Die neue Verfassung und der neue »Codex Melitensis« sind die Frucht eines langen Weges, geprägt von Begegnungen und Gesprächen zwischen den verschiedenen Komponenten des Ordens und meinem Sonder-delegaten. Wenn auch nicht ohne Differenzen, so ist man doch schließlich zur Abfassung dieser beiden Dokumente gelangt, die grundlegend sind für euer persönliches Leben und für das Wohl der vielen verdienstvollen Werke, die ihr auf allen Kontinenten betreibt. Der gesamte Orden ist nun aufgerufen, aufmerksam und sorgfältig über die in der Verfassung und im »Codex Melitensis« enthaltene Erneuerung nachzudenken, stets auf den Spuren der Tradition. Das wird die besondere Aufgabe der neuen zu wählenden Regierung des Ordens sein.
Alle Mitglieder des Ersten, Zweiten und Dritten Standes sind gemeinsam mit den ehrenamtlichen Helfern, deren Aktivität grundlegend ist, aufgerufen, die neue Verfassung und den »Codex Melitensis« umzusetzen, damit im ganzen Orden eine geistliche Erneuerung sowie eine Erneuerung der tätigen Nächstenliebe stattfinden kann, die auch die Einheit des Ordens stärken werden.
Der Erste Stand – die Justizritter, die sich zu einem Leben nach den drei evangelischen Räten verpflichtet haben und ihr Leben ganz Christus und seiner Kirche schenken – möge mit Eifer das Ordensleben in seiner Ganzheitlichkeit wieder aufnehmen, indem er treu die feierlich vor Gott abgelegten Gelübde hält und in brüderlicher Gemeinschaft lebt. Das Gemeinschaftsleben soll Zeichen dieser Einheit sein.
Der Zweite Stand möge sich erneuern in der Verinnerlichung und konkreten Umsetzung des Obödienzversprechens, das ihn an den Orden bindet.
Der Dritte Stand möge verfügbar sein, in einem Lebenszeugnis in enger Zusammenarbeit mit den Werken des Ordens.
Alle Mitglieder des Ordens und die ehrenamtlichen Mitarbeiter sind zur Einheit aufgerufen. Das ist die Bitte unseres Herrn. In seinem »Testament«, das im Johannesevangelium festgehalten ist, betet der Meister für die Einheit der Seinen, ut unum sint, »damit die Welt glaubt« (17,21). Und dazu seid Ihr berufen. Festigt nachdrücklich Eure Einheit, andernfalls werdet Ihr in Euren Werken nicht glaubwürdig sein. Konflikte und Differenzen schaden Eurer Mission. Machtstreben und andere weltliche Anhänglichkeiten entfernen von Christus, es sind Versuchungen, die zurückgewiesen werden müssen. Denken wir an den »reichen Jüngling« aus dem Evangelium: Obwohl er von guten Absichten geleitet wurde, gelang es ihm nicht, Jesus nachzufolgen, weil er an seinen Dingen und Interessen hing.
Die Einheit aller Ordensmitglieder ist für die Erfüllung Eurer besonderen Mission notwendig. Der Böse weiß das sehr gut, und wie immer versucht er, Spaltung zu säen. Passen wir auf, dass wir keine Kompromisse mit dem Versucher eingehen, auch nicht unabsichtlich. Er täuscht oft unter dem Schein des Guten, und was zum Ruhme Gottes zu sein scheint, kann sich als unsere eigene Eitelkeit entpuppen.
Alle Strukturen des Ordens sollen aufgewertet und bereichert werden durch die Präsenz von gut ausgebildeten und vom Geist des Dienens beseelten Mitgliedern der verschiedenen Stände. Und die Werke des Ordens, der entstanden ist aus der evangeliumsgemäßen Intuition des seligen Gerhard, sollen nicht im Dienst der Ordensmitglieder stehen, sondern immer da sein, um den »Armen unseres Herrn« zu dienen.
Auch die Souveränität, einzigartiges Merkmal für einen religiösen Orden, ist funktional für den Dienst der Werke der Barmherzigkeit, den Ihr tut. Wachsamkeit ist gefordert, damit dies nicht von der weltlichen Mentalität entstellt wird. Auch Eure diplomatischen Vertretungen sollen ein Werkzeug für die Ausübung der Nächstenliebe und der Solidarität sein.
Die Unentgeltlichkeit und der Eifer, mit dem Ihr Euch das johanneische Ideal zu eigen gemacht habt, kommt gut im achteckigen Kreuz zum Ausdruck, das Ihr tragt: es soll Euch mit den acht Spitzen des Malteserkreuzes an die Seligpreisungen des Evangeliums erinnern. Seid stolz darauf und erweist Euch als dessen würdig im Gedenken an den, der am Kreuz zu unserem Heil sein Leben hingegeben hat.
Ich möchte meinem Sonderdelegaten und seinen engeren Mitarbeitern aufrichtig Dank sagen für die gesamte Arbeit, die sie über einen längeren Zeitraum mit Geduld und Seriosität geleistet haben bis zum Erreichen eines Ergebnisses, das den Erfordernissen des Ordens entspricht.
Ich wünsche Euch allen eine erfolgreiche Arbeit in diesem Generalkapitel, bei dem eine Regierung gewählt werden wird, die gerufen ist, den Orden zu leiten auf dem Weg, den die von mir eingesetzte provisorische Regierung eingeschlagen hat, der ich meine tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck bringe für die Art und Weise, wie sie den Orden in diesen Monaten klug geführt hat.
Ich rufe die himmlische Fürsprache Unserer Lieben Frau vom Berg Philermos, des heiligen Johannes des Täufers, des seligen Gerhard und aller Seligen und Heiligen des Ordens an, auf dass sie Euch gemeinsam mit dem heiligen Erzengel Michael auf dem Weg begleiten mögen, den Ihr in der Treue zu Eurem Gründungscharisma gehen sollt. Ich übermittle Euch meinen Apostolischen Segen, den ich von Herzen allen Mitgliedern und ehrenamtlichen Mitarbeitern erteile wie auch all jenen, denen die Hilfe des Ordens zugutekommt, sowie all seinen karitativen Werken.
Aus dem Vatikan, 17. Januar 2023,
Gedenktag des heiligen Einsiedlers
und Mönchsvaters Antonius
(Orig. ital. in O.R. 25.1.2023)