Wir haben gerade das Wort Gottes gehört, das diese Gebetswoche für die Einheit der Christen geprägt hat. Es sind starke Worte, so stark, dass sie unangemessen erscheinen könnten, während wir die Freude haben, als Brüder und Schwestern in Christus zusammenzukommen, um eine feierliche Liturgie zu seinem Lob zu feiern. An traurigen und besorgniserregenden Nachrichten herrscht heute kein Mangel, so dass wir auf die »Sozialkritik« der Schrift gerne verzichten würden! Doch wenn wir auf die Befürchtungen der Zeit, in der wir leben, achten, haben wir umso mehr Grund, uns für das zu interessieren, was den Herrn leiden lässt, für den wir leben. Und wenn wir uns in seinem Namen versammelt haben, können wir nicht umhin, sein Wort in den Mittelpunkt zu stellen. Es ist prophetisch: Gott ermahnt uns nämlich mit der Stimme Jesajas und fordert uns zur Veränderung auf. Ermahnung und Veränderung sind die beiden Worte, zu denen ich heute Abend einige Gedanken vortragen möchte.
1. Ermahnung. Hören wir uns noch einmal einige göttliche Worte an: »Wenn ihr kommt, um vor meinem Angesicht zu erscheinen, [...] Bringt mir nicht länger nutzlose Gaben; [...] Wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch. Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht« (Jes 1,12.13.15). Was erregt die Empörung des Herrn derart, dass er das Volk, das er so sehr liebt, in einem solch entrüsteten Ton zurechtweist? Der Text nennt uns zwei Gründe. Vor allem tadelt er die Tatsache, dass in seinem Tempel, in seinem Namen, nicht das getan wird, was er will: nicht Weihrauch und Opfer, sondern dass den Unterdrückten geholfen wird, dass dem Waisen Gerechtigkeit widerfährt, dass die Sache der Witwe verteidigt wird (vgl. V. 17). In der Gesellschaft zur Zeit des Propheten war die – leider immer noch aktuelle – Neigung verbreitet, die Reichen und diejenigen, die viele Opfergaben brachten, als von Gott gesegnet zu betrachten und die Armen zu verachten. Aber das bedeutet, den Herrn völlig misszuverstehen. Jesus nennt die Armen selig (vgl. Lk 6,20), und im Gleichnis vom Jüngsten Gericht identifiziert er sich mit den Hungrigen, den Durstigen, den Fremden, den Bedürftigen, den Kranken und den Gefangenen (vgl. Mt 25,35-36). Das ist also der erste Grund für die Empörung: Gott leidet, wenn wir, die wir behaupten, seine Gläubigen zu sein, unserer eigenen Sichtweise gegenüber der seinen den Vorzug geben, den Urteilen der Erde statt denen des Himmels folgen, indem wir uns mit äußeren Ritualen begnügen und denen gegenüber gleichgültig bleiben, die ihm besonders am Herzen liegen. Gott ist also, so könnten wir sagen, über unser gleichgültiges Missverstehen betrübt.
Daneben gibt es noch einen zweiten und noch schwerwiegenderen Grund, der den Allerhöchsten kränkt: die gotteslästerliche Gewalt. Er sagt: »Ich ertrage nicht Frevel und Feier. [...] Eure Hände sind voller Blut. [...] Schafft mir eure bösen Taten aus den Augen!« (Jes 1,13.15.16). Der Herr ist »erbost« über die Gewalt, die dem Tempel Gottes, der der Mensch ist, angetan wird, während er in von Menschen errichteten Tempeln verehrt wird! Wir können uns vorstellen, mit welchem Schmerz er auf die Kriege und Gewalttaten blickt, die von Menschen unternommen werden, die sich Christen nennen. Wir erinnern uns an die Episode, in der ein Heiliger gegen die Grausamkeit des Königs protes-tierte, indem er während der Fastenzeit zu ihm ging, um ihm Fleisch anzubieten. Als der Herrscher mit Verweis auf seine Religiosität entrüstet ablehnte, fragte ihn der Gottesmann, warum er Skrupel habe, Tierfleisch zu essen, während er nicht zögere, Kinder Got-tes zu töten.
Brüder und Schwestern, diese Ermahnung des Herrn gibt uns als Christen und als christliche Konfessionen viel zu denken. Ich möchte es noch einmal betonen: »Durch die Weiterentwicklung von Spiritualität und Theologie haben wir heute keine Entschuldigung mehr. Trotzdem gibt es immer noch jene, die meinen, ihr Glaube würde sie ermutigen oder es ihnen zumindest erlauben, verschiedene Formen von engstirnigen und gewalttätigen Nationalismen zu unterstützen, von fremdenfeindlichen Einstellungen, von Verachtung und sogar Misshandlungen von Menschen, die anders sind. Der Glaube muss zusammen mit der ihm innewohnenden Menschlichkeit ein kritisches Gespür gegen-über diesen Tendenzen lebendig halten und dazu beitragen, schnell zu reagieren, wenn sie sich einzunisten beginnen« (Enzyklika Fratelli tutti, 86). Wenn wir nach dem Beispiel des Apostels Paulus wollen, dass Gottes Gnade in uns nicht vergeblich ist (vgl. 1 Kor 15,10), müssen wir uns Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit entgegenstellen, wo immer sie sich einschleichen. Das Thema dieser Gebetswoche ist von einer Gruppe von Gläubigen aus Minnesota gewählt worden, die sich des an den indigenen Völkern in der Vergangenheit und an den Afroamerikanern in unseren Tagen begangenen Unrechts bewusst ist. Angesichts der verschiedenen Formen von Verachtung und Rassismus, angesichts von gleichgültigem Missverstehen und frevelhafter Gewalt ermahnt uns das Wort Gottes: »Lernt, Gutes zu tun! Sucht das Recht!« (Jes 1,17). Es genügt nämlich nicht, anzuklagen, man muss auch vom Bösen ablassen, vom Bösen zum Guten übergehen. Die Ermahnung zielt also auf unsere Veränderung ab.
2. Veränderung. Nachdem der Herr die Fehler diagnostiziert hat, verlangt er, sie zu beheben und sagt durch den Propheten: »Wascht euch, reinigt euch! [...] Hört auf, Böses zu tun!« (V. 16). Und da er weiß, dass wir bedrückt und von zu viel Schuld wie gelähmt sind, verspricht er, dass er selbst unsere Sünden abwaschen wird: »Kommt doch, wir wollen miteinander rechten, spricht der Herr. Sind eure Sünden wie Scharlach, weiß wie Schnee werden sie. Sind sie rot wie Purpur, wie Wolle werden sie« (V. 18). Liebe Freunde, von unserem Missverstehen Gottes und von der Gewalt, die in uns schwelt, können wir uns nicht alleine befreien. Ohne Gott, ohne seine Gnade, genesen wir nicht von unserer Sünde. Seine Gnade ist der Ursprung unserer Verwandlung. Daran erinnert uns das Leben des Apostels Paulus, dessen wir heute gedenken. Alleine schaffen wir es nicht, aber mit Gott ist alles möglich. Alleine schaffen wir es nicht, aber gemeinsam ist es möglich. Der Herr fordert die Seinen nämlich auf, sich gemeinsam zu bekehren. Die Bekehrung – ein oft gebrauchtes und nicht immer leicht zu verstehendes Wort – wird vom Volk erbeten, sie hat eine gemeinschaftliche, eine kirchliche Dynamik. Glauben wir also daran, dass auch unsere ökumenische Bekehrung in dem Maße voranschreitet, in dem wir uns als der Gnade bedürftig, ja als der Barmherzigkeit bedürftig erkennen: Indem wir uns alle als in allem von Gott abhängig erkennen, werden wir uns mit seiner Hilfe »eins« fühlen und tatsächlich »eins« sein (Joh 17,21), ja, wirklich Brüder und Schwestern.
Wie schön ist es, wenn wir uns gemeinsam, im Zeichen der Gnade des Heiligen Geistes, für diesen Perspektivenwechsel öffnen und von neuem entdecken: »Alle über den Erdkreis hin verstreuten Gläubigen stehen mit den übrigen im Heiligen Geiste in Gemeinschaft, und so weiß – wie der heilige Johannes Chrysostomus schrieb – ›der, welcher zu Rom wohnt, dass die Inder seine Glieder sind‹« (Lumen gentium, 13; In Io. hom. 65,1). Auf diesem Weg der Gemeinschaft bin ich dankbar, dass so viele Christen aus verschiedenen Gemeinschaften und Traditionen den synodalen Weg der katholischen Kirche, von dem ich hoffe, dass er immer ökumenischer wird, mit Teilnahme und Interesse begleiten. Aber vergessen wir nicht, dass gemeinsam unterwegs zu sein und zu erkennen, dass wir miteinander im Heiligen Geist in Gemeinschaft stehen, eine Veränderung, ein Wachstum mit sich bringt, das, wie Bene-
-dikt XVI. schrieb, »nur möglich [ist] aus der inneren Begegnung mit Gott heraus, die Willensgemeinschaft geworden ist und bis ins Gefühl hineinreicht. Dann lerne ich, diesen anderen nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus. Sein Freund ist mein Freund« (Enzyklika Deus caritas est, 18).
Möge der Apostel Paulus uns helfen, uns zu ändern, uns zu bekehren; möge er uns etwas von seinem unbeugsamen Mut erwirken. Denn auf unserem Weg kann es leicht passieren, dass man für die eigene Gruppe statt für das Reich Gottes arbeitet, dass man ungeduldig wird und die Hoffnung auf den Tag zu verliert, an dem »alle Christen zur selben Eucharistiefeier, zur Einheit der einen und einzigen Kirche versammelt werden, die Christus seiner Kirche von Anfang an geschenkt hat« (Dekret Unitatis redintegratio, 4). Aber gerade im Hinblick auf jenen Tag setzen wir unser Vertrauen auf Jesus, der unser Ostern und unser Friede ist: Während wir zu ihm beten und ihn anbeten, wirkt er. Und es tröstet uns, was er zu Paulus gesagt hat, und was wir auf einen jeden von uns beziehen dürfen: »Meine Gnade genügt dir«
(2 Kor 12,9).
Liebe Freunde, ich wollte diese Gedanken, die das Wort Gottes in mir geweckt hat, in einem geschwisterlichen Geist mit euch teilen, damit wir uns, von Gott ermahnt, durch seine Gnade verändern und im Gebet, im Dienst, im Dialog und in der Zusammenarbeit auf jene volle Einheit hin wachsen, die Christus wünscht. Ich möchte euch nun von Herzen danken: Ich sage Dank Seiner Eminenz dem Metropoliten Polykarpos, dem Vertreter des Ökumenischen Patriarchats, Seiner Gnaden Ian Ernest, dem persönlichen Vertreter des Erzbischofs von Canterbury in Rom, und den Vertretern der anderen anwesenden christlichen Gemeinschaften. Meine tief empfundene Solidarität bekunde ich den Mitgliedern des Pan-ukrainischen Rates der Kirchen und religiösen Organisationen. Ich grüße insbesondere die orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Studenten, Stipendiaten des Komitees für kulturelle Zusammenarbeit mit den orthodoxen Kirchen im Dikasterium für die Einheit der Christen, und jene des Ökumenischen Instituts Bossey des Ökumenischen Rates der Kirchen. Einen herzlichen Gruß richte ich auch an Frère Alois und die Brüder von Taizé, die mit der Vorbereitung der Ökumenischen Gebetsvigil betraut sind, die der Eröffnung der nächsten Bischofssynode vorausgehen wird. Wir gehen alle gemeinsam auf dem Weg, den der Herr uns gewiesen hat, auf dem Weg der Einheit.