FRAUEN KIRCHE WELT

Unterschiedliche Blicke
Sr. Yvonka Mikec erzählt einer Schriftstellerin und Alumnin der Salesianerinnen ihr Leben

Ihr Afrika

 La sua Africa  DCM-002
04. Februar 2023

Die erste Begegnung ist jene mit Maria Hilfe der Christen. Sie steht da oben, ganz in Weiß, den Blick dem zugewandt, der im Begriff steht, die Schwelle zu überschreiten. Auf einen Schlag werde ich wieder zum kleinen Mädchen: Wir befinden uns auf der Institutsterrasse, zu Füßen von Maria Hilfe der Christen, die mit ihrem Blick das Dorf dominiert, Sr. Graziella hat gerade ein angezündetes Streichholz auf unsere Zeichnungen fallen lassen, aus dem Eimer steigt dunkler Rauch auf: »Eure Gebete fliegen in den Himmel hinauf, Kinder«, sagt sie zufrieden; wir verfolgen den Rauch mit den Blicken und verlieren uns im Blau. Ich kehre in die Gegenwart zurück, zu dieser Madonnenstatue, die mich mit ergreifendem Wohlwollen empfängt, überschreite die Schwelle und fühle mich, als wäre ich nach Hause zurückgekehrt.

Schwester Yvonka Mikec hat ein hübsches Lächeln, ein wenig Verlegenheit in ihr ruhiges Gesicht geschrieben: sie weiß, dass eine Schriftstellerin gekommen ist, um sie zu interviewen, um ihr Fragen zu stellen über Afrika, wo sie seit dreißig Jahren als Missionarin lebt; sie schaut mich verblüfft an, weil sie nicht auf ein aufgewühltes Herz eingestellt war.

»Wissen Sie, ich bin bei Ihnen aufgewachsen«, beeile ich mich zu erklären.

Ihre Augen und ihr Lächeln fangen an zu strahlen: »Wo?«

»In Sizilien.«

»Also waren Sie Schülerin bei uns.«

»Ja, vom Kindergarten an.«

Überraschenderweise vertauschen sich die Rollen, sie stellt die Fragen und ich antworte. Ich erzähle ihr von Sr. Graziella, von Sr. Maria, bei der ich jahrelang einer Missionsgruppe folgte, von den Jugendlichen aus Amazonien, die uns Briefe und exotische Fotos schickten – unvergesslich jenes mit dem Kind, das eine große Schlange um den Hals trug -; ich erzähle ihr aber auch, dass die Schwestern mich dann aber verloren haben: »In Wirklichkeit habe ich nach und nach Vieles verloren«, murmele ich. Ein weiterer schneller Austausch, und schon wird Gott angesprochen bei unserem parallelen Bericht über unser Leben. Wir sind gleich alt – sie ist am 14. Mai 1962 geboren, ich am 10. Mai 1963 -, aber wir haben einen völlig anderen Hintergrund: Sie stammt aus Slowenien - »Ich bin in Novo Mesto geboren, in einer wunderschönen Gegend, die als ›die kleine Schweiz‹ bezeichnet wird« -, wo ein kommunistisches Regime herrschte, das die Gläubigen daran hinderte, außerkirchlichen Aktivitäten nachzugehen - ich komme aus einer Gegend, die überreich ist an Riten und Liturgien, die über die Kirche hinausgehen und auf die sich das Leben der Menschen stützt; sie hat sich Gott geweiht, ich der Feder, die es mir gestattet, auch über Gott zu sprechen.

Ich schaue sie an. Sie ist eine solide Frau, mit dunklen Augen und einem offenen Lächeln. Man hat mir gesagt, dass sie Afrika sozusagen eintätowiert hat. Mit welchen physischen Merkmalen macht sich Afrika bemerkbar? Von der Sonne tief gebräunte Haut? Vom Schmerz auf unterschiedliche Art und Weise getränkter, durch Kriege und Hungersnöte ausgehungerter Völker gezeichneter Blick? Nichts von alledem ist bei ihr erkennbar. Nun also?

»Würden Sie mir von Ihrem Afrika erzählen?«

Offenes, schönes Gelächter: »Wo soll ich anfangen?«, und macht eine vage Geste, die unermessliche Weite andeutet.

»Beim dem Augenblick, als Sie sich darüber klar geworden sind, dass Sie Missionarin werden wollten?«

Sie nickt. »Ich habe immer die Kinder geliebt«, beginnt sie, »ich wusste, dass ich Erzieherin werden wollte. Unser Pfarrer hat sich trotz eines Regelwerks von Verboten immer neue Wege ausgedacht, um uns Kleine zu versammeln. Als ich groß war, wurde mir klar, dass das Pfarrhaus das Oratorium war.«

Sie erzählt, dass, als sie 11 Jahre alt war, ein Missionar aus Burundi in die Gemeinde kam: seine Worte waren, zusammen mit den Dias, die er vorführte, so lebendig, dass sie und zwei weitere kleine Freundinnen begeistert sagten: »Wir wollen Missionarinnen werden.« Aber wie stellte man das an? Sie sprachen mit dem Pfarrer darüber. »Erst mal müsst ihr erwachsen werden«, sagte er, aber dessen ungeachtet - »Schlau!«, wie sie lächelnd hinzufügte – stellte er für sie die Verbindung zu einigen Vinzentinerinnen her und schlug ihnen vor, an dreitägigen Exerzitien in der nahegelegenen Stadt Bled teilzunehmen.

»Ich erinnere mich immer noch an diese erste Begegnung, wir übernachteten in winzig kleinen Zimmern, eng gepfercht wie Sardinen, es herrschte eine fröhliche Stimmung, Feststimmung… wir waren freche Mädchen«. Die kleine Spitzbübin lebt immer noch in ihr weiter, taucht in ihrem Lächeln auf, in ihren Augen, die so viel Freude ausdrücken können.

In Bled lernte sie eine alte Ordensfrau, Franziska, kennen, die sich gerne mit den Neuankömmlingen unterhielt. »Ich sagte ihr, dass ich gerne Erzieherin werden wollte. Sie erahnte meine Berufung«; in der Tat kümmerte sie sich weiter um sie, indem sie ihr Briefe schrieb, die ihren Berufungsweg begleiteten. Nach der Mittleren Reife kehrte sie erneut nach Bled zurück. »Ich war gerne mit den Ordensfrauen zusammen, war mir aber nicht sicher, ob ich auch selber eine werden wollte.« Aber Sr. Franziska fragte sie in einem Brief, was sie für ihre Zukunft vorhatte.

»Ich gab ihr keine Antwort, ich lebte in einem kommunistischen Land, wenn ich meine Absichten geäußert hätte, hätte ich wohl kaum studieren dürfen: das Regime untersagte den Lehrern die Glaubensausübung. Ich schrieb mich also an einer berufsbildenden Schule ein. Den Kontakt zu den Ordensfrauen hielt ich allerdings aufrecht. Innerlich wusste ich ganz genau, was ich wollte, sagte aber niemandem davon. Dann hat mich die Ordensfrau aber von Neuem gefragt, was ich vorhatte. Ich habe mit meiner Mutter darüber gesprochen und die Entscheidung getroffen. Ich habe von 1976 bis 1981 in Ljubljana das Gymnasium besucht, das war eine glückliche Zeit, gefolgt von einem Jahr als Postulantin, und dann dem Noviziat in Castel Gandolfo. Am 5. August 1984 habe ich in Bled die zeitliche Profess abgelegt.«

»Und die Missionstätigkeit?«

»In meinem Inneren hörte ich die Stimme des Missionsrufs, aber ich sprach nicht darüber. Aber nichts geschieht durch Zufall: Ich war in Conegliano Veneto, als die erste Madagaskar-Expedition vorbereitet wurde. Ich war eine frischgebackene Schwester, ich schaute all dem Treiben zu und sagte mir, dass ich gerne aufgebrochen wäre, so habe ich einen Antrag gestellt, aber ich war in meinem allerersten Jahr, sie sagten mir, ich solle die ewige Profess abwarten und dann hätte ich, wenn ich das dann immer noch wollte, gehen können.«

Sie hält inne, schaut meinen Schreiber an, der über das Blatt flitzt. Sie wartet, bis ich mit Schreiben fertig bin. Dann fährt sie fort: »Die Vorbereitung auf die ewige Profess ist ein Augenblick ernsthafter Reflexion, die Zeit, in der dir der Herr entgegenkommt. Ich betete um Unterscheidung, darum, zu begreifen: Seine Stimme sagte etwas, aber ich verstand es nicht genau. Eines Tages fragte mich die Provinzialin, ob ich immer noch an die Mission dachte. Das schien mir das Zeichen zu sein. ›In Ordnung, Herr‹, sagte ich mir, schickte den Antrag, und zwei Wochen später kam die Antwort: ›Schließe dein Studium ab, und dann geh.‹ Ich machte meinen Studienabschluss, dann wurde mir mein Bestimmungsort mitgeteilt: Angola!« Sie schaut mich verträumt an: »Angola… Ich wusste, dass es in Afrika lag, aber sonst nichts, noch nicht einmal, dass dort Krieg war.« Sie scheint sich in Erinnerungen zu verlieren.

Was mich an ihrer Geschichte fasziniert, ist das stille Abwarten, zu leben, indem man sich mit dem begnügt, was nach und nach geschieht, als stünde man vor einer Tür, die bei ihrer langsamen Öffnung Bruchstücke der Zukunft enthüllt.

»Am 25. April 1990 habe ich gemeinsam mit weiteren zwölf Schwestern das Missionarskreuz erhalten und bin nach Verona aufgebrochen, wo es ein Vorbereitungszentrum der Diözese gibt. Unterrichtet wirst du dort von Missionaren mit Afrika-Erfahrung: Sie sagen dir, was dich dort erwartet, die Kulturen, die Tabus… Aber die eigentliche Vorbereitung erfolgt dort vor Ort. Vor der Abreise habe ich mich nicht gefragt: ›Wie wird es wohl sein? Was werde ich tun?‹, ich dachte: ›Afrika, Kinder, Feste, Katechese, von Jesus erzählen‹, und war glücklich.«

»Welche Sprache musstet ihr dort sprechen?«

»Portugiesisch. Ich habe es fünf Monate lang in Cascais gelernt.«

»Was war Ihr allererster Eindruck, als Sie in Angola ankamen?«

»Als ich aus dem Flugzeug stieg, habe ich nur Rot gesehen: Erde, Häuser, Berge aus roter Erde. Die Luft war nicht übermäßig heiß, etwa wie bei uns im Juni. Ich war sehr aufgeregt. Ganz langsam ging ich mit den anderen; als ich die Schwestern gesehen habe, habe ich einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Die Gemeinschaft in Luanda – der Hauptstadt – war im vierten Stock eines Gebäudes untergebracht, ich habe gestaunt, sie war klein, gerade einmal vier Schwestern, es war alles sehr einfach, sehr arm, aber so gemütlich, dass ich mich sogleich zu Hause gefühlt habe. Dann sind zwei Schwestern gekommen, um mich nach Cacuaco zu bringen, 15 km von Luanda entfernt. Die Reise im Range Rover hat mir gleich ein Bewusstsein der Mission vermittelt. Dort wurde ich dann von den Schwestern und vielen singenden Kindern erwartet. Eines von ihnen hat mich mit einem riesigen Bananenbüschel empfangen (ich liebe Bananen!) Es war eine wunderschöne Ankunft.«

Sie sagt, dass die Gegend damals voll von Flüchtlingen war, der Krieg, der kurz zuvor zu Ende gegangen war, hatte viele Familien zerstört und diejenigen, die aus dem Landesinneren kamen, brauchten so gut wie alles.

»Wir gaben ihnen, was wir konnten, gaben Katechese-Unterricht, lehrten die Mütter nähen, brachten den Kindern Lesen und Schreiben bei. Anfangs gab es noch keine Schule, wir haben sie 2002 mit Hilfe der Jugendlichen gebaut.«

»Konntet Ihr sie bezahlen?«

»Ja, sie bekamen ein Gehalt, das es ihnen ermöglichte, ihre Familien zu unterhalten. Wir haben bei Null angefangen, haben Ziegelsteine aus rotem Ton gemacht und haben ein wunderschönes Zentrum errichtet, das heute über 1500 Kinder aufnehmen kann; einige von ihnen arbeiten immer noch bei uns, sie sind tüchtig, ein Elektriker ist imstande, die Installation einer ganzen Schule durchzuführen.«

»Wie war das erste Weihnachten in Angola?«

Sie lächelt. »Oh, den Tag von Heiligabend habe ich in der Kapelle eines Dorfes damit verbracht, Lebensmittel zu verteilen. Von wegen Weihnachtsschmuck! Der schönste Weihnachtsschmuck bestand darin, Mais, Bohnenkerne, Öl zu verteilen. Die Wirklichkeit in den Dörfern ist am kritischsten, dort gibt es Situationen äußerster Armut.«

»Wird nach Europa emigriert?»

»Nein, man zieht eher in die Hauptstadt um. Die Jugendlichen kommen in die Stadt, finden aber nicht, was sie suchen. Einige bleiben auf der Straße und werden Straßenverkäufer, andere übernehmen, um zu überleben, jede Art von Arbeit, sind ohne Familie: wenn du etwas findest, gut – andernfalls endest du unter den Verbrechern. Da sind blutjunge Leute, um die wir uns Sorgen machen, wir versuchen, ihnen die Möglichkeit eines Schulbesuchs anzubieten, ein Interesse, das sie vom Hunger und vom Verbrechen fernhält, aber das ist nicht leicht.«

»Ich weiß, dass Sie dann anderswohin gegangen sind.«

»Nach Mosambik. Dort habe ich von 2010 bis Januar dieses Jahres gelebt. Das ist eine noch ärmere und schwierigere Wirklichkeit als in Angola, auch wenn der Krieg dort früher geendet hat. Im Norden ist eine Rückkehr zur Gewalt seitens dschihadistischer Gruppen zu verzeichnen, die die Dörfer angreifen und niederbrennen. Unsere Gemeinschaft erlebt schwierige Situationen, einige Lehrkräfte haben die Ermordung ihrer Angehörigen mitangesehen, es gibt viele Waisen, zu viele Menschen, die fliehen, um sich zu retten. Im Süden ist die Lage friedlicher, dort bieten wir Ausbildung an; die Jugendlichen gehen zur Schule, lernen Berufe: Nähen, Brotbacken, Feldarbeit. Wir haben auch zwei Aufnahmezentren für gefährdete Mädchen eingerichtet. Viele unserer Lehrer sind jetzt Kinder, die wir ausgebildet haben. Ich sage immer, dass man mit ein bisschen Engagement, viel Gebet und viel Arbeit gute Früchte ernten kann.«

»Davon bin ich überzeugt.«

Sie lächelt.

Ich schaue auf die Uhr, sehe, dass es Zeit ist, mich zu verabschieden. Wir schauen in der Kapelle vorbei, ein Gruß an das Allerheiligste Sakrament, einer an die Muttergottes, eine Umarmung mit ihr, die mich bis zum Ausgang begleitet, und dann, in Augenblick des Abschieds, sagt sie »Ciao« zu mir, »Komm wieder, wann immer du willst.«

Von Tea Ranno


Die Verfasserin

Tea Ranno, geboren in Melilli in der Provinz Syrakus, lebt in Rom. Sie hat Jura studiert und befasst sich mit Recht und Literatur. Sie hat beim E/O-Verlag die folgenden Romane veröffentlicht: Cenere (2006, Finalistin der Calvino- und Bertold-Preise, Preisträgerin des Premio Chianti) und In una lingua che non so più dire (2007). 2018 erschien Sentimi bei Frasinelli. Bei Mondadori La sposa vermiglia (2012), Viola Fòscar (2014), L’amarusanza (2019), Terramarina (2020), Gioia mia (2022). Ihr jüngstes Buch ist Un tram per la vita, erschienen bei Il Battello a Vapore, frei nach der Geschichte von Emanuele Di Porto, der am 16. Oktober 1943 in Rom den Razzien der Nazis entkam.