Interview mit Erzbischof Georg Gänswein über Benedikts Erbe

Ein Schatz, der bleibt

 Ein Schatz, der bleibt  TED-002
13. Januar 2023

Wenn es jemanden gibt, der dem emeritierten Papst in seinen letzten Jahren und Stunden nahe war, dann heißt diese Person Georg Gänswein. Der Erzbischof kam am
4. Januar für ein Interview über die letzten Momente Benedikts XVI. in die Redaktion von Radio Vatikan. Die Fragen stellte Silvia Kritzenberger.

Wie haben Sie den emeritierten Papst in den letzten Tagen erlebt und was waren seine letzten Worte?

Am Montag, den 26. Dezember, also am Stephanustag, habe ich ihn noch mit dem Rollstuhl begleitet, wie regelmäßig in den letzten zwei Jahren. Ich habe ihn von seinem Arbeitszimmer oder wo er auch immer war ins Ess-zimmer geschoben, wo die Memores mit uns gegessen haben. Am Dienstag dann habe ich allerdings nur die Pasta gegessen, weil ich zum Flughafen musste. Ich hatte ihm gesagt, dass ich gerne zwei Tage nach Hause gehen würde, meine Geschwister und meine Tanten und einige Freunde grüßen. »Gehen Sie, gehen Sie«, hat er gesagt. Ich habe auch Doktor Polisca gefragt, ob das möglich ist, und der meinte, selbstverständlich sei es möglich…

Ich bin dann ganz normal nach Hause geflogen, kam abends an und habe geschlafen. Und dann kam sehr früh morgens ein Telefonat, das war eine der Memores und sie sagte, es gehe ihm nicht gut. »Wie, es geht ihm nicht gut?«, fragte ich. »Nein, die Nacht war miserabel. Doktor Polisca ist schon da.« Ich habe darum gebeten, ihn ans Telefon zu holen und sagte, dass ich sofort kommen und den ersten Flug nehmen würde.

Und bin dann also Mittwoch um ein Uhr schon wieder da gewesen. Ich bin sofort natürlich an sein Bett getreten und dann bin ich richtig erschrocken, weil er ganz schwer geatmet hat. Offensichtlich gab es da Schwierigkeiten mit der Lunge, mit den Bronchien. Er wurde medizinisch betreut und der Tag über war nicht einfach. Das war auch der Tag, an dem Papst Franziskus am Ende der Audienz zum Gebet aufgerufen hat. Er kam dann ja, ich war noch gar nicht da, aber Franziskus kam dann nach der Generalaudienz sofort hoch und hat gebetet und ihn auch gesegnet.

Ja, und dann kam ich, und der Mittwoch-abend war dann schwierig. Und ich fragte den Arzt, wird er es denn schaffen? Der sagte: »Vom Gesichtspunkt eines Arztes kann ich Ihnen keine Antwort geben, ja oder nein. Wir müssen warten.« Und am Morgen, am Donnerstag war es dann also wider Erwarten viel, viel besser. Ich frage dann den Arzt danach, und der meinte, er hätte keine Erklärung: »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich weiß es nicht.«

Dann hat es sich am Donnerstag über Tag etwas verschlechtert. Ich habe dann sofort gesagt: »Heiliger Vater, ich spende Ihnen die heilige Krankensalbung, und nachher werden wir die heilige Messe hier feiern.« Da war er noch ganz klar, gerne wollte er das. Er hat bei der Messe nicht konzelebriert, sondern lag im Bett. Ich habe ihm nachher die heilige Kommunion mit einem kleinen Löffel sub specie sanguinis gereicht, also das Blut Christi, ganz wenig, weil er schon zwei Tage nichts mehr essen konnte. Und das hat er alles noch realisiert. Und die Nacht von Donnerstag auf Freitag ging einigermaßen, und in der letzten Nacht, die er gelebt hat, nämlich vom Freitag auf den Samstag, vom 30. auf den 31. Dezember, da war ich nicht präsent, sondern es war eine Pflegekraft präsent, da waren die letzten Worte, die er verständlich aussprechen konnte, auf Italienisch: »Signore ti amo«, auf Deutsch: »Herr, ich liebe dich.« Das war das Letzte. Und das hat mir, als ich am Morgen in sein Zimmer kam, die Pflegekraft sofort unter großen Tränen gesagt. Ich habe das nicht selbst gehört. Nachts gegen drei, ich weiß jetzt nicht genau, ob es um 2.50 Uhr war oder um 3.10 Uhr, auf Italienisch, »Signore ti amo«, »Herr, ich liebe dich.«

Ja, und dann kam dann der 31., und da war es dann so, dass man sagen kann, dass er innerhalb von drei Stunden einen freien Fall erlitt. Die Agonie hat Gott sei Dank nicht so lange gedauert, das war wohl eine gute Dreiviertelstunde. Der Arzt sagte, das kann man nicht hundertprozentig genau sagen. Man hat nur gesehen und ich habe es so empfunden, dass er auf der Zielgeraden war. Ja, und dann ist er um 9.34 Uhr gestorben.

Als ich seine letzten Worte »Herr, ich liebe dich« hörte, musste ich an die Predigt denken, die der damalige Kardinaldekan Ratzinger bei der Beerdigung von Johannes Paul II. am 8. April 2005 gehalten hatte. Als er gepredigt hat über Johannes 21, die dreimalige Frage des Herrn: »Liebst du mich?« Und dann, auf das Ja, und die Aufforderung: »Folge mir nach.« Und dann eben das letzte Wort vom damaligen Dekan Ratzinger: Johannes Paul II. sieht uns vom Haus des Vaters, und die Bitte: »Segne uns.« Das ist mir unvergess-lich. Ich war auf dem Petersplatz, neben dem Altar. Unvergesslich. Das ist mir eingefallen, als der Pfleger mir sagte: »Signore ti amo.« Weil es die gleichen Worte in Italienisch
damals waren. Ja, und jetzt hat er es geschafft…«

Was hat Ihnen Joseph Ratzinger für Ihr Leben mitgegeben? Was werden Sie am meis-ten vermissen?

Natürlich seine Person, seine Liebenswürdigkeit, seinen festen Glauben, seine Klarheit seinen Mut und seine Fähigkeit, für den Glauben auch zu leiden. Man sagt »Via crucis«, das ist ja auch nicht nur ein schönes Wort für die Kunstgeschichte, sondern das ist ein Wort aus der tiefen Schatzkiste der Spiritualität des Glaubens.

Aber es wird auch bleiben, dieses unvergess-liche Wort »Gioia«, also Freude, dass der Glauben eben Freude schenkt. Also auch nach Johannes eben: Ich bin gekommen, damit ihr die Freude in Fülle habt. Das ist das Schöne, dass menschlich auch das Leben weitergeht und dass ich aus diesen Bildern, aus diesen tiefen Schatzgruben, doch immer wieder für mich etwas herausnehmen kann und ich hoffe auch andere Menschen für sich etwas herausnehmen und graben dürfen.

Ich danke Ihnen für das Gespräch und auch herzlichen Dank, dass Sie unseren Joseph Ratzinger, unseren Papst Benedikt, so lange und so treu begleitet haben.

Vergelt’s Gott, danke!