Gedanken zum Sonntag - 15. Januar: 2. Sonntag im Jahreskreis

Auch ich kannte ihn nicht

 Auch ich kannte ihn nicht  TED-002
13. Januar 2023

Zweimal – das soll uns aufhorchen lassen – sagt Johannes der Täufer im heutigen Evangelium (Joh 1, 29-34) in nur drei aufeinander folgenden Versen den gleichen Satz: »Auch ich kannte ihn nicht.«

Wie ist das möglich? Sind Maria, die Mutter Jesu, und Elisabeth, die Mutter des Täufers Johannes, nicht etwa miteinander verwandt, wie der Evangelist Lukas berichtet? Und Johannes selbst? Hüpft er, noch ungeboren, nicht etwa im Mutterschoß vor Freude, als die mit Jesus schwangere Maria den Raum betritt? Wie kann es sein, dass Johannes seinen Verwandten Jesus nicht kannte? Wir ahnen, dass es hier also um eine andere Form des Kennens gehen muss.

Wir alle wissen wohl aus eigener Erfahrung, dass es möglich ist, einen Menschen zu kennen, ohne ihn tatsächlich zu kennen. Das scheint paradox zu sein, ist es aber nicht. Kennen meint mehr, als bloß »mal gesehen haben«. Kennen meint eine innige Annahme, eine Annahme, die über das bloße Wahrnehmen hinausgeht. Kennen heißt, am eigenen Leib, also, ganz persönlich, erfahren zu haben. Es geht hier um ein Kennen, dass in Fleisch und Blut übergeht, ein Aufnehmen, das einen Menschen verwandeln kann.

Wie ist das zu verstehen? Gehen wir ganz an den Anfang des Johannesevangeliums. Im Prolog (Joh 1-18) lesen wir: »Er (also der Sohn Gottes) war in der Welt […], aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden […].« (Joh 1,10-12). Erst durch das Aufnehmen des Sohnes, können wir Kinder Gottes werden. Das setzt ein ganz tiefes Erkennen im Herzen voraus, wie Johannes es versteht.

Das heutige Evangelium ist also eine tiefe Entfaltung dessen, was uns im Prolog gesagt wird; eine Entfaltung der Realität der Fleischwerdung Gottes in Christus. Um sagen zu können: »Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt«, muss eine tiefe Verwandlung im Täufer vor sich gegangen sein. Um eine solche Aussage machen zu können, müssen uns die Augen geöffnet werden durch den Heiligen Geist – aus eigener Kraft vermögen wir das nicht. Diese Verwandlung, die aus ihm einen macht, der im Menschen Jesus von Nazareth – seinem Verwandten – den Christus, den Gesalbten Gottes, den Sohn Gottes erkennen lässt, setzt eine innere Erleuchtung voraus; eine Erleuchtung, die ihm die Gewissheit gibt, zu berichten: »Ich sah, dass der Geist vom Himmel herabkam wie eine Taube und auf ihm blieb«, und zu bezeugen: »Er ist der Sohn Gottes.«

Der Heilige Geist, der vom Himmel herabkommt, öffnet Johannes die Augen des Herzens, damit er in Jesus den Sohn Gottes erkennen kann. Alles, was der Täufer Johannes im heutigen Evangelium sieht und bezeugt, ist Selbstoffenbarung Gottes, zum Heil des Menschen.

Br. Immanuel Lupardi OSB ist Missionsbenediktiner von St. Ottilien in Oberbayern und Student am Päpstlichen Athenäum Sant’Anselmo in Rom.