Das Erbe von Papst Benedikt

Vernunft, Glaube und Liebe

 Vernunft, Glaube und Liebe  TED-001
05. Januar 2023

Das Werk, das das Denken, die Theologie und die Liebe – das
Erbe, das Joseph Ratzinger Benedikt XVI. der Kirche und der gesamten Menschheit hinterlässt – in seinem Kern wiedergibt, ist Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Der kleine Band enthält die Antrittsvorlesung, die der junge Theologe an dem Tag hielt, als er seine akademische Tätigkeit an der Universität Bonn im Jahr 1959 aufnahm. Der Ort, an dem die philosophische der religiösen Sicht begegnet, ist die Suche nach der Wahrheit. Diese Suche muss mit großer Ernsthaftigkeit durchgeführt werden, sowohl im natürlichen als auch im religiösen Bereich. Wenn das geschieht, sind beide Forschungsrichtungen dazu bestimmt, einander zu begegnen und zusammenzuarbeiten. Die philosophische Forschung entspringt der Würde des Menschen und seiner Vernunft, die seinen Ursprung und seine Bestimmung verstehen will. Die theologische Forschung führt zum Glauben an Gott, den Schöpfer, an den persönlichen Gott, dem das Schicksal seines Geschöpfs am Herzen liegt und der ihm entgegengeht, es so sehr liebt, dass er sogar seine Natur mit ihm teilt und mit ihm in einen Liebesdialog eintritt. Hier entspringt der unaufhebbare Unterschied zwischen dem menschlichen Denken und dem offenbarten Denken am Ursprung eines Dialogs, der nie veraltet sein oder ausgelöscht werden kann.

In der Philosophie ist es der Mensch, der Gott sucht, um den Kosmos und sich selbst zu erklären. In der Religion, insbesondere der christlichen Religion, ist es Gott, der sich dem Menschen offenbart und ihm nicht nur Gedanken, sondern Gemeinschaft und Liebe anbietet. Ratzinger selbst schrieb im Jahr 2004, dass dieser rote Faden sowohl in seinem berühmtesten Buch, der Einführung in das Christentum, als auch in seinen späteren Werken vorhanden ist. Meinerseits gestatte ich mir hinzuzufügen, dass dieser Ansatz auch im Katechismus der Katholischen Kirche, der unter seiner Leitung entstanden ist, und in seiner berühmten Enzyklika Deus caritas est (Gott ist die Liebe) vorhanden ist. Wenn das Gleichgewicht zwischen Vernunft und Glauben der rote Faden seiner theologischen Forschung war, so bedeutet das nicht, dass er kein zutiefst liebender Mensch war. Im Gegenteil, für ihn gilt das, was Pascal in seinem Mémorial schrieb: »Feuer. Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs.« Ohne das bisher beschriebene Gleichgewicht außer Acht zu lassen, war Ratzinger ein zutiefst liebender Mensch. Unter der Patina der Feinfühligkeit und der Zurückhaltung, mit der er auftrat, nährte er Zuneigung, Verständnis und Liebe, die er in jeder Situation und Phase seines Lebens bewahrte.

Da war vor allem die Liebe zu Gott, die im Laufe der Jahre immer mehr zur zärtlichen und leidenschaftlichen Liebe zu Jesus wurde, die er den Gläubigen durch sein Werk Jesus von Nazareth, das er zu einem großen Teil während seines Pontifikats verfasste, weitergeben wollte. Dann war da die Liebe zur Familie, zu seinem Vater Joseph, dessen Namen er trug, und seiner Mutter Maria, für das Vorbild und das christliche Leben, dass sie vor allem durch das Gebet vermittelten. »Jeden Tag wurde gemeinsam gebetet, und zwar vor und nach jeder Mahlzeit wie dem gemeinsamen Frühstück, dem Mittag- und Abend-essen. Das Hauptgebet fand nach dem Mittag-essen statt, als die besonderen Anliegen der Familie zum Ausdruck kamen.« Sein Vater Joseph trug ihn außerdem wenige Stunden nach der Geburt in die Kirche, um ihn taufen zu lassen. Es war Karsamstag, und er war immer dankbar für diese Entscheidung, die, wie er sagte, sein Dasein gleichsam in das Ostergeheimnis hineinnahm. Seine Mutter Maria kümmerte sich vor allem darum, das kleinste ihrer drei Kinder gut aufwachsen zu lassen und zu erziehen. Die Liebe zu den Eltern war begleitet von der Liebe zu seinen Geschwistern: Maria und Georg. Maria lebte immer bei ihm, von seiner Ernennung zum Theologieprofessor in Bonn über seine folgenden Stationen in Deutschland und Italien bis zu ihrem Tod im Jahr 1991. In die Traueranzeige ließen die Brüder schreiben: »34 Jahre hat sie Joseph auf allen Stationen seines Weges in unermüdlicher Hingebung und mit großer Güte und Demut gedient.« Mit seinem Bruder Georg teilte Joseph den Eintritt in das Priesterseminar und die Liebe zur Musik, die die beiden jungen Männer recht häufig dazu brachte, mit dem Fahrrad ins nahegelegene Salzburg zu fahren, um Mozartkonzerte zu besuchen; die Priesterweihe empfingen sie am selben Tag. Die Liebe zu seinem Bruder bezeugte er bis zuletzt, als er, bereits als emeritierter Papst, auf eigenen Wunsch nach Deutschland reiste, um sich von seinem Bruder vor dessen Tod zu verabschieden, obwohl sein eigener Gesundheitszustand bereits sehr schlecht war.

Dann war da die Liebe zu seiner Heimat, Deutschland. Ehrlich gesagt betrachtete Papst Benedikt sich in erster Linie als Bayer; er liebte die bayerischen Orte und Traditionen. Hier lernte er die Liturgiereform kennen, die damals noch in den Kinderschuhen steckte, und begleitete seine Mutter Maria zu den Marienwallfahrtsorten Mariabrunn und Altötting, das er insbesondere im Jahr 1934 besuchte, anlässlich der Heiligsprechung von Konrad von Parzham. In Freising studierte er Theologie und wurde zum Pries-ter geweiht. In München tat er die ersten Schritte in der Seelsorge, in derselben Pfarrei, in der einige Jahre zuvor Pater Alfred Delp gewirkt hatte, der wegen seines christlichen Zeugnisses von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Regensburg, seine letzte Etappe als Theologieprofessor, betrachtete er schließlich als den endgültigen Aufenthaltsort seines Lebens. Hier wohnte bereits sein Bruder, der Kapellmeister der berühmten Regensburger Domspatzen geworden war. Hier ließ er sich ein Haus bauen, wo er den Rest seiner Tage zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester verbringen wollte. Um kurz einen erweiterten Blick auf Deutschland zu werfen, sollte hinzugefügt werden, dass Ratzinger zwar an seiner bayerischen Herkunft hing, aber nacheinander Professor in Bonn, Münster und Tübingen war. Seine Liebe galt daher dem ganzen Land, einer ganzen Generation von befreundeten Professoren und Studenten, ganz Deutschland. Außerdem rief er in den Jahren, in denen er in der Lehre tätig war, den Schülerkreis ins Leben, eine Gruppe von Studenten, die sich bei ihm trafen, um ihn über ihre Forschungen und über die Entwicklungen auf literarischem, philosophischem und theologischem Gebiet zu unterrichten. Diesen Begegnungen blieb er immer treu, auch nachdem er nach Rom gegangen war, sogar in den Jahren seines Pontifikats. Von Bayern her dehnt sich seine Liebe also auf ganz Deutschland und auch auf Europa und auf die lateinamerikanischen Länder aus.

Dass er 1981 nach Rom kam, geschah auf Wunsch von Johannes Paul II. Dieser hatte ihn auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil kennengelernt und brachte ihm große Wertschätzung und Zuneigung entgegen. Gegen Ende seiner Autobiografie zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 1997 schrieb er: »Inzwischen habe ich mein Gepäck nach Rom getragen und wandere seit langem damit in den Straßen der Ewigen Stadt.« Nie hätte er sich träumen lassen, dass er einmal dazu berufen würde, Johannes Paul II. nachzufolgen und sein Leben lang in der italienischen Hauptstadt zu bleiben. So wurde Rom zu der Stadt, in der er am längsten gelebt hat und wo er die Römer, Italien und die Italiener kennenlernte. Anlässlich eines meiner Besuche gleich nach seinem Umzug in das Kloster »Mater Ecclesiae« nach seinem Rücktritt sagte er zu mir: »Was wollen Sie, ich habe hier meine Bücher, die treuen Gefährten, die mich durchs Leben begleitet haben, von hier sehe ich jeden Tag die Peterskuppel. Hier bin ich in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche. Das hier ist für mich schon der Beginn des Paradieses.« Außerdem liebte er die italienische Kultur. In seinen letzten Werken, und auch in einer Ansprache, in der er Aspekte seiner ersten und wichtigsten Enzyklika erläutert, wird der abschließende Vers aus Dantes Göttlicher Komödie zitiert: »L’amor che move il sole e l’altre stelle« [die Liebe, die auch die Sonne bewegt und die anderen Sterne].

Dieser kurze Überblick wäre unvollständig ohne einen Hinweis auf Papst Benedikts Liebe zur Universalkirche. Als Peritus beim Zweiten Vatikanischen Konzil stellte er das umfassend unter Beweis. In diesem Zusammenhang schrieb der Theologe Congar in sein Konzilstagebuch: »Zum Glück ist Ratzinger da. Er ist verständig, bescheiden, uneigennützig, sehr hilfreich.« Er liebte insbesondere den Glauben der einfachen Menschen. Die armen und die einfachen Menschen, so schrieb er, seien der kostbarste Schatz der Kirche. Und er lud die Theologen, seine Freunde, ein, ihnen ebenfalls Achtung und Liebe entgegenzubringen: Der Dienst an ihrem Glauben ist das Beste, was man für die Erneuerung der Kirche tun kann. Im selben Geist leitete er die Abfassung des Katechismus der Katholischen Kirche, der in relativ kurzer Zeit zum Abschluss gebracht und von den Gläubigen in aller Welt positiv aufgenommen wurde. Denselben Rat richtete er auch an die Priester, die er daran erinnerte, dass ihre wichtigste Aufgabe darin besteht, in der Gegenwart Gottes zu bleiben und gleichzeitig den Gläubigen zu dienen, um die Fackel des Glaubens und der Hoffnung am Leuchten zu erhalten.

Wie bereits erwähnt nahm der emeritierte Papst nach seinem Rücktritt seinen Wohnsitz im Kloster »Mater Ecclesiae« im Vatikan. Mehrmals sagte er zu mir, er hätte nicht erwartet, dass die Begegnung mit dem Herrn so lange auf sich warten ließe. Persönlich bin ich überzeugt, dass der Herr ihn um ein letztes Opfer gebeten hat, ein letztes Zeugnis für die Einheit der Kirche, insbesondere für die Kirche in seinem Land, in Deutschland. Ein Wort muss noch gesagt werden über die Wertschätzung und die Zuneigung, die Papst Benedikt mit seinem Nachfolger Papst Franziskus verband. Vor allem in der Anfangszeit ging Papst Franziskus oft zu ihm, um ihn zu besuchen, bat ihn um Ratschläge und um sein Gebet. Papst Benedikt seinerseits empfing ihn mit dem Respekt, der dem amtierenden Papst gebührt, und in seinem Gebet vergaß er nie, den Herrn zu bitten, ihn in seinem universalen Dienst zu stärken.

Von Elio Guerriero