Im Juni 1985 begannen die Vorbereitungen für die große Apostolische Reise des heiligen Johannes Paul II. nach Indien. Die Reise sollte vom 31. Januar bis
11. Februar dauern, auf dem Programm stand der Besuch von insgesamt 15 Städten, darunter auch Kalkutta, wo ein Besuch bei Mutter Teresa nicht fehlen durfte. Während eines vorbereitenden Besuchs führte Mutter Teresa uns in ihr berühmtes Haus, das sie gegründete hatte, um den zahlreichen Kranken beizustehen, die von den städtischen Krankenhäusern zurückgewiesen und am Straßenrand liegengelassen worden waren. Am Eingang des Hospizes lag ein großes Register aus mit den Namen von Tausenden, die hier aufgenommen worden waren. Ich stellte Mutter Teresa verschiedene Fragen und wollte auch wissen, wie viele der Patienten mit ihrer Hilfe geheilt werden konnten, aber ihre sehr demütig vorgebrachte Antwort lautete: »Unsere wichtigste Mission ist es nicht, die Schwerkranken zu heilen. Dafür gibt es Krankenhäuser. Unsere Mission ist es, die Menschen mit großer Sanftheit zur Begegnung mit Jesus zu führen.«
Ich hatte die große Ehre, Papst Benedikt während seines gesamten Pontifikats zu dienen. Schon kurz nachdem ich ihm öfter begegnet war und ihn näher kennengelernt hatte, musste ich an die von Mutter Teresa beschriebene Sanftmut denken.
Das theologische Format, die intellektuelle Prägung des emeritierten Papstes sowie sein Verdienst für die Lehre des Glaubens werden sicherlich von denjenigen herausgestellt und dargestellt werden, die in der Lage sind, deren tiefere und detailliertere Aspekte zu beurteilen. Mit meinem Zeugnis möchte ich eher einen vielleicht weniger bekannten Aspekt seiner Persönlichkeit erhellen: die Sanftmut, die man bei vertraulichen Begegnungen mit ihm spürte. Mutter Teresa nannte dies das »Evangelium der Freundlichkeit und Güte«. »Seid gütig«, mahnte Mutter Teresa, »denn Heiligkeit ist kein Luxus für wenige. Sie ist ganz einfach eine Pflicht für alle. Freundlichkeit ist die Grundlage der größten Heiligkeit. Wenn ihr die Kunst der Freundlichkeit lernt, werdet ihr Christus immer ähnlicher.«
Auf viele mag die scheinbar strenge und professorale Gestalt von Papst Benedikt dis-tanziert und kühl gewirkt haben, doch in seinem Inneren war er voller Sanftmut, und die von manchen befürchtete Strenge wich oft einer entwaffnenden Freundlichkeit, häufig begleitet von einem subtilen und geistreichen Humor.
Am Abend des 19. April 2005, unmittelbar nach seiner Wahl, kündigte er mir beim Verlassen der Sixtinischen Kapelle an, dass er nur sehr wenig reisen werde, da er der Meinung sei, dass er nicht das Naturell eines Reisenden habe. Doch kurz darauf erkannte er, dass der von Papst Paul VI. begonnene und von Papst Johannes Paul II. mit beispielloser Energie fortgesetzte Weg nun unumkehrbar war: In den knapp acht Jahren seines Pontifikats unternahm er 24 internationale Reisen und unterzog sich dabei großen Strapazen. Leider zeigten sein fortschreitendes Alter und sein körperlicher Zustand zuweilen Anzeichen von Gebrechlichkeit, die mit der Komplexität einiger besonders anstrengender Reisen (zum Beispiel in die Vereinigten Staaten, nach Australien, ins Heilige Land, nach Mexiko und Kuba) immer weniger vereinbar schienen.
Im April 2012 fragte der Heilige Vater bei seiner Rückkehr aus Kuba, ob die Vorbereitungen für die im September geplante Reise in den Libanon begonnen hätten. Auf die bejahende Antwort hin äußerte er, dass dies wahrscheinlich seine letzte Auslandsreise sein würde. Ehrlich gesagt dachte ich, dass es sich nur um eine vorübergehende Ermüdungserscheinung aufgrund der jüngsten Überlastung handelte und dass dies später von neuen Reiseplänen überwunden werden würde.
Aber es handelte sich in der Tat um die letzte Auslandsreise. Einige Tage später, als ich nach Rio de Janeiro abreisen wollte, um den 28. Weltjugendtag im Juli 2013 vorzubereiten, berichtete ich Seiner Heiligkeit, dass das Organisationskomitee auf die offizielle Ankündigung der Reise warte, um seine Anwesenheit bei der Veranstaltung mit Sicherheit bestätigen zu können. Der Heilige Vater antwortete ruhig und mit seiner gewohnten Freundlichkeit, aber auf eine ungewöhnlich unpersönliche Weise: »Sagen Sie, dass der Papst auf jeden Fall bei den Jugendlichen sein wird.«
Es gibt zahllose Begebenheiten, bei denen die Sanftmut ganz offen aus seinen Augen leuchtete. Um mich kurz zu fassen, möchte ich nur von zwei Episoden berichten, die mich sehr berührt haben.
Im September 2010 bestand das Organisationskomitee für den Besuch in Großbritannien hartnäckig darauf, dass Papst Benedikt die Seligsprechung von Kardinal John Henry Newman in Birmingham vornehmen sollte. Ich habe mich sehr entschieden gegen diese Bitte gewehrt, da der Papst selbst zu Beginn seines Pontifikats festgelegt hatte, dass die Feier einer Seligsprechung unter Vorsitz des Ortsbischofs in den jeweiligen Diözesen stattfinden, die Zeremonie der Heiligsprechung dagegen vom Heiligen Vater in Rom abgehalten werden sollte. Als ich meinen Bericht über den Stand der Vorbereitungen vorlegte, sagte Papst Benedikt mit dem größten Feingefühl zu mir: »Vielleicht verdient Kardinal Newman eine Ausnahme, meinen Sie, wir könnten sie gewähren?« Natürlich brauchte er dafür nicht meine Erlaubnis, aber seine Art, darum zu bitten, war von liebevoller Höflichkeit geprägt.
Im August 2011, während des Treffens mit etwa 500.000 Jugendlichen auf dem Flughafen Cuatro Vientos in Madrid anlässlich des 26. Weltjugendtags, brach ein schlimmes Gewitter mit Windböen und Regen aus, das einen langen Stromausfall verursachte und auch schwere Schäden an der päpstlichen Bühne zur Folge hatte, was den Heiligen Vater selbst in Gefahr brachte. Beleuchtung und Tontechnik fielen komplett aus. Die für die Sicherheit Verantwortlichen vor Ort waren angesichts dieser Situation äußerst besorgt. Wir schlugen Papst Benedikt daher vor, sich von der Bühne zurückzuziehen und die Veranstaltung zu unterbrechen, doch seine höfliche, aber entschiedene Antwort, während er sitzen blieb, lautete: »Wenn die Jugendlichen hier bleiben, kann der Papst sie nicht im Stich lassen.« Man wartete ab, bis das Gewitter vorüber war, und setzte dann das Treffen bis zum Ende fort.
Ich bin mir sicher, dass Papst Benedikt mit all seiner Sanftmut vor seinen geliebten Jesus und Herrn getreten ist, und ich bin mir genauso sicher, dass viele jetzt die Feinheit seines Denkens und die erlesene Sanftheit seines Herzens vermissen werden.