»Ich werde ja nun bald vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen. Auch wenn ich beim Rückblick auf mein langes Leben viel Grund zum Erschrecken und zur Angst habe, so bin ich doch frohen Mutes, weil ich fest darauf vertraue, dass der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitten hat und so als Richter zugleich auch mein Anwalt (Paraklet) ist. Im Blick auf die Stunde des Gerichts wird mir so die Gnade des Christseins deutlich. Es schenkt mir die Bekanntschaft, ja, die Freundschaft mit dem Richter meines Lebens und lässt mich so zuversichtlich durch das dunkle Tor des Todes hindurchgehen. Mir kommt dabei immer wieder in den Sinn, was Johannes in seiner Apokalypse am Anfang erzählt: Er sieht den Menschensohn in seiner ganzen Größe und fällt vor ihm zusammen, wie wenn er tot wäre. Aber da legt er seine Hand auf ihn und sagt: ›Fürchte dich nicht, ich bin es…‹ (vgl. Offb 1,12-17).
So schrieb Benedikt XVI. in seinem letzten Brief vom 6. Februar 2022 am Ende schmerzhafter Tage »der Gewissenserforschung und des Nachdenkens« über die Kritik, die an ihm – wegen Missbrauchsfällen in seiner Zeit als Erzbischof von München vor mehr als 40 Jahren – laut geworden war.
Schließlich kam der Moment der Begegnung mit dem Herrn. Man kann sicher nicht sagen, dass dieser Moment unerwartet kam und dass »unser großer Ältester« darauf nicht vorbereitet war. Wenn sein Vorgänger uns ein wertvolles und unvergessliches Zeugnis davon gegeben hat, wie man eine schmerzhafte, fortschreitende Krankheit bis zum Tod im Glauben leben kann, so hat Benedikt XVI. uns ein schönes Zeugnis davon gegeben, wie man die zunehmende Gebrechlichkeit des Alters über viele Jahre bis zum Ende im Glauben leben kann. Die Tatsache, dass er zu gegebener Zeit auf das Papsttum verzichtet hat, hat ihm – und uns mit ihm – erlaubt, diesen Weg mit großer Gelassenheit zu gehen.
Er hatte die Gabe, seinen Weg zu vollenden und dabei einen klaren Verstand zu bewahren, indem er sich mit vollbewusster Erfahrung jenen »letzten Wirklichkeiten« näherte, über die er – wie nur wenige andere – den Mut hatte zu denken und zu sprechen, dank des Glaubens, den er empfangen und gelebt hatte. Sowohl als Theologe als auch als Papst hat er sich tiefgründig, glaubwürdig und überzeugend zu uns geäußert. Seine Texte und Worte über die Eschatologie und seine Enzyklika über die Hoffnung bleiben ein Geschenk für die Kirche, das durch sein stilles Gebet während der langen Jahre des Rückzugs »auf dem Berg« besiegelt wurde.
Von den vielen Dingen, an die man sich bei seinem Pontifikat erinnern kann, erschien und erscheint mir ehrlich gesagt am außergewöhnlichsten, dass es ihm in diesen Jahren gelang, seine Trilogie über Jesus zu schreiben und zu vollenden. Wie konnte ein Papst mit der Verantwortung und den Sorgen der Weltkirche, die er tatsächlich auf seinen Schultern trug, ein solches Werk schreiben? Sicherlich war es das Ergebnis eines lebenslangen Nachdenkens und Forschens. Aber die innere Leidenschaft, die Motivation muss zweifelsohne gewaltig gewesen sein. Diese Seiten stammen aus der Feder eines Gelehrten, aber zugleich eines Gläubigen, der sein Leben der Suche nach einer Begegnung mit dem Antlitz Jesu gewidmet hat und darin zugleich die Erfüllung seiner Berufung und seinen Dienst am Nächsten sah.
In diesem Sinne verstehe ich zwar, warum er klargestellt hat, dass dieses Werk nicht als »päpstliches Lehramt« zu betrachten ist, aber ich denke dennoch, dass es ein wesentlicher Teil seines Zeugnisses für den Dienst als Papst ist – das heißt als ein Gläubiger, der in Jesus den Sohn Gottes erkennt und auf dessen Glauben wir weiter auch unseren Glauben stützen können. In diesem Sinne kann ich es nicht als Zufall betrachten, dass der Zeitpunkt des Verzichts auf das Papsttum, also der Sommer 2012, mit dem Abschluss der Trilogie über Jesus zusammenfällt. Es war eine Zeit der Erfüllung einer Mission, in deren Mittelpunkt der Glaube an Jesus Christus stand.
Zweifellos ist das Pontifikat von Papst Benedikt XVI. mehr durch sein Lehramt als durch sein Regierungshandeln geprägt worden. »Ich wusste sehr wohl, dass meine Stärke – wenn ich denn eine hatte – darin bestand, den Glauben in einer Weise darzustellen, die der Kultur unserer Zeit entsprach.« Ein Glaube, der immer im Dialog mit der Vernunft steht, ein vernünftiger Glaube, eine für den Glauben offene Vernunft. Papst Ratzinger wurde zu Recht von denjenigen respektiert, die aufmerksam die Bewegungen des Denkens und des Geistes verfolgen und versuchen, die Ereignisse in ihrer tiefsten und langfristigen Bedeutung zu lesen, ohne an der Oberfläche der Ereignisse und Veränderungen stehen zu bleiben. Nicht umsonst sind einige seiner großen Reden in Erinnerung geblieben, die er nicht nur vor einem kirchlichen Publikum, sondern auch vor Vertretern der gesamten Gesellschaft gehalten hat, in London, Berlin… Er hatte keine Angst vor der Konfrontation mit anderen Ideen und Positionen, er blickte mit Treue und Weitsicht auf die großen Fragen, auf die Verdunkelung der Gegenwart Gottes am Horizont der heutigen Menschheit, auf die Fragen nach der Zukunft der Kirche, besonders in seinem eigenen Land und in Europa. Und er versuchte, sich den Problemen loyal zu stellen, ohne vor ihnen zurückzuschrecken, auch wenn sie dramatisch waren; aber der Glaube und die Intelligenz des Glaubens ließen ihn immer eine Perspektive der Hoffnung finden.
Der intellektuelle und kulturelle Wert von Joseph Ratzinger ist zu gut bekannt, als dass man dieses Lob wiederholen müsste. Derjenige, der ihn verstehen und für die Weltkirche wertschätzen konnte, war Papst Johannes Paul II. Ratzinger war 24 der 26 Jahre des Pontifikats seines Vorgängers Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre. Zwei unterschiedliche Persönlichkeiten, aber – gestatten Sie mir, dies zu sagen – ein »formidables Paar«. Das grenzenlose Pontifikat von Papst Wojtyla lässt sich, in lehramtlicher Sicht, nicht ohne die Präsenz von Kardinal Ratzinger und nicht ohne das in ihn, in seine kirchliche Theologie und in die Weite und Ausgewogenheit seines Denkens gesetzte Vertrauen denken. Er hat der Einheit des kirchlichen Glaubens in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gedient. Er hat epochalen Spannungen und Herausforderungen die Stirn geboten – im Dialog mit dem Judentum, in der Ökumene, im Dialog mit anderen Religionen, bei der Konfrontation mit dem Marxismus, im Kontext der Säkularisierung und angesichts
von Veränderungen des Menschenbildes und der Sexualität. Ihm ist es gelungen, eine
umfassende und harmonische Lehrsynthese wie die des Katechismus der Katholischen Kirche vorzuschlagen, die von der großen Mehrheit der kirchlichen Gemeinschaft mit einem unerwarteten Konsens angenommen wurde, sodass diese Gemeinschaft die Schwelle
des dritten Jahrtausends überschreiten und sich als Trägerin einer
Heilsbotschaft für die Menschheit verstehen konnte…
Diese sehr lange und außergewöhnliche Zusammenarbeit diente der Vorbereitung des Pontifikats von Papst Benedikt XVI., der von den Kardinälen als der am besten geeignete Fortsetzer und Nachfolger von Papst Wojtyla angesehen wurde. Bei einer Gesamtbetrachtung des Lebensweges von Joseph Ratzinger fällt die Kontinuität seines Weges und zugleich die fortschreitende Erweiterung des Horizonts seines Dienstes auf, was beeindruckend ist.
Die Berufung Joseph Ratzingers war von Anfang an eine priesterliche Berufung, sowohl zum theologischen Studium als auch zum liturgischen und pastoralen Dienst. Er durchlief verschiedene Etappen, vom Pries-terseminar bis zu seinen ersten pastoralen Erfahrungen und seiner Lehrtätigkeit an der Universität; dann wurde sein Horizont durch seine Teilnahme am Konzil und seine Beziehung zu den großen Theologen der Zeit auf die Erfahrung der Weltkirche hin erweitert. Danach kehrte er zur akademischen Tätigkeit des vertieften theologischen Studiums zurück, aber immer inmitten von Debatten und kirchlichen Erfahrungen. Dann erweiterte er seinen Horizont erneut im pastoralen Dienst der großen Erzdiözese München. Mit dem Ruf nach Rom als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre wechselte er endgültig in den Dienst der Weltkirche. Schließlich führte ihn ein neuer Ruf zur Leitung der gesamten kirchlichen Gemeinschaft als Papst.
Der Horizont wurde damit nicht nur für das Denken, sondern auch für den priesterlichen und pastoralen Dienst allumfassend: Der gesamten Kirchengemeinschaft zu dienen, sie auf den Wegen unserer Zeit klug zu führen, die Einheit und Authentizität ihres Glaubens zu bewahren. Das anlässlich seiner Bischofsweihe gewählte Motto »Mitarbeiter der Wahrheit« (3 Joh 8) drückt sehr gut den roten Faden im Leben und in der Berufung Joseph Ratzingers aus, wenn man versteht, dass die Wahrheit für ihn keineswegs eine Reihe von abstrakten Begriffen war, sondern letztlich in der Person Jesu Christi verkörpert wurde.
Das Pontifikat von Benedikt XVI. war ein Pontifikat, das von Krisen und Schwierigkeiten geprägt war, und wird auch so in Erinnerung bleiben. Es wäre nicht richtig, diesen Aspekt zu übersehen. Dies darf aber nicht oberflächlich betrachtet und bewertet werden. Was die interne oder externe Kritik und Opposition angeht, so erinnerte er selbst mit einem Lächeln daran, dass mehrere andere Päpste mit viel dramatischeren Zeiten und Situationen konfrontiert waren. Ohne auf die Verfolgungen der ersten Jahrhunderte zurückgehen zu müssen, braucht man nur an Pius IX. oder Benedikt XV. zu denken, als er das »sinnlose Gemetzel« anprangerte, oder an die Situation der Päpste während der Weltkriege. Benedikt XVI. betrachtete sich also nicht als Märtyrer. Kein Papst kann meinen, von Kritik, Schwierigkeiten und Spannungen verschont zu bleiben. Das ändert nichts an der Tatsache, dass er, wenn nötig, bestimmt und entschlossen auf Kritik zu reagieren wusste – wie in dem unvergesslichen Brief an die Bischöfe im Jahr 2009 nach dem Aufruhr um die Aufhebung der Exkommunikation der Lefebvrianer und den »Fall Williamson«. Es war ein leidenschaftlicher Brief, über den sein Sekretär mir sagte, dass er »Ratzinger in seiner reinsten Form« ausdrückte.
Das schwerste Kreuz seines Pontifikats aber, dessen Schwere er bereits während seiner Zeit in der Kongregation für die Glaubenslehre zu begreifen begann und das sich für die Kirche auch weiter als Prüfung und Herausforderung von historischem Ausmaß erweist, war der Skandal des sexuellen Miss-brauchs. Er war auch Anlass für Kritik und persönliche Angriffe auf Ratzinger bis in seine letzten Lebensjahre und verursachte damit auch tiefes Leid. Da ich mich während seines Pontifikats auch intensiv mit diesen Fragen befasst habe, bin ich fest davon überzeugt, dass Benedikt XVI. den Ernst der Probleme immer deutlicher erkannt hat und es sein großes Verdienst war, diese Probleme in ihren verschiedenen Dimensionen mit Weitblick und Tiefgang anzugehen: den Opfern zuhören, angesichts der Verbrechen konsequent Gerechtigkeit schaffen, die Wunden heilen, angemessene Normen und Verfahren festlegen, ausbilden und das Böse verhindern.
Es war nur der Beginn einer langen Reise, aber sie ging in die richtige Richtung mit viel Demut. Benedikt XVI. hat sich nie um ein »Bild« von sich oder der Kirche gesorgt, das nicht der Wahrheit entsprach. Und auch in diesem Bereich hat er immer aus der Perspektive eines gläubigen Menschen gehandelt. Über die pastoralen oder juristischen Maßnahmen hinaus, die notwendig sind, um dem Bösen in seinen Erscheinungsformen zu begegnen, spürte er die schreckliche und geheimnisvolle Macht des Bösen und die Notwendigkeit, an die Gnade zu appellieren, um nicht von der Verzweiflung erdrückt zu werden und den Weg der Heilung, der Umkehr, der Buße, der Läuterung zu finden, den die Menschen, die Kirche und die Gesellschaft brauchen.
Als ich gebeten wurde, die Geschichte des Pontifikats von Benedikt XVI. in einer Episode zusammenzufassen, erinnerte ich mich an die Gebetsvigil während des Weltjugendtags 2011 in Madrid auf der großen Esplanade des Flughafens Cuatro Vientos, an der etwa eine Million junger Menschen teilnahmen. Es war Abend, die Dunkelheit wurde immer dichter, als der Papst seine Rede begann. Doch dann zog plötzlich ein Unwetter auf, ein wahrer Orkan aus Regen und Wind. Die Beleuchtungs- und Beschallungsanlagen fielen aus, und viele der Zelte am Rande der Esplanade stürzten ein. Die Situation war wirklich dramatisch. Der Papst wurde von seinen Mitarbeitern aufgefordert, den Ort zu verlassen und sich unterzustellen, was er jedoch nicht wollte. Er blieb geduldig und mutig auf seinem Platz auf der offenen Bühne sitzen, geschützt durch einen einfachen Regenschirm, der im Wind flatterte. Die ganze große Versammlung folgte seinem Beispiel mit Vertrauen und Geduld. Nach einiger Zeit legte sich der Sturm, der Regen hörte auf und es trat eine große und unerwartete Ruhe ein. Die technischen Anlagen begannen wieder zu funktionieren. Der Papst beendete seine Rede, und die wunderbare Monstranz aus der Kathedrale von Toledo wurde zur eucharistischen Anbetung in die Mitte der Bühne gebracht. Der Papst kniete schweigend vor dem Allerheiligsten und hinter ihm, in der Dunkelheit, betete die riesige Versammlung in gesammelter Stille.
In gewissem Sinne kann dies das Bild nicht nur des Pontifikats, sondern auch des Lebens von Joseph Ratzinger und des Ziels seiner Reise bleiben. Während er nun in die endgültige Stille vor dem Herrn eintritt, stehen auch wir weiterhin hinter ihm und mit ihm.
Von P. Federico Lombardi SJ, früherer Direktor des vatikanischen Presseamtes und heute Präsident der vatikanischen Stiftung Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.