Eine chilenische Schwester vom Guten Hirten begleitet inhaftierte Frauen

Dem Herrn danken für jeden weiteren Lebenstag – und einen Tag weniger im Gefängnis

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05. Januar 2023

Ich gehe seit 22 Jahren ins Gefängnis, weil Gott mich geliebt und sich für mich hingegeben hat. Dabei sitze ich nicht etwa eine Strafe ab. Vielmehr versuche ich, in all meiner Verletzlichkeit auf den Ruf des Herrn zu antworten. Ihn sehe ich und Ihm diene ich in den Tausenden Frauen, von denen die meisten wegen Straftaten hinter Gittern sind, die sie infolge der Armut begangen haben, in die sie schon hineingeboren wurden.

Ich heiße Nelly León. Ich bin eine Ordensfrau der Kongregation Unserer Frau von der Liebe des Guten Hirten (Schwestern vom Guten Hirten). Derzeit kümmere ich mich um eine Abteilung des Frauengefängnisses in Santiago, der Hauptstadt von Chile, und leite die Stiftung »Mujer, levántate« [Frau, steh auf!]. Diese unterstützt Frauen, die jahrelang im Gefängnis waren und in der Freiheit nicht wieder zum Verbrechen zurückkehren wollen, bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, in die Arbeit und in die Familien. So gehe ich als Seelsorgerin des Frauengefängnisses jeden Tag ein und aus in einer Welt, die voller Schmerz, Wut, Schuld, Frustration ist und besonders geprägt vom Leid der von ihren Kindern getrennten Mütter.

Bittere Tränen

Als sich 2020 das Coronavirus weltweit ausbreitete, verboten die chilenischen Gefängnisse jegliche Besuche, seelsorglicher Beistand inbegriffen. Weil ich darauf bestand, diese Frauen nicht im Stich zu lassen, boten sie mir die Möglichkeit an, im Gefängnis zu bleiben, das ich aber erst nach Aufhebung der Beschränkungen wieder würde verlassen können. Ich akzeptierte in der Überzeugung, dass es das war, was Gott von mir wollte, »denn ich war im Gefängnis und du bist zu mir gekommen«. Meine Gefangenschaft dauerte 18 Monate. Heute kann ich sagen, dass die Zeit im Gefängnis das Beste war, was mir in meinem gottgeweihten Leben passieren konnte. Wenn ich vorher am Ende des Tages wegging, brauchte ich erst einmal eine Pause, weil ich so viel Bitterkeit hinter mir ließ, die Tränen der Frauen, und auch die tröstenden Begegnungen mit ihnen im Lauf des Tages. Die Tatsache, dass ich während der Pandemie gezwungen war, im Gefängnis zu bleiben, ermöglichte es mir, mich bis in den Abend hinein um sie zu kümmern. Ich konnte nachts die Korridore entlanggehen, in einer tiefen Stille, die allerdings gelegentlich von einem herzzerreißenden Schreien aus den Zellen unterbrochen wurde.

Diese Erfahrung ist ein Wendepunkt in meinem Leben, von dem es kein Zurück gibt, denn so war es möglich, diese Frauen viel besser kennenzulernen, ihre Geschichten, ihren Schmerz, das, was in ihren Herzen vorging. Sie leben jahrelang an einem Ort, an dem sie nicht sein wollen, unter Bedingungen, unter denen sie nicht leben wollen.

Das ist eine offene Wunde, die Leiden und Heimweh verursacht, Gefühle, die gerade in der Weihnachtszeit zunehmen. Während überall in Chile die Familien zusammenkommen, sind diese Frauen dem jeden Tag gleichen Rhythmus von Eingesperrtsein und Einsamkeit unterworfen. Am Weihnachtsabend ist ihre größte Sorge, dass sie ihren Kindern nichts schenken können, und während der Pandemie war diese Sorge noch größer. Deshalb haben wir 2020 Materialien gesammelt, damit sie bunte Weihnachtskarten für ihre Kinder basteln konnten. Diese wurden dann dank eines Netzwerks von Mitarbeitern bei ihnen zuhause abgegeben. Außerdem haben wir den jüngeren Kindern im Namen ihrer Mütter Geschenke gesandt. Die Vorsehung erlaubte zudem, dass wir in jenem Jahr im Gefängnis die heilige Messe feiern konnten, auch wenn sie einfacher gehalten und weniger überfüllt war – denn es ist Tradition, dass unsere Weihnachtsmesse am 24. Dezember vom Erzbischof von Santiago gefeiert wird.

Momente der Hoffnung

Dieses Jahr wird es uns erstmals seit dem Ende der Pandemie möglich sein, in einem größeren Rahmen zu feiern. Wir haben die Erlaubnis erhalten, für die Kinder in den Innenhöfen des Gefängnisses aufblasbare Spiele aufzustellen, wo auch Fotos gemacht werden können. Es wird Eis und andere Leckereien geben, die die Mütter gemeinsam mit ihren Kindern genießen können. Jedes Kind wird von seiner Mutter oder Großmutter ein Geschenk erhalten. Außerdem wird in jeder Abteilung des Gefängnisses auch ein Gottesdienst stattfinden, der eine Prozession mit einem Bild des Jesuskindes einschließt. Wir werden Augenblicke des Gebets und der Reflexion haben, das Wort Gottes hören und Weihnachtslieder singen. So können wir die Frauen begleiten, die sich besonders einsam fühlen, weil keiner sie besuchen kommt, unter ihnen sind einige Ausländerinnen, deren Familien in anderen Ländern leben.

In dieser Zeit der Vorbereitung auf Weihnachten, die wir mit dem Entzünden der Kerzen an unserem Adventskranz feierlich begangen haben, sind gemischte Gefühle zu spüren: zum einen die mit einem Leben hinter Gittern verbundene Angst, zum anderen die Hoffnung, die der Erlöser bringt. Aber zweifellos besteht größere Bereitschaft, harmonisch zusammenzuleben und sich in den Dienst der anderen zu stellen. Und so kommt auch hier, an diesem unwirtlichen Ort, nach und nach eine tiefe Menschlichkeit zutage. Eine Menschlichkeit mit Wunden, die aber nach Anerkennung ihrer Würde schreit. Die Frauen erinnern sich gut daran, was Papst Franziskus bei seinem Besuch im Januar 2018 zu ihnen gesagt hat: »Der Freiheit beraubt zu sein ist nicht das Gleiche, wie der Würde beraubt zu sein.« Eben deshalb möchten viele von ihnen vorankommen. Weihnachten 2022 wird eine neue Gelegenheit darstellen, diese Würde, die sie als geliebte Töchter Gottes haben, zu fördern. Und ich werde mit ihnen zusammen von neuem beten können, diesmal vor dem Jesuskind: »Danke, Herr, für einen weiteren Tag im Leben und einen Tag weniger im Gefängnis.«

#sistersproject

Von Sr. Nelly León