Predigt von Dr. Bertram Meier, Bischof von Augsburg, zum Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria und Patrozinium der Erzbruderschaft am Campo Santo Teutonico im Vatikan am 8. Dezember

Christus pro nobis – Christus in nobis

 Christus pro nobis – Christus in nobis  TED-049
09. Dezember 2022

Bilder sind gute Predigten. Wir kennen die Biblia Pauperum im Mittelalter, die vielen Menschen den Inhalt der biblischen Botschaft aufschloss. Zwei Bilder sollen uns helfen, den heutigen Festtag in seiner Tiefe auszuleuchten und zu entfalten. Da ist zunächst das Altarbild unserer Kollegskirche, die der Madonna della Pietà, der schmerzhaften Muttergottes, geweiht ist. Wir sehen Maria, wie sie sich über den Leichnam des Sohnes beugt. Die Muttergottes leidet mit als Liebende. Mitliebend ist sie mitleidend. Ihr Gesicht ist voller Trauer, aber auch voller Güte. Der Schmerz ist da, doch ohne Bitterkeit, ohne Anklage. Auf ein Detail möchte ich besonders hinweisen: Der Leichnam Jesu ist nicht freischwebend, er wird von zwei Männern getragen. Ist diese Botschaft nicht maßgeschneidert für unsere Erzbruderschaft: Tote bestatten, Trauernde trösten, Gastfreundschaft üben. So verdichtet sich in diesem Altarblatt das Leitbild der Erzbruderschaft: keine High Society, weniger eine Gesellschaft der Reichen und Schönen, sondern vielmehr eine kirchliche Gemeinschaft, die sich die Nächstenliebe auf die Fahnen geschrieben hat. Von diesem Bild dürfen wir uns heute trösten lassen, wie es der emeritierte Papst Benedikt XVI., der als Kardinal oft und gern hier die heilige Messe feierte, beschrieb: »Von diesem Bild lernen wir, dass Trauer, dass angenommener Schmerz reiner und reifer macht und uns hilft, immer mehr uns dem Ewigen zuzuwenden.«1

Aus dem Ewigen kam Gott in die Zeit. Wir schauen auf den Christus pro nobis. Krippe und Kreuz sind aus demselben Holz geschnitzt.

Christus wurde in eine Krippe gelegt – für uns.

Christus wurde aufs Kreuz genagelt – für uns.

Christus wurde in den Schoß seiner Mutter gelegt – für uns.

Heute ist Christus uns, seiner Kirche, in den Schoß gelegt – für die Welt.

Das ist – für die Welt – die Mission der Kirche: Jesus Christus, der in ihren Schoß gelegt wurde, den Menschen zeigen, ihnen das Evangelium anbieten. Praesentatio Domini: nicht Selbst-Darstellung, sondern Angebot, Vorstellung des Herrn. Hand aufs Herz: Was bieten wir als Kirche den Menschen an? Was setzen wir ihnen vor? Können sie wirklich davon leben, hilft es ihnen zu über-leben in dieser delikaten Zeit? Christus liegt im Schoß der Kirche, doch der Glaube fällt vielen heute nicht mehr in den Schoß. Was steht auf unserer kirchlichen Speisekarte: Ist es Kost aus Konserven der Vergangenheit, womöglich mit abgelaufener Haltbarkeitsfrist? Oder bieten wir Fastfood an, das kurzfristig zwar den Magen stopft, letztlich aber den Hunger der Seele nicht zu stillen vermag? Das Grundnahrungsmittel der Kirche muss Jesus Chris-tus sein: das Wort, das Fleisch geworden ist, und das Brot, das Leben gibt: »Wer von diesem Brot isst, wird leben in Ewigkeit« (Joh 6,58).

Christus pro nobis – Wort und Hostie. Darauf können, ja dürfen wir nicht verzichten. Schauen wir genau hin, was die Kirche uns heute alles anbietet, was sie neu ins Sortiment aufnimmt! Prüfen wir kritisch, was da alles im Regal steht oder ins Schaufenster der Medien gestellt wird, um anzukommen! Lassen wir uns nicht abspeisen mit Angeboten, die den Ohren schmeicheln, mit denen wir uns vielleicht beliebt machen, die uns aber verhungern lassen, wenn es um Tieferes geht, wenn die Substanz auf dem Spiel steht.

So spannt sich der Bogen auf vom Christus pro nobis zum Christus in nobis. Christus pro nobis ist anspruchsvoll, schwer verdaulich, wir haben an ihm zu knabbern, vielleicht ein Leben lang. Christen, die das Evangelium ernst nehmen, sind Wiederkäuer, bis sie die Botschaft – und was daraus folgt – verdaut haben. Das kann Jahre gehen, bis der Christus pro nobis uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dann ist er da: der Moment, in dem aus dem Christus pro nobis der Christus in nobis geworden ist, wie ihn die Ikone, das zweite Bild, darstellt.

Es war der evangelische Pfarrer Hans Asmussen, der schon 1950 geschrieben hat: »Man hat Jesus Christus nicht ohne Maria«.2 Die für einen lutherischen Theologen zunächst ungewöhnlich anmutende Aussage fasst die Botschaft der berühmten Ikone von der »Madonna des Zeichens« treffend zusammen. Das Bild ist in der Tat etwas Besonderes. Denn hier trägt nicht die Mutter ihren Sohn, liebevoll umhegend oder ihn nährend. Das Kind wird weder von ihren Armen gehalten noch sitzt es auf ihrem Schoß. In einem Medaillon scheint es in ihrem Inneren zu ruhen. Maria wird uns gezeigt als Wartende, als eine, die sich öffnet und dabei eine tiefe innere Ruhe ausstrahlt. Vielleicht dürfen wir auch ein wenig Staunen erahnen: Wie kann es sein, dass ich etwas in mir trage, was so viel größer ist als ich selbst bin?

Ikonen haben stets einen Bezug zu biblischen Texten. Hier lassen sich verschiedene Bezüge erschließen. Zunächst scheint gleichsam der Goldgrund eines Prophetenwortes auf: »Der Herr wird euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, sein Name wird sein Emmanuel, Gott mit uns« (Jes 7,14).

Der Prophet hatte dabei den skeptischen König Ahab vor Augen, der sich nicht getraute, ein Zeichen zu erbitten. Dennoch wird ihm ein Zeichen angekündigt: dass ein Kind als großer Hoffnungsträger geboren werden soll, ein Kind der Verheißung und des Neuanfangs.

Die Ikone wirft Licht darauf, dass diese Prophetie in Erfüllung gegangen ist. Als die Zeit erfüllt war und Gott seinen Sohn sandte (vgl. Gal 4,4), da war eine Jungfrau bereit, das Ihre beizutragen, damit der Emmanuel das Licht dieser Welt erblicken konnte. Genau hier fängt die »Madonna vom Zeichen« zu sprechen an: Obgleich erwähltes Werkzeug von Anfang an, rein und unbefleckt vom Moment ihrer Zeugung an, stellt nicht sie sich ins Zentrum. Mehr noch: Genau genommen hat sie gar keinen »eigenen« Mittelpunkt. Denn ihr Herzstück ist das Kind, das die Wende in der Heilsgeschichte herbeiführen soll. Wie die Strahlen einer Monstranz, so umgibt die Mutter ihren Sohn, Maria das Kind, das die Mitte ihres Leibes ist.

In der Galerie der ostkirchlichen Marienbilder heißt diese Art der Darstellung »Madonna Platytera«. »Platys« bedeutet »weit«, »Platytera« als Steigerung »weiter«. So schimmert ein weiteres (allerdings apokryph-gnostisches) Bibelwort aus dem Bartholo-mäus-Evangelium aus der Ikone auf: »Sieben Himmel fassen den Logos des Vaters kaum. Du aber geruhtest, Dich umfassen zu lassen vom Leib der Jungfrau«.3

Weil Maria sich weit machen ließ, das heißt eine Art Hohlraum wurde, um dem Messias in sich Platz einzuräumen, deshalb ist sie »weiter als der Himmel«. Daher ist auf sie, das »Exponat Gottes« für die Welt, auch kein Schatten gefallen. Gibt es eine schönere göttliche Logik? Sein bestes »Vorzeigestück« für die Welt musste makellos sein und bleiben, wirklich »immakulat«!

Noch etwas fällt bei dieser Ikone auf. Maria breitet ihre Arme aus. Es ist die priesterliche Orantenhaltung, in der sie sich sowohl Gott als auch dem Betrachter darbietet. Diese Geste sehe ich als Akt vorbehaltloser Offenheit! Obwohl von Anfang an für das intimste gott-menschliche Geheimnis vorherbestimmt und darin eingeweiht, verschließt sich Maria nicht in nobler Selbsteinkapselung. Sie sucht nicht nur die Innerlichkeit, sondern spricht durch ihr »Adsum«: Hier bin ich. Das ist mehr als ein Wort, es ist Haltung. Ich bin bereit, ganz durchdrungen von einer Wirklichkeit, die mehr ist als ich selbst, die mehr vermag als meine eigenen Kräfte könnten. Es ist etwas im Kommen, von dem ich noch gar nicht weiß, was daraus eigentlich werden soll. Aber ich brauche keine Angst zu haben. Gottes Projekt mit mir ist gut!

Das Geheimnis der Immaculata lässt uns auf Maria schauen, aber von dort fällt der Blick schließlich wieder auf uns zurück. Der Christus pro nobis ist der Christus in nobis. Was für Maria in unüberbietbarer Weise Wirklichkeit wurde, das hat Paulus auf seine Art später geschenkt bekommen. Er wünscht diese Erfahrung auch uns, wenn er von sich erzählt: »Nicht mehr ich lebe, sondern Chris-tus lebt in mir« (Gal 2,20).

In der mittelalterlichen Mystik sprach man von der Gottesgeburt in der Seele des Menschen. Johannes Tauler (und auch Meister Eckkart) beschreibt eine dreifache Geburt: »Die erste und oberste Geburt ist, dass der himmlische Vater seinen eingeborenen Sohn gebiert in göttlicher Wesenheit und in persönlichem Unterschied. Die andere Geburt, die man am Weihnachtsfest begeht, ist das mütterliche Gebären, das geschah in jungfräulicher Keuschheit und in rechter Lauterkeit. Die dritte Geburt ist, dass Gott alle Tage und alle Stunde wahrlich geistlich geboren wird in einer guten Seele, mit Gnade und mit Liebe.«4

Auf diese Weise zeigt »Maria vom Zeichen« nicht nur ein adventliches Bild, das
die »zweite Geburt« des Gottessohnes beschreibt. Es ist ein lebendiger Kommentar für die innere Verwandlung, die sich durch die »dritte Geburt« in jedem Christen vollziehen soll. In jedem soll sich die Geburt des Erlösers ereignen, weil in jedem etwas von dem göttlichen Samenkorn eingesenkt ist, das an den unversehrten und unbefleckten Garten des Paradieses erinnert. Das göttliche Samenkorn hegen und pflegen, damit es heranreifen und Gestalt gewinnen kann, diesen Impuls setzt die Immaculata für alle Christen in der Erwartung des Herrn. Denn wie sagte schon Angelus Silesius: »Wäre Christus tausendmal geboren und nicht in dir, du bliebest ewiglich verloren«.

Christus pro nobis – Christus in nobis. Wenn man diesen Überstieg an uns ablesen kann, dann ist unsere Mission erfüllt: den Menschen Christus zeigen.

Fußnoten

1 Joseph Kardinal Ratzinger, Bilder der Hoffnung. Wanderungen im Kirchenjahr, Freiburg-Basel-Wien 1997, S. 110-113. hier: S. 112f.

2 Maria – die Mutter Gottes, Evangelisches Verlagswerk Stuttgart 1950.

3 Vgl. Hans-Josef Klauck, Apokryphe Evangelien. Eine Einführung. Katholisches Bibelwerk Stuttgart 2005 (2. Auflage), S. 131-139.

4 Johannes Tauler, Predigten, hg. v. G. Hofmann, Einführung von Alois Haas, Freiburg-Basel-Wien 1979, S. 13; vgl. Johann Sebastian Bach, Zwar ist solche Herzensstube, Choral Nr. 53 aus dem Weihnachtsoratorium.