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FRAUEN KIRCHE WELT

Bei den Protestanten

Für uns gilt das, was in der Heiligen Schrift steht

 Per noi è quello che dicono le Scritture  DCM-011
03. Dezember 2022

Der spezifische Wert Marias aus der Sicht der Moderatorin der Tavola Valdese


Eine außergewöhnliche Frauengestalt, »deren Größe Gefahr läuft, durch die Dogmen und die Volksfrömmigkeit eher geschmälert als gesteigert zu werden«. Allergrößter Respekt, aber ausschließlicher Bezug auf die Bibel und auf die Schriften des Neuen Testaments als Quelle des Wissens: Der Standpunkt, den die evangelischen Kirchen der Mutter Jesu gegenüber einnehmen, ist wohlbekannt. Wir unterhalten uns darüber mit der Moderatorin der Tavola Valdese, Alessandra Trotta, Rechtsanwältin in Palermo und Diakonin, die zweite Frau, die diese Aufgabe ausübt, eine der drei Frauen (darunter zwei Pastorinnen) unter den sieben Mitgliedern des nationalen Leitungsgremiums der Evangelischen Waldenserkirche (einem Zusammenschluss der Methodistischen Kirche und der Waldenserkirche), das sie auch in den Beziehungen zum Staat vertritt.

Moderatorin Trotta, wer ist Maria aus der Sicht der Evangelischen Kirchen?

Die Waldenserkirche ist, genau wie die Kirchen, die sich der evangelischen Reformation des 16. Jahrhunderts angeschlossen haben, die Kirche des »Sola Scriptura«. Das heißt, dass Maria für uns das ist, was die Schriften über sie sagen. Was jenseits der Heiligen Schrift konstruiert wurde, macht uns stutzig, denn es scheint uns, dass es das Risiko birgt, eine Figur, deren Wert gerade darin liegt, was die Heilige Schrift über sie sagt, zu entstellen oder gar zu verraten.

Beschreiben Sie uns einige Bibelstellen, an denen Ihres Erachtens Maria in all ihrer Größe erscheint.

Als Allererstes wäre das Magnificat zu nennen (Lk 1,46ff.), eine wunderbare, poetische, aufschlussreiche Bibelstelle. Maria stellt sich als die Magd vor, auf deren Niedrigkeit der Herr geschaut hat, um sein Werk der Barmherzigkeit zu vollbringen, wobei sie ausdrücklich ausspricht, dass sie sich bewusst ist, dass sie nicht aufgrund von besonderen Verdiensten oder einer spezifischen Reinheit auserwählt wurde. Und das ist etwas, das in der Bibel oft vorkommt: der Herr erwählt die Außenseiter, die, auf die man am wenigsten setzen würde. Maria ist eine Jugendliche, und die Stellung der Frau in der Gesellschaft, in der Jesus geboren wurde, und leider auch in vielen Aspekten in der unseren, ist wohlbekannt. Das Magnificat sagt das Wesentliche über Maria aus: sie ist die Gläubige, die (ganz bewusst, nachdem sie zuvor Fragen gestellt hat!) akzeptiert, sich dem Herrn zur Verfügung zu stellen.

Welche weiteren Episoden sind Ihres Erachtens im Hinblick auf Maria besonders bedeutsam?

Ich denke, dass es auch jene sind, in denen das gewöhnliche Menschsein zutage tritt: auch im Lukasevangelium finden wir beispielsweise die Geschichte, wo die Eltern den zwölfjährigen Jesus suchen gingen, der sich ohne Erlaubnis entfernt hatte, wodurch sie demonstrieren, dass sie das Schicksal des eigenen Sohnes nicht verstanden haben. Bei der Hochzeit von Kana hingegen (Joh 2) erscheint Maria als eine so hartnäckige und vertrauensvolle Frau, dass es ihr gelingt, Jesus im Hinblick darauf umzustimmen, wann der geeignete Zeitpunkt sei, sich zu offenbaren. Der Sohn sagt: Meine Zeit ist noch nicht gekommen, aber durch ihre Insistenz ermöglicht es Maria, zu verstehen, dass in Gegenwart Jesu immer eine günstige Zeit für das Heil ist. Aber das Zeugnis der Evangelien bringt uns auch dazu, die Verherrlichung der Familienrollen an sich auszuschließen, mit der Neudefinition der Dimension der »Familie«, die Jesus selber vornimmt. Man denke etwa daran, als Jesus mitten in der Menschenmenge ist und jemand ihm sagt, dass seine Mutter und seine Brüder und Schwestern da seien und ihn suchten, um ihn nach Hause zu holen. Und Er antwortet: »Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? … Wer den Willen meines himmlischen Vaters tut«. Jesus definiert die Familienidentität neu, wobei er die Blutsbande an Bedeutung verlieren lässt zugunsten der Vision einer neuen Gemeinschaft, die auf anderen Strukturen und horizontalen Bindungen beruht. Schließlich begegnen wir Maria zu Füßen des Kreuzes, im tiefsten Schmerz einer Frau, die im Begriff ist, ihren Sohn auf diese grausame Art und Weise zu verlieren, und in der sehr menschlichen Liebe eines Sohnes, der seine Mutter einem anderen Sohn anvertraut. Nun, was die evangelischen Christen über Maria denken, steht an diesen Bibelstellen. Und uns scheint, dass hier alles Wesentliche vorhanden ist.

Die Protestanten glauben nicht an die Dogmen der Immerwährenden Jungfräulichkeit Marias, der Unbefleckten Empfängnis, der Aufnahme in den Himmel, sie beten kein »Gegrüßet seist Du«… Wie lautet also das Urteil über die große Marienverehrung, die den Katholizismus auszeichnet?

Was die Dogmen anbelangt, so scheint uns, dass sie keine biblische Grundlage haben und Gefahr laufen, die Bedeutung der Figur Marias zu verarmen statt zu bereichern. Wenn wir beispielsweise darauf Wert legen, dass sie ohne Erbsünde geboren sei, dann entfernt das von jenem Element des Menschlichen, das Maria so wahr erscheinen lässt und das sie uns so nahe bringt.

Sie sind eine Frau an der Spitze ihrer Kirche; finden Sie nicht, dass eine Frauenfigur wie Maria die heutigen Frauen inspirieren könnte?

Ich habe den Eindruck, dass die Aufwertung Marias zu einer Referenzfigur, bei der ihre - gar immerwährende – Jungfräulichkeit betont wird (was das Unbehagen zum Ausdruck bringt, die Existenz von Brüdern und Schwestern zu akzeptieren, wie die Bibel sagt), Gefahr läuft, den Wert der Frau mit einer Vorstellung zu verbinden, die in der Sexualität etwas Unreines und Skandalöses sieht. Paradoxerweise ist nicht gesagt, dass eine mit dieser Bedeutung aufgeladene Frauengestalt wirklich eine Inspiration ist bei den Kämpfen, in denen es darum geht, der gleichen Würde und der Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft und in den Kirchen Geltung zu verschaffen.

Aber die Gestalt der Maria hat heute auch andere Bedeutungen: so ist sie beispielsweise eine weibliche Protagonistin in einer männlichen Welt...

Sicher. In der Tat ist der Dialog mit dem Engel Gabriel bei der Verkündigung gerade auch deshalb wunderschön. Da wird eine Frauengestalt zu einer Zeit, in der das niemand je getan hätte, um ihre Zustimmung gebeten. Aber ich erinnere daran, dass die Bibel voll von außerordentlich wertvollen Frauengestalten ist, die übrigens von der Strömung der feministischen Theologie wieder ins Rampenlicht geholt werden.

Worin besteht also der spezifische Wert Marias?

Maria bringt das Maximum ihres Wertes zum Ausdruck, indem sie sich anvertraut und zum Werkzeug des Gott Möglichen wird, der in das menschlich Unmögliche einbricht. Sehen Sie, die Jungfrauengeburt steht genau dafür, ebenso wie die Tatsache, dass eine unfruchtbare Frau ein Kind zur Welt bringt. Maria ist eine Frau und eine Mutter, mit der man sich identifizieren kann. Sie ist die Menschheit, die Gott liebt, und es ist keineswegs nötig, sie mit anderen Bedeutungen aufzuladen, damit wir selbst sie lieben, schätzen und uns ihr nahe fühlen können.

Von Antonella Mariani
Journalistin der Tageszeitung »L’Avvenire«