Vatikanstadt/Asti. Mit einem feierlichen Gottesdienst in der Kathedrale von Asti hat Papst Franziskus am 20. November seine zweitägige Reise in die Region Piemont in Norditalien beendet. Bei kaltem, aber sonnigem Wetter nahmen Zehntausende in der Kathedrale und auf dem Platz und den Straßen davor an der heiligen Messe teil. In seiner auf Italienisch gehaltenen Predigt sprach der Papst einige Worte in piemontesischem Dialekt. Nach der Predigt empfing ein Seminarist vom Papst die Beauftragung zum Akolythenamt. In der Predigt sagte Franziskus:
Wir haben diesen jungen Mann namens Stefano gesehen, der darum bittet, auf seinem Weg zum Priestertum die Beauftragung zum Dienstamt des Akolythen zu erhalten. Wir müssen für ihn beten, dass er auf dem Weg seiner Berufung weiter voranschreitet und treu ist; aber wir müssen auch für die Kirche in Asti beten, dass der Herr Priesterberufungen schenkt, denn, wie ihr seht, die Mehrheit hier ist schon etwas älter, so wie ich. Wir brauchen junge Priester, wie einige hier, die sehr gut sind. Bitten wir den Herrn, er möge diese Gegend hier segnen.
Und aus dieser Gegend ist mein Vater aufgebrochen, um nach Argentinien auszuwandern, und in diese Gegend, die durch gute Bodenprodukte und vor allem durch den echten Fleiß der Leute wertvoll ist, bin ich gekommen, um den Geschmack dieser meiner Wurzeln wiederzufinden. Aber heute ist es wieder einmal das Evangelium, das uns zu den Wurzeln des Glaubens zurückführt. Sie sind im spröden Boden von Golgota zu finden, wo das Samenkorn Jesu in seinem Sterben die Hoffnung zum Keimen brachte: eingepflanzt im Herzen der Erde, hat er uns den Weg zum Himmel geöffnet; durch seinen Tod hat er uns das ewige Leben geschenkt; durch das Holz des Kreuzes hat er uns die Früchte des Heils gebracht. Schauen wir also auf ihn, schauen wir auf den Gekreuzigten.
Am Kreuz steht nur ein einziger Satz: »Das ist der König der Juden« (Lk 23,38). Das ist also der Titel: König. Wenn wir jedoch auf Jesus schauen, wird unsere Vorstellung von einem König auf den Kopf gestellt. Versuchen wir, uns einen König bildlich vorzustellen: Wir denken dann wohl an einen starken Mann, der auf einem Thron sitzt, mit kostbaren Insignien, einem Zepter in der Hand und glitzernden Ringen an den Fingern, während er feierliche Worte an seine Untertanen richtet. Das ist in etwa das Bild, das wir im Kopf haben. Aber wenn wir Jesus anschauen, sehen wir, dass er das pure Gegenteil davon ist. Er sitzt nicht auf einem bequemen Thron, sondern hängt an einem Todeswerkzeug; der Gott, der »die Mächtigen vom Thron stürzt« (vgl. Lk 1,52), wirkt als ein Knecht, der von den Mächtigen ans Kreuz gehängt wurde; nur mit Nägeln und Dornen geschmückt, von allem entblößt, aber reich an Liebe, lehrt er vom Thron des Kreuzes aus die Menge ohne Worte und ohne die Hand zu heben. Er tut mehr: Er zeigt auf niemanden mit dem Finger, sondern breitet seine Arme für alle aus. So zeigt sich unser König: mit offenen Armen, a brasa aduerte.
Nur wenn wir uns in seine Umarmung hineinbegeben, begreifen wir, dass Gott so weit gegangen ist, bis zum Paradox des Kreuzes, um wirklich alles von uns zu umarmen, auch das, was ihm am fernsten war: unseren Tod; er hat unseren Tod umarmt, unseren Schmerz, unsere Armut, unsere Zerbrechlichkeit und unser Elend. Und er hat all das umarmt. Er hat sich zum Knecht gemacht, damit sich jeder von uns als Sohn oder Tochter fühlen kann; unsere Kindschaft hat er mit seiner Knechtschaft bezahlt; er hat sich beschimpfen und verspotten lassen, damit niemand von uns in irgendeiner Demütigung mehr allein ist; er hat sich entkleiden lassen, damit sich niemand seiner Würde beraubt fühlt; er ist aufs Kreuz gestiegen, damit in jedem Gekreuzigten der Geschichte Gott gegenwärtig ist. Dies ist unser König, unser aller König, der König des Weltalls, denn er hat die äußersten Grenzen des Menschseins überschritten, er ist in die schwarzen Löcher des Hasses eingetreten, in die schwarzen Löcher der Verlassenheit, um jedes Leben zu erleuchten und alle Wirklichkeit zu umarmen. Brüder, Schwestern, das ist der König, den wir heute feiern! Es ist nicht einfach, das zu verstehen, aber er ist unser König. Und die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Ist dieser König des Weltalls der König meines Lebens? Glaube ich an ihn? Wie kann ich ihn als Herrn aller Dinge feiern, wenn er nicht auch zum Herrn meines Lebens wird? Und du, der du heute diesen Weg Richtung Pries-tertum beginnst, vergiss nicht, dass dieser dein Vorbild ist: Klammere dich nicht an Ehrungen, nein. Dieser ist dein Vorbild; wenn du nicht denkst, dass du ein Priester nach der Art dieses Königs sein kannst, solltest du es besser lassen.
Richten wir unsere Augen wieder auf den gekreuzigten Jesus. Siehst du, er betrachtet dein Leben nicht nur einen Moment lang, er wirft dir nicht nur einen flüchtigen Blick zu, wie wir es oft mit ihm tun, sondern er bleibt da, a brasa aduerte, um dir in der Stille zu sagen, dass ihm nichts an dir fremd ist, dass er dich umarmen, aufrichten und retten will, so wie du bist, mit deiner Geschichte, deinem Elend, deinen Sünden.
Aber Herr, ist das wahr? Liebst du mich so sehr – trotz meiner Armseligkeit? Jeder möge in diesem Moment einmal über seine eigene Armut nachdenken: »Liebst du mich mit dieser geistigen Armut, die ich habe, mit diesen Grenzen?« Und er lächelt und gibt uns zu verstehen, dass er uns liebt und sein Leben für uns hingegeben hat. Lasst uns ein wenig über unsere Grenzen nachdenken, auch über die guten Dinge: Er liebt uns so, wie wir sind, so wie wir jetzt sind. Er gibt uns die Möglichkeit, im Leben zu herrschen, wenn du dich seiner sanften Liebe ergibst, die sich anbietet aber nicht aufdrängt – die Liebe Gottes drängt sich niemals auf –, seiner Liebe, die dir immer verzeiht. Wir werden oft müde, den Menschen zu vergeben, und machen ein Kreuz, machen ein soziales Begräbnis. Er wird nie müde zu vergeben, niemals, niemals: immer hilft er dir wieder auf, immer gibt er dir deine königliche Würde zurück.
Ja, das Heil, woher kommt es? Es wird uns dadurch zuteil, dass wir uns von ihm lieben lassen, denn nur so werden wir von der Sklaverei unseres Egos befreit, von der Angst, allein zu sein, von dem Gedanken, es nicht zu schaffen. Brüder, Schwestern, begeben wir uns oft vor das Kreuz und lassen wir uns lieben, denn jene brasa aduerte eröffnen auch uns das Paradies, wie dem »guten Schächer«. Hören wir den einzigen Satz, den Jesus heute vom Kreuz aus sagt, als an uns gerichtet: »Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23,43). Das ist es, was Gott uns jedes Mal sagen will, uns allen, wenn wir uns von ihm anschauen lassen. Und dann begreifen wir, dass wir keinen unbekannten Gott haben, der da oben im Himmel ist, mächtig und weit weg, nein: er ist ein naher Gott, die Nähe ist die Art Gottes, die Nähe, mit Zärtlichkeit und Barmherzigkeit. Dies ist die Art Gottes, er hat keine andere Art. Nahe, barmherzig und zärtlich. Zärtlich und mitfühlend, seine offenen Arme trösten und liebkosen. Das ist unser König!
Brüder und Schwestern, was können wir tun, nachdem wir auf ihn geschaut haben? Das heutige Evangelium zeigt uns zwei Wege. Da gibt es diejenigen, die sich Jesus gegen-über als Zuschauer verhalten und diejenigen, die sich auf ihn einlassen. Die Zuschauer sind viele, sie sind in der Mehrheit. Sie schauen zu, es ist ein Spektakel, jemanden am Kreuz sterben zu sehen. Tatsächlich sagt der Text: »das Volk schaute zu« (V. 35). Das waren keine schlechten Leute, viele waren gläubig, aber beim Anblick des Kreuzes blieben sie Zuschauer: Sie machen keinen Schritt auf Jesus zu, sondern schauen ihn von weitem an, neugierig und gleichgültig, ohne sich wirklich für ihn zu interessieren, ohne sich zu fragen, was sie tun können. Sie mögen vielleicht kommentiert haben: »Aber schau dir den an…«, sie mögen Urteile und Meinungen geäußert haben: »Aber er ist unschuldig, schau ihn an so…«, einige werden geklagt haben, aber sie alle standen mit ineinandergelegten Händen, mit verschränkten Armen da. Aber auch in der Nähe des Kreuzes gibt es Zuschauer: die Anführer des Volkes, die dem blutigen Schauspiel des unrühmlichen Endes Christi beiwohnen wollen; die Soldaten, die auf ein baldiges Ende der Hinrichtung hoffen, um nach Hause gehen zu können; einer der Schächer, der seine Wut an Jesus auslässt. Sie spotten, sie beschimpfen, sie reagieren sich ab.
Und alle diese Zuschauer verbindet ein Refrain, den der Text dreimal wiederholt: »Wenn du der König bist, dann rette dich selbst« (vgl. V. 35.37.39). Sie beleidigen ihn auf diese Weise, sie fordern ihn heraus. Rette dich selbst, das ist genau das Gegenteil von dem, was Jesus tut, der nicht an sich selbst denkt, sondern daran, jene zu retten, die ihn beleidigen. Aber das rette dich selbst steckt an: von den Anführern über die Soldaten bis hin zu den Leuten erreicht die Welle des Bösen fast alle. Denken wir daran, dass das Böse ansteckend ist, dass es uns ansteckt: wie wenn wir uns eine ansteckende Krankheit einfangen, die uns sofort infiziert. Und diese Leute reden über Jesus, versetzen sich aber nicht mal für einen Augenblick in seine Lage. Sie gehen auf Distanz und reden. Das ist die tödliche Ansteckung durch Gleichgültigkeit. Eine hässliche Krankheit, die Gleichgültigkeit. »Das betrifft mich nicht, das geht mich nichts an.« Gleichgültigkeit gegenüber Jesus und Gleichgültigkeit auch gegenüber den Kranken, gegenüber den Armen, gegenüber den Notleidenden auf der Erde. Ich frage die Menschen gerne, und ich frage jeden von euch; ich weiß, dass jeder von euch den Armen Almosen gibt, und ich frage euch: »Wenn du den Armen Almosen gibst, schaust du ihnen dann in die Augen? Bist du in der Lage, dem armen Mann oder der armen Frau, die dich um ein Almosen bitten, in die Augen zu sehen? Wenn du den Armen ein Almosen gibst, wirfst du dann das Geldstück hin oder berührst du ihre Hand? Bist du fähig, ein menschliches Elend zu berühren?«
Jeder kann sich heute selbst die Antwort darauf geben. Diese Menschen waren gleichgültig. Diese Menschen reden über Jesus, aber sie lassen sich nicht auf Jesus ein. Und das ist die tödliche Ansteckung der Gleichgültigkeit: Sie schafft Distanz zwischen uns und dem Elend. Die Welle des Bösen breitet sich immer auf diese Weise aus: Sie beginnt damit, dass man Abstand hält, dass man zuschaut, ohne etwas zu tun, dass man sich nicht kümmert; dann denkt man nur an das, was einen interessiert und gewöhnt sich daran, sich abzuwenden. Und das ist auch ein Risiko für unseren Glauben, der verkümmert, wenn er Theorie bleibt, wenn er nicht in die Tat umgesetzt wird, wenn es keine Anteilnahme gibt, wenn man sich nicht persönlich hingibt und engagiert. Dann werden wir zu Rosenwasser-Christen, wie man bei mir zu Hause sagte, die behaupten, dass sie an Gott glauben und Frieden wollen, aber nicht beten und sich nicht um ihren Nächsten kümmern, und sie interessieren sich auch nicht für Gott oder den Frieden. Sie sind Christen nur den Worten nach, sie sind oberflächlich!
Das war die böse Welle, die es dort auf Golgota gab. Aber es gibt auch die heilsame Welle des Guten. Unter den vielen Schaulus-tigen nimmt einer Anteil, nämlich der »gute Schächer«. Die anderen verlachen den Herrn, doch er spricht ihn an und nennt ihn beim Namen: »Jesus«; viele schmettern ihm ihren Zorn entgegen, er bekennt Christus seine Fehler; viele sagen: »Rette dich selbst«, er bittet: »Jesus, denk an mich« (V. 42). Nur das erbittet er vom Herrn.
Dieses Gebet ist schön. Wenn jeder von uns es jeden Tag betet, ist es ein schöner Weg, der Weg zur Heiligkeit: »Jesus, denk an mich.« So wird ein Übeltäter zum ersten Heiligen: Er ist Jesus für einen Augenblick nahe und der Herr behält ihn für immer bei sich. Nun, das Evangelium erzählt von dem guten Schächer um unseretwillen, um uns einzuladen, das Böse zu überwinden, indem wir aufhören, bloße Zuschauer zu bleiben. Bitte, das ist schlimmer als Böses zu tun, die Gleichgültigkeit. Womit sollen wir anfangen? Bei der Vertrautheit, damit, Gott beim Namen zu nennen, genauso wie es der gute Schächer getan hat, der am Ende seines Lebens das mutige Vertrauen der Kinder wiedererlangt, die vertrauen, bitten, beharren. Und in der Vertrautheit gesteht er seine Fehler, er weint, aber nicht über sich selbst, sondern vor dem Herrn. Und wir, haben wir dieses Vertrauen, bringen wir das, was wir in uns tragen, zu Jesus, oder verstellen wir uns vor Gott, vielleicht mit ein wenig »Heiligkeit und Weihrauch«? Bitte keine Make-up-Spiritualität: die ist langweilig. Vor Gott nur Wasser und Seife, kein Make-up, sondern die Seele, so wie sie ist. Und von dort kommt die Erlösung. Wer sich in der Vertrautheit übt wie der gute Schächer, der lernt die Fürbitte, der lernt, das vor Gott zu bringen, was er sieht, die Leiden der Welt, die Menschen, denen er begegnet; er lernt, ihm, wie der gute Schächer, zu sagen: »Gedenke, Herr!« Wir sind nicht nur auf der Welt, um uns selbst zu retten, nein, sondern um unsere Brüder und Schwestern in die Umarmung des Königs zu bringen. Fürbitte einlegen beim Herrn, das öffnet die Pforten des Paradieses. Wie ist es mit uns? Legen wir, wenn wir beten, auch Fürsprache ein? »Gedenke, Herr, gedenke meiner, denk an meine Familie, erinnere dich an dieses Problem, gedenke, gedenke…« Die Aufmerksamkeit des Herrn wecken.
Brüder, Schwestern, heute blickt unser König vom Kreuz mit brasa aduerte auf uns herab. Es liegt an uns, ob wir Zuschauer oder Beteiligte sein wollen. Bin ich Zuschauer oder will ich beteiligt sein? Wir sehen die Krisen von heute, den Rückgang des Glaubens, die fehlende Teilnahme… Was tun wir? Theoretisieren wir nur, kritisieren wir nur, oder krempeln wir die Ärmel hoch, packen wir die Aufgaben an, vor die uns das Leben stellt, gehen wir vom »Wenn« der Ausreden zum »Ja« des Gebetes und des Diens-tes über? Wir alle glauben zu wissen, was in der Gesellschaft nicht geht, alle; wir reden jeden Tag darüber, was in der Welt und auch in der Kirche nicht geht: Vieles in der Kirche läuft nicht recht. Aber tun wir dann auch etwas? Machen wir uns die Hände schmutzig, wie unser an das Holz genagelter Gott, oder stehen wir mit den Händen in den Hosentaschen da und schauen zu? Heute, da Jesus, nackt am Kreuz, jeden Schleier von Gott wegnimmt und jedes falsche Bild von seinem Königtum zerstört, lasst uns auf ihn schauen, damit wir den Mut finden, uns selbst anzuschauen, die Wege der Vertrautheit und der Fürbitte zu gehen und zu Dienern zu werden, um mit ihm zu herrschen. »Gedenke, Herr, gedenke«: Sprechen wir häufiger dieses Gebet. Danke.