Begegnung mit den jungen Menschen in der »Sacred Heart School« in Awali

Nur die Geschwisterlichkeit wird Zukunft haben

 Nur die Geschwisterlichkeit wird Zukunft haben  TED-046
18. November 2022

Liebe Freunde,

Brüder und Schwestern,

guten Tag!

Danke, dass ihr hier seid, aus so vielen verschiedenen Nationen und mit so viel Begeis-terung! Ich möchte Schwester Rosalyn für die Grußworte danken und für das Engagement, mit dem sie zusammen mit vielen anderen diese Herz-Jesu-Schule führt.

Und ich freue mich, dass ich im König-reich Bahrain einen Ort der Begegnung und des Dialogs zwischen verschiedenen Kulturen und Glaubensbekenntnissen gesehen habe. Und wenn ich jetzt euch ansehe, die ihr nicht der gleichen Religion angehört und keine Angst vor dem Zusammensein habt, denke ich, dass ohne euch dieses Zusammenleben der Unterschiede nicht möglich wäre. Und es hätte keine Zukunft! Im Teig dieser Welt seid ihr der gute Sauerteig, der dazu bestimmt ist, zu wachsen, viele soziale und kulturelle Schranken zu überwinden und Keime der Geschwisterlichkeit und des Neuen zu fördern. Ihr jungen Menschen habt, wie rastlose Reisende, die offen für das Unerwartete sind, keine Angst davor zu debattieren, einen Dialog zu führen, »Krach zu machen« und euch unter die anderen zu mischen, um so zur Basis einer freundschaftlichen und solidarischen Gesellschaft zu werden. Und dies, liebe Freunde, ist grundlegend in den komplexen und pluralen Kontexten, in denen wir leben: bestimmte Zäune einzureißen, um eine Welt zu schaffen, die mehr dem Menschen entspricht und geschwisterlicher ist, auch wenn dies bedeutet, sich zahlreichen Herausforderungen zu stellen. Diesbezüglich möchte ich, ausgehend von euren Zeugnissen und Fragen, drei kleine Einladungen an euch aussprechen, nicht so sehr, um euch etwas zu lehren, sondern um euch zu ermutigen.

Die erste Einladung: sich die Kultur der Fürsorge zu eigen machen. Schwester Rosalyn benutzte diesen Ausdruck: »Kultur der Fürsorge«. Für etwas sorgen bedeutet, eine innere Haltung des Mitfühlens zu entwickeln, einen aufmerksamen Blick, der uns aus uns selbst herausführt, eine freundliche Präsenz, die die Gleichgültigkeit überwindet und uns dazu bringt, uns für andere zu interessieren. Das ist der Wendepunkt, der Beginn des Neuen, das Gegengift gegen eine verschlossene Welt, die, getränkt im Individualismus, ihre Kinder verschlingt; gegen eine von der Traurigkeit gefangene Welt, die Gleichgültigkeit und Einsamkeit erzeugt. Ich kann euch sagen, wie sehr der Geist der Traurigkeit schmerzt, wie sehr er schmerzt! Denn wenn wir nicht lernen, für das zu sorgen, was um uns herum ist – für die anderen, für die Stadt, für die Gesellschaft, für die Schöpfung –, enden wir damit, unser Leben wie diejenigen zu verbringen, die rennen, sich abmühen, viele Dinge tun, am Ende aber traurig und einsam bleiben, weil sie die Freude der Freundschaft und des Unentgeltlichen nie voll verkostet haben. Und sie haben der Welt nicht diese einzigartige Be-rührung des Schönen gegeben, die nur er oder sie und niemand sonst geben konnte. Als Christ denke ich an Jesus und sehe, dass sein Handeln immer von der Fürsorge geleitet war. Er hat Beziehungen zu all denen gepflegt, die er in den Häusern, in den Städten und entlang des Weges getroffen hat. Er hat den Menschen in die Augen gesehen, er hat ihnen zugehört, wenn sie um Hilfe baten, er ist ihnen nahe gekommen und hat ihre Wunden mit der Hand berührt. Ihr, seht ihr den Menschen in die Augen? Jesus ist in die Geschichte eingetreten, um uns zu sagen, dass der Allerhöchste für uns sorgt; um uns daran zu erinnern, dass auf Gottes Seite zu stehen bedeutet, jeden Tag für jemanden und für etwas zu sorgen, besonders für die Ärmsten.

Freunde, wie wunderbar ist es, sich mit Hingabe um andere zu kümmern, Beziehungs-Künstler zu werden! Aber das erfordert, wie alles im Leben, beständiges Training. Vergesst also nicht, euch zunächst um euch selbst zu sorgen: nicht so sehr um das Äußere, sondern um das Innere, um den verborgensten und wertvollsten Teil von euch. Welcher ist das? Eure Seele, euer Herz! Und wie sorgt man für das Herz? Versucht, in Stille auf es zu hören, Raum zu schaffen, um mit eurem Inneren in Kontakt zu bleiben, um das Geschenk zu spüren, das ihr seid, um euer Leben anzunehmen und es nicht aus euren Händen gleiten zu lassen. Es soll euch nicht passieren, dass ihr »Touristen des Lebens« seid, die es nur von außen, oberflächlich betrachten.

Und in der Stille, dem Rhythmus eures Herzens folgend, sprecht zu Gott. Erzählt ihm von euch selbst und auch von denen, denen ihr täglich begegnet und die er euch als Weggefährten schenkt. Bringt ihm die Gesichter, die glücklichen und die schmerzhaften Situationen, denn es gibt kein Gebet ohne Beziehungen, genauso wie es keine Freude ohne Liebe gibt.

Und die Liebe – ihr wisst das – ist keine Seifenoper oder ein romantischer Film: Zu lieben bedeutet, den Anderen im Herzen zu tragen, für den Anderen zu sorgen, die eigene Zeit und die eigenen Gaben denen zu schenken, die sie benötigen, etwas zu riskieren, um das Leben zu einem Geschenk zu machen, das weiteres Leben hervorbringt. Etwas riskieren! Freunde, vergesst eines bitte nie: Ihr seid alle – niemand ausgenommen – ein Schatz, ein einzigartiger und kostbarer Schatz. Bewahrt euer Leben also nicht in einem Tresor auf und denkt nicht, dass es besser ist, sich aufzusparen und dass der Moment der Hingabe noch nicht gekommen ist! Viele von euch sind nur vorübergehend hier, aus beruflichen Gründen und oft nur für eine begrenzte Zeit. Wenn wir jedoch mit der Mentalität des Touristen leben, lassen wir den gegenwärtigen Augenblick verstreichen und riskieren, ganze Teile des Lebens wegzuwerfen! Wie schön ist es hingegen, jetzt auf dem Weg eine gute Spur zu hinterlassen, indem wir uns um die Gemeinschaft, die Klassenkameraden, die Arbeitskollegen, die Schöpfung kümmern... Es tut uns gut, uns zu fragen: Welche Spur hinterlasse ich jetzt, hier, wo ich lebe, an dem Ort, an den mich die Vorsehung gestellt hat?

Dies ist die erste Einladung, die Kultur der Fürsorge; wenn wir sie uns zu eigen machen, helfen wir, den Samen der Geschwisterlichkeit wachsen zu lassen. Und hier ist die zweite Einladung, die ich an euch richten möchte: Geschwisterlichkeit säen. Mir hat gefallen, was du, Abdullah, gesagt hast: »Nicht nur auf dem Spielfeld ein Champion sein, sondern auch im Leben!« Champions außerhalb des Spielfeldes. Es ist wahr, seid Champions der Geschwisterlichkeit, außerhalb des Spielfeldes! Das ist die Herausforderung von heute, um morgen zu gewinnen, die Herausforderung unserer zunehmend globalisierten und multikulturellen Gesellschaften. Ihr seht, all die Instrumente und Technologien, die uns die Moderne bietet, genügen nicht, um die Welt friedlich und geschwisterlich werden zu lassen. Das erleben wir gerade: Die Stürme des Krieges beruhigen sich eben nicht durch den technischen Fortschritt. Wir stellen mit Bedauern fest, dass die Spannungen und die Bedrohungen in vielen Regionen zunehmen und sich manchmal zu Konflikten auswachsen. Aber das passiert oft, weil man nicht an seinem Herzen arbeitet, weil man zulässt, dass sich die Entfernungen zu anderen vergrößern, und so die Unterschiede ethnischer, kultureller, religiöser und sonstiger Art zu Problemen und Ängsten werden, die isolieren, statt Möglichkeiten, um gemeinsam zu wachsen. Und wenn sie stärker zu sein scheinen als die Geschwisterlichkeit, die uns verbindet, riskiert man den Konflikt.

Euch jungen Menschen, die ihr direkter seid und leichter Kontakte und Freundschaften knüpft, indem ihr Vorurteile und ideologische Zäune überwindet, möchte ich sagen: Seid Säleute der Geschwisterlichkeit und ihr werdet Erntearbeiter des Zukünftigen sein, denn die Welt wird nur in Geschwisterlichkeit Zukunft haben! Das ist eine Einladung aus der Mitte meines Glaubens. »Denn wer«, sagt die Bibel, »seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben« (1 Joh 4,20-21). Ja, Jesus bittet darum, dass wir die Liebe zu Gott niemals von der Liebe zu unserem Nächsten trennen und dass wir uns selbst zum Nächsten aller machen (vgl. Lk 10,29-37). Von allen, nicht nur von denen, die uns sympathisch sind. Als Brüder und Schwestern zu leben ist die universale Berufung, die jedem Geschöpf anvertraut ist. Und ihr jungen Menschen – vor allem ihr – seid angesichts der vorherrschenden Neigung, anderen gegenüber gleichgültig und unduldsam zu sein, ja sogar Kriege und Konflikte zu befürworten, aufgerufen, »darauf mit einem neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft zu antworten, der sich nicht auf Worte beschränkt« (Fratelli tutti, 6). Worte genügen nicht. Es bedarf konkreter Gesten, die im Alltag geübt werden.

Stellen wir uns auch hier einige Fragen: Bin ich offen für andere? Bin ich mit jemandem befreundet, der nicht in meinen Interessenkreis passt, der ein anderes Glaubensbekenntnis und andere Gewohnheiten hat als ich? Suche ich nach Begegnungen oder bleibe ich bei meinen Dingen? Weiterführend ist nur der Weg, den uns Nevin in wenigen Worten erklärt hat: »Gute Beziehungen aufbauen«, zu allen. In euch jungen Menschen ist der Wunsch wach zu reisen, neue Länder kennenzulernen und über die Grenzen der gewohnten Orte hinauszugehen. Ich möchte euch sagen: Lernt auch in eurem Inneren zu reisen, die inneren Grenzen zu weiten, damit die Vorurteile über andere fallen, sich der Raum des Misstrauens verkleinert, die Zäune der Angst niedergerissen werden und geschwisterliche Freundschaft aufkeimt! Lasst euch auch dabei vom Gebet helfen, das das Herz weitet und uns – indem es uns für die Begegnung mit Gott öffnet – zu sehen hilft, in wem wir einem Bruder und einer Schwes-ter begegnen. In diesem Zusammenhang sind die Worte eines Propheten schön, der sagt: »Hat nicht der eine Gott uns erschaffen? Warum handeln wir dann treulos, einer gegen den andern?« (Mal 2,10). Gesellschaften wie diese, mit einem bemerkenswerten Reichtum an verschiedenen Glaubensbekenntnissen, Traditionen und Sprachen, können zu »Fitnessstudios der Geschwisterlichkeit« werden. Wir stehen hier vor den Toren des großen und vielgestaltigen asiatischen Kontinents, den ein Theologe als »Kontinent der Sprachen« bezeichnet hat (A. Pieris, in Teologia in Asia, Brescia 2006, 5): Ich wünsche euch, dass ihr lernt, die vielen Sprachen in der einen Sprache, der Sprache der Liebe, zu harmonisieren, als wahre Champions der Geschwisterlichkeit!

Ich möchte euch noch eine dritte Einladung aussprechen: Sie betrifft die Herausforderung, im Leben Entscheidungen zu treffen. Ihr wisst es gut, aus der alltäglichen Erfahrung: Es gibt kein Leben ohne Herausforderungen, denen man sich stellen muss. Und immer, wenn man vor einer Herausforderung steht, wie an einer Weggabelung, muss man wählen, sich einbringen, etwas riskieren, entscheiden. Aber das erfordert eine gute Strategie: Man kann nicht improvisieren, indem man nur nach dem Instinkt oder nur im Augenblick lebt! Und wie macht man das, sich vorzubereiten, die Entscheidungsfähigkeit zu trainieren, die Kreativität, den Mut, die Durchhaltekraft? Wie kann man lernen, den inneren Blick zu schärfen, Situationen zu beurteilen und das Wesentliche zu erfassen? Es geht darum, in der Fertigkeit zu wachsen, sich beim Entscheiden zu orientieren und die richtige Richtung einzuschlagen. Deshalb lautet die dritte Einladung, im Leben Entscheidungen zu treffen, und zwar richtige Entscheidungen.

All das kam mir in den Sinn, als ich über Merinas Fragen nachdachte. Es sind Fragen, die genau das Bedürfnis ausdrücken, die Richtung zu verstehen, die man im Leben einschlagen soll – sie ist mutig, so wie sie die Dinge gesagt hat! Und ich kann euch meine Erfahrung erzählen: Ich war ein Jugendlicher wie ihr, wie jeder, und mein Leben war das normale Leben eines jungen Menschen. Die Jugend – das wissen wir – ist ein Weg, eine Phase des Wachstums, eine Zeit, in der wir dem Leben mit seinen manchmal widersprüchlichen Aspekten begegnen und uns zum ersten Mal bestimmten Herausforderungen stellen. Nun, was ist mein Rat? Ohne Angst weitergehen, und niemals allein! Zwei Dinge: Ohne Angst weitergehen und niemals allein. Gott lässt euch nicht allein, bevor er euch aber die Hand reicht, wartet er darauf, dass ihr ihn darum bittet. Er begleitet uns und führt uns. Nicht mit Wundern, sondern indem er sanft durch unsere Gedanken und Gefühle zu uns spricht; und auch durch unsere Lehrer, unsere Freunde, unsere Eltern und alle Menschen, die uns helfen wollen.

Man muss also lernen, seine Stimme zu unterscheiden, die Stimme Gottes, der zu uns spricht. Und wie lernen wir dies? Wie du es uns gesagt hast, Merina: durch das stille Gebet, durch die vertraute Zwiesprache mit ihm und indem wir in unserem Herzen bewahren, was uns guttut und uns Frieden gibt. Der Friede ist ein Zeichen der Gegenwart Gottes. Dieses Licht Gottes erhellt das Labyrinth der Gedanken, Emotionen und Empfindungen, in dem wir uns oft bewegen. Der Herr möchte eure Intelligenz, eure innersten Gedanken, die Wünsche, die ihr in eurem Herzen tragt, die Urteile, die in euch reifen, erhellen. Er will euch helfen, das Wesentliche vom Überflüssigen zu unterscheiden, das Gute von dem, was euch und anderen schadet, das Gerechte von dem, was Ungerechtigkeit und Unordnung erzeugt. Nichts ist Gott fremd von dem, was in uns geschieht, nichts, aber oft sind wir es, die sich von ihm entfremden, die ihm Personen und Situationen nicht anvertrauen, die sich in Angst und Scham verschließen. Nein, lasst uns im Gebet die tröstende Gewissheit nähren, dass der Herr über uns wacht, dass er nicht einschläft, sondern uns immer ansieht und beschützt.

Liebe Freunde, liebe junge Menschen, das Abenteuer der Entscheidungen sollte nicht allein bestritten werden. Lasst mich euch deshalb noch eine letzte Sache sagen: Sucht euch immer, noch vor den Ratschlägen im Internet, gute Ratgeber im Leben, weise und vertrauenswürdige Personen, die euch Orientierung und Hilfestellung geben können. Dies zuerst. Ich denke dabei an die Eltern und die Lehrer, aber auch an die älteren Menschen, an die Großeltern und an einen guten geistlichen Begleiter. Ein jeder von uns braucht eine Begleitung auf dem Weg des Lebens! Ich wiederhole, was ich euch gesagt habe: Niemals allein! Wir brauchen auf dem Weg des Lebens Begleitung.

Liebe Jugendliche, wir brauchen euch, eure Kreativität, eure Träume und euren Mut, eure Sympathie und euer Lächeln, eure ansteckende Freude und auch jene Prise Verrücktheit, die ihr in jede Situation einzubringen wisst und die hilft, aus der Eintönigkeit der Gewohnheiten und der sich wiederholenden Muster auszubrechen, in die wir das Leben manchmal stecken. Als Papst möchte ich euch sagen: Die Kirche ist bei euch und braucht euch sehr, jeden Einzelnen von euch, um sich zu verjüngen, um neue Wege zu erkunden, um neue Sprachen auszuprobieren, um fröhlicher und gastfreundlicher zu werden. Verliert nie den Mut, groß zu träumen und zu leben!

Macht euch die Kultur der Fürsorge zu eigen und verbreitet sie; werdet Champions der Geschwisterlichkeit; stellt euch den Herausforderungen des Lebens, indem ihr euch von Gottes treuer Kreativität sowie guten Ratgebern leiten lasst. Und zu guter Letzt: Denkt in euren Gebeten an mich. Ich werde für euch das Gleiche tun und euch in meinem Herzen tragen. Danke!

God be with you! Allah ma’akum! [Gott sei mit euch!]