Eine Ordensfrau im Dienst an den Flüchtlingen

Schwester Veera für viele, »Mama« für die Migranten

 Schwester Veera für viele, »Mama« für die Migranten  TED-045
11. November 2022

Im August 2019 habe ich zwei Wochen mit Sr. Veera Bara im sizilianischen Caltanissetta verbracht. Wenn wir durch die Straßen gingen, riefen ihr die Migranten schon von Weitem zu, und als wir uns näherten, nannten sie sie bei der Begrüßung liebevoll »Mama«.

Sr. Veera Bara, eine Barmherzige Schwes-ter vom Heiligen Kreuz (Ingenbohler Schwes-ter), hat 2015 damit angefangen, hier mit Migranten zu arbeiten. Sie bringt ihnen Italienisch bei, hilft ihnen, die erforderlichen Dokumente und im Krankheitsfall medizinische Versorgung zu bekommen. Die Migranten kennen ihren eigentlichen Namen nicht; für sie ist Sr. Veera einfach »Mama«.

Als ich sie fragte, wo sie den Mut gefunden habe, sich der Herausforderung zu stellen, die diese Aufgabe darstelle, sagte Sr. Veera: »Das Motto unserer Gründers P. Theodosius Florentini lautet: ›Was Bedürfnis der Zeit ist, ist der Wille Gottes‹. Das hilft mir, die religiösen und kulturellen Barrieren zu überwinden, es gibt mir den Mut, weiterzumachen und den anderen zu helfen. Die selige Mutter Maria Theresia Scherer, die
Mitgründerin unserer Ordensgemeinschaft, pflegte zu sagen: ›Mit dem Herrn und für den Herrn ist alles möglich.‹«

Sr. Veera wurde am 13. Juli 1957 in Neematoli, Farsabahar, im indischen Bundesstaat Chhattisgarh geboren. Sie hat zwei ältere Brüder und eine Schwester. Nur sechs Monate nach ihrer Geburt starb ihr Vater. Die Familie pflegte sich zuhause zum Abendgebet zu versammeln, und Veera nahm an den Solidaritätsaktionen der Jugendgruppe teil. Manchmal leitete sie die Gebete und Gesänge im Dorf. Nachdem so die Samen des religiösen Lebens ausgesät worden waren und sie eine von den Schwestern vom Heiligen Kreuz geführte Schule besuchte hatte, trat sie 1978 in diese Kongregation ein und legte am 8. Dezember 1982 ihre ersten Gelübde ab.

Sr. Veera nimmt das Angebot an, als Missionarin nach Uganda zu gehen und bricht im Oktober 1993 zusammen mit drei Mitschwestern auf, um ihre neue Aufgabe anzutreten. Die Anpassung an die neue Umgebung, die neue Sprache, Kultur und Bevölkerung war eine Herausforderung. »All das hat mich gelehrt, geduldiger, mutiger zu sein, einen missionarischen Geist zu haben«, so erzählt sie. Der freundliche Empfang, die Unterstützung und die Liebe, die sie seitens der Mitschwestern, der Menschen vor Ort und ihrer Oberen erhielt, haben ihr in ihren 22 Jahren in Uganda bei der Ausübung ihrer verschiedenen Aufgaben als Pastoral- und Sozialarbeiterin, als Beraterin sowie bei der Förderung von Berufungen, als Ausbilderin, Oberin und Ratgeberin geholfen.

Im Jahr 2015 wartet eine neue Aufgabe auf Sr. Veera: Sie wird nach Sizilien geschickt, in eine aus verschiedenen Kongregationen bestehende internationale Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft war auf Bitte von Papst Franziskus gegründet worden, der 2013 auf Lampedusa den Schrei der Migranten gehört hatte. Der Papst drückte damals den Wunsch aus, dass die Ordensfrauen der Internationalen Vereinigung von Generaloberinnen (UISG) zusammen unter den Migranten arbeiten sollten. Und so beschließen bei der Gelegenheit des 50-jährigen Bestehens der UISG im Jahr 2015 die Generaloberinnen, in Sizilien zwei Zentren zu eröffnen, um den Flüchtlingen zu helfen. Ordensfrauen unterschiedlicher Kongregationen werden eingeladen, eine Gemeinschaft zu bilden und dort zusammen zu arbeiten. Die Wahl fällt auf zehn Schwestern aus neun Ländern und aus acht verschiedenen Instituten. Zusammen mit neun weiteren Schwestern kommt Sr. Veera im September 2015 in Rom an, um eine Grundausbildung in Italienisch zu absolvieren. Am 2. Dezember, nach der Generalaudienz, empfängt die Gruppe zum Start ihrer neuen Aufgabe in Sizilien den Segen von Papst Franziskus.

Wieder einmal ist alles neu – der Ort, die Frage, womit anfangen, unbekannte Herausforderungen… Von dem Charisma und dem Motto ihrer Kongregation motiviert, fängt
Sr. Veera Schritt für Schritt an. Sie wird gebeten, 20 nigerianische Frauen, die dort in einem Kloster untergebracht sind, zu betreuen. Diese Erfahrung bringt ihr viel über den Menschenhandel bei. Diese jungen, aber körperlich, geistig und seelisch kaputten Frauen brauchen jemanden, der ihnen zuhört, sie versteht und sie liebt so wie sie sind.

Im Oktober 2016 zieht Sr. Vera nach Caltanissetta. Sie ist schockiert, als sie rund 170 muslimische Flüchtlinge sieht, die im Freien unter aus Strauchwerk errichteten Unterständen hausen – ohne Wasser, Nahrung, Medizin, mit dem absoluten Minimum an Kleidung und mangelnder Hygiene. Deren dringender Bedarf an Basisgütern lässt sie ihre eigenen kleinen Probleme vergessen. Die Präsenz der Schwestern wiederum erinnert die Migranten daran, dass Allah bei ihnen ist, und die Hoffnung beginnt in ihren gebrochenen Herzen wieder zu sprießen. Ihr Vertrauen, der Respekt, das Interesse und die Liebe, die sie ihr entgegenbringen, befreien Sr. Veera von den Befürchtungen, die sie gehegt hatte, bevor sie ihnen begegnet war: auf der Straße, in den Flüchtlingslagern, in den Krankenhäusern, in den Familien, in den Kirchen. Im April 2017 stellt sie sich einer weiteren Herausforderung: sie fängt an, den Migranten Italienisch beizubringen. Zu ihrer eigenen Überraschung füllt sich ihr Klassenzimmer innerhalb weniger Tage mit 25 bis 30 Jugendlichen, die ihre Art zu unterrichten zu schätzen wissen.

Sr. Veera wurde auch zur Vermittlerin zwischen den Migranten und Religionsvertretern, Ärzten, Anwälten, der Polizei und den Schulbehörden in Caltanissetta. Bei alledem wird auch das Wirklichkeit, was ihr verstorbener Bruder ihr vorhergesagt hatte: »Du hast deine Familie verlassen, aber du wirst viele andere Zuhause und viele Menschen finden, die dich lieben. Wohin auch immer du gehst, wirst du eine Familie, wirst du Brüder und Schwestern finden.« Sr. Veera fängt an, sich als Mitglied der Migrantenfamilien zu fühlen, sie teilt ihre Armut und ihre Mühen.

»Ich freue mich«, sagte Sr. Veera zu mir, »wenn die Familien der Migranten mich als eine der ihren betrachten und mich Anteil an ihren Freuden und Sorgen haben lassen. Die Kinder, Kinder der pakistanischen und afrikanischen Migranten, die jungen Männer und Frauen, sie alle nennen mich ›Mama‹«.

Nach fünfjährigem Dienst unter den Flüchtlingen in Sizilien ist Sr. Veera nach Uganda zurückgekehrt und setzt ihre Mission dort fort.

#sistersproject

Von Sr. Margaret Sunita Minj