Audienz für die Teilnehmer an der Tagung »Heiligkeit heute«, veranstaltet vom Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse

Heilige stammen nicht aus einer Parallelwelt, sondern aus dem Volk Gottes

 Heilige stammen nicht aus einer Parallelwelt,  sondern aus dem Volk Gottes  TED-041
14. Oktober 2022

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag!

Es ist mir eine Freude, am Ende der vom Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse veranstalteten Tagung »Heiligkeit heute« mit euch zusammenzutreffen. Mein Gruß und mein Dank gehen an Kardinal Marcello Semeraro, die anderen Oberen, die Beamten, Postulatoren und Mitarbeiter. Ich begrüße euch alle, die ihr aus verschiedenen Teilen der Welt kommt und an diesen Tagen des Studiums und der Reflexion teilgenommen habt, unterstützt durch den Beitrag guter Referenten, Experten aus Theologie, Wissenschaft, Kultur und Medien.

Das für die Tagung gewählte Thema steht im Einklang mit dem Apostolischen Schreiben Gaudete et exsultate, das darauf abzielt, »den Ruf zur Heiligkeit einmal mehr zum Klingen zu bringen und zu versuchen, ihn im gegenwärtigen Kontext mit seinen Risiken, Herausforderungen und Chancen Gestalt annehmen zu lassen« (Nr. 2). Diese Berufung steht im Mittelpunkt des Zweiten Vatikanischen Konzils, das ein ganzes Kapitel von Lumen gentium der universalen Berufung zur Heiligkeit widmet und wo es heißt: »Alle Christgläubigen in allen Verhältnissen und in jedem Stand sind je auf ihrem Wege vom Herrn berufen zu der Vollkommenheit in Heiligkeit, in der der Vater selbst vollkommen ist« (Nr. 11). Auch heute ist es wichtig, die Heiligkeit im heiligen Volk Gottes zu entdecken: bei den Eltern, die mit Liebe ihre Kinder großziehen; bei den Männern und Frauen, die engagiert ihre tägliche Arbeit tun; bei den Menschen, die eine Krankheit zu ertragen haben; bei den alten Menschen, die trotz allem lächeln und Weisheit vermitteln. Das Zeugnis eines tugendhaften christlichen Verhaltens, das von so vielen Jüngern und Jüngerinnen des Herrn im Heute gelebt wird, ist für uns alle eine Aufforderung, persönlich auf den Ruf zur Heiligkeit zu antworten. Es sind die Heiligen »von nebenan«, die wir alle kennen.

Neben oder besser gesagt inmitten dieser Schar von Gläubigen, die ich »die Heiligen von nebenan« (Gaudete et exsultate, 7) genannt habe, gibt es diejenigen, auf die die Kirche als Vorbilder, Fürsprecher und Lehrmeister hinweist. Es handelt sich um die selig- und heiliggesprochenen Männer und Frauen, die alle daran erinnern, dass es möglich und schön ist, das Evangelium in Fülle zu leben. Denn Heiligkeit ist kein aus Anstrengung und Verzicht bestehendes Programm, sie ist keine »geistliche Gymnastik«, nein, sie ist etwas anderes. Sie ist vor allem die Erfahrung, von Gott geliebt zu sein, seine Liebe, seine Barmherzigkeit zu empfangen, ohne Gegenleistung. Dieses göttliche Geschenk öffnet uns für die Dankbarkeit und erlaubt es uns, die Erfahrung einer großen Freude zu machen, die weder ein kurzes Gefühl noch rein menschlicher Optimismus ist, sondern vielmehr die Gewissheit, sich allem stellen zu können mit der Gnade und der Kühnheit, die von Gott kommen.

Ohne diese Freude reduziert sich der Glaube auf eine bedrückende und traurige Übung; aber man wird nicht heilig, wenn man ein »langes Gesicht« macht: ein freudiges und für die Hoffnung offenes Herz ist notwendig. Und für diese Heiligkeit voller Humor ist der neue Selige, Johannes Paul I., ein Beispiel für uns. Für die Kinder und Jugendlichen ist auch der selige Carlo Acutis ein Vorbild christlicher Freude. Und in ihrer dem Evangelium entsprechenden Paradoxie erbaut uns auch die »vollkommene Freude« des heiligen Franz von Assisi.

Heiligkeit erwächst aus dem konkreten Leben der christlichen Gemeinschaften. Die Heiligen stammen nicht aus einer »Parallelwelt«; es sind Glaubende, die zum gläubigen Volk Gottes gehören und im alltäglichen Leben stehen, das aus Familie, Studium, Arbeit, sozialem, wirtschaftlichem und politischem Leben besteht. In jedem dieser Kontexte bewegt sich und handelt der oder die Heilige ohne Angst oder Abschottung und erfüllt in jeder Situation den Willen Gottes. Es ist wichtig, dass jede Teilkirche aufmerksam die Beispiele christlichen Lebens wahrnimmt und wertschätzt, die im Volk Gottes heranreifen, das von jeher einen besonderen »Spürsinn« hat, um diese Vorbilder der Heiligkeit, diese außerordentlichen Zeugen des Evangeliums zu erkennen. Es ist daher notwendig, den Konsens der Menschen im Hinblick auf diese christlich vorbildlichen Persönlichkeiten gebührend zu berücksichtigen. Denn die Gläubigen sind durch die göttliche Gnade mit einer unbestreitbaren geistlichen Wahrnehmung ausgestattet, um in der konkreten Existenz bestimmter Getaufter die heroische Ausübung christlicher Tugenden zu erkennen und zu würdigen. Die fama sanctitatis kommt nicht in erster Linie von der Hierarchie, sondern von den Gläubigen. Das Volk Gottes in seinen verschiedenen Teilen ist der Protagonist der fama sanctitatis, das heißt der übereinstimmenden und unter den Gläubigen verbreiteten Meinung hinsichtlich der Integrität des Lebens einer Person, die als Zeuge oder Zeugin für Christus und die Seligpreisungen des Evangeliums wahrgenommen wird.

Doch ist es notwendig zu prüfen, ob dieser Ruf der Heiligkeit spontan, beständig, dauerhaft und in einem bedeutsamen Teil der christlichen Gemeinschaft verbreitet ist. Denn er ist echt, wenn er den Veränderungen in der Zeit, den aktuellen Moden standhält und stets heilbringende Wirkungen für alle hat, wie wir es in der Volksfrömmigkeit feststellen können.

Heutzutage kann der richtige Zugang zu den Kommunikationsmitteln die Kenntnis über das dem Evangelium entsprechende Leben eines »Kandidaten für die Selig- oder Heiligsprechung« begünstigen. Dennoch besteht beim Gebrauch der digitalen Medien, insbesondere der sozialen Netzwerke, das Risiko von Forcierungen oder Mystifizierungen aus wenig edlen Motiven. Daher ist eine weise und hellsichtige Unterscheidungsgabe von Seiten all derer gefordert, die sich mit der Beschaffenheit des Rufes der Heiligkeit beschäftigen. Darüber hinaus ist die fama signorum stets ein Element, das die fama sanctitatis oder die fama martirii bestätigt. Wenn die Gläubigen von der Heiligkeit eines Christen überzeugt sind, dann vertrauen sie sich – auch zahlreich und leidenschaftlich – seiner himmlischen Fürsprache an; die Erhörung des Gebets durch Gott stellt eine Bestätigung dieser Überzeugung dar.

Liebe Brüder und Schwestern, die Heiligen sind kostbare Perlen; sie sind immer lebendig und aktuell, verlieren nie an Wert, weil sie ein faszinierender Kommentar zum Evangelium sind. Ihr Leben ist wie eine Katechese in Bildern, die Illustration der Frohen Botschaft, die Jesus der Menschheit gebracht hat: dass Gott unser Vater ist und alle liebt mit unermesslicher Liebe und unendlicher Zärtlichkeit. Der heilige Bernhard pflegte zu sagen, dass er beim Gedanken an die Heiligen spürte, wie ihn »große, brennende Sehnsucht« erfüllte (Disc. 2; Opera Omnia Cisterc. 5, 364ff). Möge ihr Beispiel den Geist der Frauen und Männer unserer Zeit erleuchten, indem es den Glauben belebt, die Hoffnung weckt und die Liebe entzündet, damit jeder sich von der Schönheit des Evangeliums angezogen fühlt und sich niemand im Nebel der Sinnlosigkeit und der Verzweiflung verirrt.

Ich möchte nicht schließen, ohne auf eine Dimension der Heiligkeit hinzuweisen, der ich in Gaudete und exsultate ein kurzes Kapitel gewidmet habe: den Sinn für Humor. Jemand hat gesagt: »Ein Heiliger, der traurig ist, ist ein trauriger Heiliger.« Sich des Lebens erfreuen mit einem Sinn für Humor, denn das Leben von der Seite zu nehmen, die zum Lachen bringt, macht die Seele leichter. Und es gibt ein Gebet, das ich euch zu beten empfehle – ich bete es seit über 40 Jahren jeden Tag –, das Gebet des heiligen Thomas Morus: Es ist kurios, er bittet um etwas für die Heiligkeit, aber er beginnt mit den Worten: »Schenke mir eine gute Verdauung, Herr, und auch etwas zum Verdauen.« Er richtet sich auf das Konkrete, aber gerade von dort nimmt er den Humor. Das Gebet findet sich in der Anmerkung 101 von Gaudete et exsultate, dort ist das Gebet, damit ihr es beten könnt.

Ich hoffe, dass die Erkenntnisse und Anregungen eurer Tagung der Kirche und der Gesellschaft helfen können, die Zeichen der Heiligkeit wahrzunehmen, die der Herr ohne Unterlass weckt, zuweilen auch auf den seltsamsten Wegen. Ich danke euch für eure Arbeit! Ich vertraue sie der mütterlichen Fürsprache Marias an, der Königin aller Heiligen, und segne euch von Herzen. Und dann hat euch bereits Kardinal Semeraro damit beauftragt, für mich zu beten. Deshalb sage ich es nicht, er hat es gesagt! Danke.

(Orig. ital. in O.R. 6.10.2022)