Die Getreideähre im Schnee

Migrants walk toward a camp on the Turkish side of the Turkey-Greece border near the Pazarkule ...
18. Oktober 2022

Wir sollten über die 92 sprechen. Über die 92 Menschen, denn es geht hier um Menschen, die gestern an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland entdeckt wurden. Sie sind alle Männer, und sie sind am Leben. Aber als sie entdeckt wurden, waren sie nackt und sichtlich verwundet, nachdem sie den Fluss Evros durchquert hatten, die natürliche Grenze zwischen diesen beiden Ländern. Den griechischen Behörden zufolge sind sie die Opfer schwerer Misshandlungen, sie wurden entwürdigenden Behandlungen unterzogen. Wir sollten bei unserer Arbeit der »unablässigen Versorgung mit Nachrichten« innehalten und diesen Menschen auf unseren Titelseiten Platz gewähren.

Tatsächlich sollten wir nicht von den »92« reden, sondern von jedem einzelnen von ihnen. Sie sind Männer afghanischer und syrischer Herkunft, aber abgesehen von dem, was uns ihre Wunden und ihre Nacktheit erzählen, wissen wir sonst rein gar nichts über sie. Sie sind eine Art »lebender Grabtücher«. Wer sind sie wirklich? Zunächst einmal: wie heißen sie? Wo sind ihre Familien, ihre Wohnungen, ihre Freunde, ihre Besitztümer? Wie leben sie, welcher Arbeit gehen sie nach, was machen sie, wenn sie nicht arbeiten, womit verbringen sie gerne ihre Freizeit? Fragen, die sich schrill, unangemessen, vielleicht auch naiv anhören, die wir uns aber stellen müssen, während wir ihnen in die Augen schauen und sie um Verzeihung bitten. Während wir ihnen ins Gesicht sehen und sie mit ihrem Namen ansprechen. Wer kann das tun? Wir kennen die Antwort: wir alle, ein jeder von uns könnte das tun, wenn er denn nur wollte. Aber gerade das ist der Punkt: was wollen wir wirklich? Vielleicht ist es ja vorzuziehen, weiterhin benommen zu sein von den wie Maschinengewehrgarben eintrudelnden Nachrichten und von der verwirrten Vagheit der Zahlen: 92. Eine Nachricht, die Seite an Seite mit anderen Nachrichten mit anderen Zahlen steht; keine Gesichter, keine Namen, keine Geschichten. Und keinerlei Kontakt, keine Nähe.

Die 92 nackten und verletzten Männer sind unbequem. Tatsächlich ist es, was wohl unvermeidlich war, zwischen Griechenland und der Türkei zu starken diplomatischen Spannungen mit wechselseitigen Vorwürfen gekommen.

Da kommt jener vor zehn Jahren erschienene Kurzroman des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare, La provocation, in den Sinn, in dem eines morgens an einem unbestimmten Ort mitten in Europa zwischen zwei verschneiten Schützengräben eine verwundete Frau auf einer Tragbahre gefunden wird. Vielleicht ein leichtes Mädchen, das in Wirklichkeit »niemandem« gehört und einfach daliegt, mitten zwischen zwei kriegführenden Heeren, die in Verlegenheit gebracht werden durch diese auf einem Schlachtfeld noch nie erlebte Situation. »›Wir können sie nicht sterben lassen‹, sagte der Arzt. ›Wenn sie einige Stunden im Freien bleibt, wird sie erfrieren.‹ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich brachte es nicht fertig, die Augen von dieser Tragbahre mitten im Schnee abzuwenden, mit der Decke, die in der Mitte etwas angehoben war, gerade da, wo sich die Knie dieser Frau befanden, und ich dachte, der Arzt habe recht. Es war wahrlich ein unglaubliches Spektakel. Der menschliche Geist hätte sich keine größere Einsamkeit als diese vorstellen können. ›Sie da zu lassen… das ist unmenschlich‹, fuhr der Arzt fort. ›Nun‹, sagte ich und drehte mich brüsk zu ihm um, ›was für eine Menschlichkeit suchst du hier? Das hier ist ein Grenzbereich, in dem Unzuverlässigkeit und Tod herrschen, und du suchst die Menschlichkeit. Deine Menschlichkeit ist eine allzu schwere Last für meine Schultern. Du suchst die Getreideähre im Schnee‹, schrie ich und zeigte, ohne selbst zu wissen, warum, mit der Hand auf die Tragbahre, die da mitten im Schnee stand. Der Arzt sah verzweifelt aus. ›Trotzdem‹, sagte er nach einer Weile mit leiser Stimme, ›es ist unmenschlich‹«.

Die Provokation ist da, sie ist heftig, und sie hat das bislang unbekannte Gesicht von 92 Männern mitten zwischen zwei Schützengräben entlang der Grenzlinie, die durch unser Gewissen verläuft, jene Grenze, die das Menschliche vom Unmenschlichen trennt.

Von Andrea Monda