Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Wir behandeln weiter das Thema der Unterscheidung der Geister. Beim letzten Mal haben wir als ihr unverzichtbares Element das Gebet betrachtet, verstanden als innige Vertrautheit mit Gott. Gebet, nicht wie die Papageien, sondern als innige Vertrautheit mit Gott; Gebet der Kinder zum Vater; Gebet mit offenem Herzen. Das haben wir in der letzten Katechese gesehen. Heute möchte ich, gleichsam ergänzend, hervorheben, dass eine gute Unterscheidung auch Selbsterkenntnis verlangt. Sich selbst erkennen. Und das ist nicht leicht. Denn die Unterscheidung bezieht unsere menschlichen Fähigkeiten ein: die Erinnerung, den Verstand, den Willen, die Gefühle. Oft können wir nicht unterscheiden, weil wir uns selbst nicht genug kennen, und so wissen wir nicht, was wir wirklich wollen. Ihr habt oft gehört: »Warum bringt diese Person ihr Leben nicht in Ordnung? Sie hat nie gewusst, was sie will…« Ohne zu diesem Extrem zu gelangen – auch uns selbst geschieht es, dass wir nicht gut wissen, was wir wollen, dass wir uns nicht gut kennen.
Wachstum im Gebet
An der Wurzel von geistlichen Zweifeln und Berufungskrisen steht nicht selten ein nicht ausreichender Dialog zwischen dem geistlichen Leben und unserer menschlichen, kog-nitiven und affektiven Dimension. Ein Autor im Bereich der Spiritualität sagte, dass viele Schwierigkeiten bei der Unterscheidung der Geister auf Probleme anderer Art verweisen, die erkannt und erforscht werden müssen. Dieser Autor schreibt: »Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass das größte Hindernis für die wahre Unterscheidung der Geister (und für ein wahres Wachstum im Gebet) nicht das unberührbare Wesen Gottes ist, sondern die Tatsache, dass wir uns selbst nicht genügend kennen und uns nicht einmal so kennen wollen, wie wir wirklich sind. Fast alle verstecken wir uns hinter einer Maske, nicht nur vor den anderen, sondern auch dann, wenn wir in den Spiegel schauen« (Th. Green, Il grano e la zizzania, Rom 1992, 25 [engl. Original: Weeds among the Wheat, Notre Dame (Indiana) 1985]). Wir alle sind in Versuchung, auch vor uns selbst eine Maske zu tragen.
Die Gegenwart Gottes in unserem Leben zu vergessen, geht einher mit der Unkenntnis über uns selbst – Gott nicht zu kennen bedeutet, uns selbst nicht zu kennen –, Unkenntnis darüber, wie unsere Persönlichkeit beschaffen ist, und über unsere tiefsten Wünsche.
Selbsterkenntnis ist nicht schwer, aber mühsam: Man muss das eigene Innere geduldig erforschen. Sie erfordert die Fähigkeit, innezuhalten, den »inneren Autopiloten abschalten«, um Bewusstsein zu erlangen über unser Handeln, über die Empfindungen, die uns innewohnen, über immer wiederkehrende Gedanken, die uns beeinflussen, oft ohne unser Wissen. Sie erfordert auch, zwischen Gefühlen und geistlichen Fähigkeiten zu unterscheiden. »Ich fühle« ist nicht dasselbe wie »ich bin überzeugt«; »ich fühle mich danach« ist nicht dasselbe wie: »ich will«. So gelangt man zu der Erkenntnis, dass der Blick, den wir auf uns selbst und auf die Wirklichkeit richten, manchmal etwas verzerrt ist. Sich dessen bewusst zu werden, ist eine Gnade! Denn oft kann es vorkommen, dass falsche Überzeugungen über die Wirklichkeit, die auf den Erfahrungen der Vergangenheit gründen, uns stark beeinflussen und unsere Freiheit, uns für das einzusetzen, was in unserem Leben wirklich zählt, einschränken.
Da wir im digitalen Zeitalter leben, wissen wir, wie wichtig es ist, die Passwörter zu kennen, um in die Programme eintreten zu können, wo sich sehr persönliche und wertvolle Informationen befinden. Aber auch das geistliche Leben hat seine »Passwörter«: Es gibt Worte, die das Herz berühren, weil sie darauf verweisen, wofür wir empfänglich sind. Der Versucher, also der Teufel, kennt diese Schlüsselworte gut, und es ist wichtig, dass auch wir sie kennen, um uns nicht dort zu befinden, wo wir nicht sein möchten. Die Versuchung suggeriert uns nicht unbedingt schlechte Dinge, aber oft ungeordnete Dinge, die mit übermäßiger Wichtigkeit vor Augen geführt werden. Auf diese Weise hypnotisiert sie uns mit der Anziehungskraft, die diese Dinge auf uns ausüben: schöne, aber illusorische Dinge, die nicht halten können, was sie versprechen, und bei uns letztlich ein Gefühl der Leere und der Traurigkeit hinterlassen.
Tägliche Gewissensforschung
Dieses Gefühl der Leere und der Traurigkeit ist ein Zeichen dafür, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der nicht richtig war, der uns irregeleitet hat. Es können zum Beispiel ein akademischer Titel, die Karriere, Beziehungen sein: alles an sich lobenswerte Dinge, in die wir jedoch, wenn wir nicht frei sind, unrealistische Erwartungen legen, wie zum Beispiel die Bestätigung unseres Wertes. Wenn du zum Beispiel an ein Studium denkst, das du machst, geht es dir dabei nur darum, dich selbst voranzubringen, für deine eigenen Interessen, oder auch darum, der Gemeinschaft zu dienen? Dort kann man die Absicht eines jeden von uns erkennen. Diesem Missverständnis entspringen oft größte Leiden, denn keines jener Dinge kann die Garantie für unsere Würde sein.
Darum, liebe Brüder und Schwestern, ist es wichtig, sich selbst zu erkennen, das Pass-wort unseres Herzens zu kennen, das, wofür wir empfänglich sind, um uns vor dem zu schützen, der mit schmeichelnden Worten auftritt, um uns zu manipulieren – aber auch um zu erkennen, was für uns wirklich wichtig ist und es von vorübergehenden Mode-erscheinungen oder von auffälligen und oberflächlichen Slogans zu unterscheiden. Oft berührt das, was in einem Fernsehprogramm, in irgendeiner Werbung gesagt wird, unser Herz und lässt uns ohne Freiheit in jene Richtung gehen. Gebt darauf acht: Bin ich frei, oder überlasse ich mich den Empfindungen des Augenblicks oder den Anreizen des Augenblicks?
Eine Hilfe dabei ist die Gewissenserforschung, aber ich spreche nicht von der Gewissenserforschung, die wir alle machen, wenn wir zur Beichte gehen, nein. Diese ist: »Ich habe in dieser oder jener Sache gesündigt…« Nein. Allgemeine Gewissenserforschung des Tages: Was ist an diesem Tag in meinem Herzen geschehen? »Viele Dinge sind passiert…« Welche? Warum? Welche Spuren haben sie im Herzen hinterlassen? Das Gewissen erforschen, also die gute Gewohnheit, in Ruhe noch einmal über das nachzudenken, was in unserem Tageslauf geschieht und lernen, in den Bewertungen und Entscheidungen zu erkennen, was uns wichtig ist, wonach wir suchen und warum, und was wir am Ende gefunden haben. Vor allem, indem wir lernen zu erkennen, was mein Herz erfüllt. Denn nur der Herr kann uns die Bestätigung geben, wie viel wir wert sind. Er sagt es uns jeden Tag vom Kreuz herab: Er ist für uns gestorben, um uns zu zeigen, wie kostbar wir in seinen Augen sind. Es gibt kein Hindernis oder Scheitern, die seine zärtliche Umarmung verhindern können. Die Gewissenserforschung hilft sehr, denn so sehen wir, dass unser Herz kein Weg ist, wo alles Mögliche geschieht, ohne dass wir es wissen. Nein. Schauen: Was ist heute passiert? Was ist geschehen? Was hat mich reagieren lassen? Was hat mich traurig gemacht? Worüber habe ich mich gefreut? Was war schlimm, und ob ich anderen wehgetan habe. Es geht darum, den Weg dessen zu erkennen, was mein Herz über den Tag gefühlt, was es angezogen hat. Vergesst das nicht! Neulich haben wir über das Gebet gesprochen; heute sprechen wir über die Selbsterkenntnis.
Das Gebet und die Selbsterkenntnis lassen uns in der Freiheit wachsen. Darum geht es, in der Freiheit zu wachsen! Es sind grundlegende Elemente des christlichen Daseins, kostbare Elemente, um den eigenen Platz im Leben zu finden. Danke.
(Orig. ital. in O.R. 5.10.2022)