Die Herausforderung des Friedens nach Papst Franziskus

Der Durst und die Wüste

23. September 2022

»Deshalb brauchen wir die Religion, um auf den Durst der Welt nach Frieden zu antworten und auf den Durst nach dem Unendlichen, der im Herzen eines jeden Menschen wohnt«, so Papst Franziskus am 14. September in seiner Ansprache zur Eröffnung des VII. Kongresses der Führer der Weltreligionen und der traditionellen Religionen in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan. Ein Durst, der zwei »Richtungen« hat, den Frieden und das Unendliche, aber dasselbe Zentrum: Gott. Die Diskussion konzentrierte sich sowohl im Beitrag des Papstes als auch in denen der anderen Kongressteilnehmer auf den ersten Aspekt, den Durst nach Frieden, unvermeidlich in einem historischen Augenblick, in dem die Welt unter jenem dritten Weltkrieg leidet, der mittlerweile total ist und nicht nur »in Stücken« geführt wird.

Genauer gesagt hat der Papst von der »Herausforderung des Friedens« gesprochen, eine Herausforderung, die vor allem den Gläubigen gilt »im Namen jener Geschwis-terlichkeit, die uns alle als Kinder desselben Himmels vereint«. Und er unterstrich nachdrücklich, dass die religiöse Dimension weder politischen Zwecken untergeordnet werden noch sich darauf beschränken darf, »Stütze der Macht« zu sein: »Bemühen wir uns gemeinsam, eingedenk der Schrecken und Irrtümer der Vergangenheit, dass der Allmächtige nie wieder zur Geisel menschlichen Machtstrebens wird.«

Auf das Thema des Gedenkens kam Franziskus am Nachmittag desselben Tages zurück. In der Predigt bei der heiligen Messe auf dem Expo-Platz unterstrich er: »Es tut uns gut, die Erinnerung an das Erlittene zu bewahren. Bestimmte dunkle Begebenheiten streichen wir besser nicht aus unserem Gedächtnis, sonst könnten wir auf den Gedanken kommen, dass sie Schnee von gestern sind und dass der Weg des Guten ein für alle Mal vorgezeichnet ist. Nein, der Frieden ist nicht ein für alle Mal gewonnen, er muss jeden Tag neu errungen werden.« Um dies tun zu können, ist es allerdings notwendig, zu den Quellen des Glaubens zurückzukehren und sich zu befreien »von jenen beschränkten und zerstörerischen Vorstellungen, die den Namen Gottes durch Starrheit, Verschlossenheit und Extremismen beleidigen und ihn durch Hass, Fanatismus und Terrorismus entweihen und damit auch das Bild des Menschen entstellen«.

Schon Ende der 1990er-Jahre erörterte Joseph Ratzinger in der Diskussion mit Jürgen Habermas die Notwendigkeit einer Reinigung der Religion. Heute unterstreicht Franziskus die Notwendigkeit der Rückkehr zu einer »echten Religiosität«: »Die Stunde ist gekommen, um aus jenem Fundamentalismus zu erwachen, der jedes Bekenntnis beschmutzt und zersetzt, die Stunde, um das Herz rein und barmherzig zu machen.«

So wie die Völker nach Frieden dürsten, dürsten die Herzen nach Unendlichkeit. Der Papst zitierte in seiner Ansprache Abai, den großen kasachischen Dichter, der dazu ermahnte, »die Seele wach und den Geist klar« zu behalten. Und neben ihn stellte er den großen Dichter des Unendlichen, Giacomo Leopardi: »Abai provoziert uns mit einer zeitlosen Frage: ›Was ist die Schönheit des Lebens, wenn man nicht in die Tiefe geht?‹ (Poesie, 1898). Ein anderer Dichter fragte sich nach dem Sinn des Daseins und legte einem Hirten dieser unendlichen Weiten Asiens eine ebenso wichtige Frage in den Mund: ›Wohin zielt mein kurzes Schweifen hier?‹ (G. Leopardi, Nachtgesang eines wandernden Hirten in Asien).«

Der Durst mit seiner ganzen zerstörerischen Kraft kommt an Orten und in »Momenten« der Wüste zum Vorschein. In einigen Ansprachen des Kongresses war ein gewisser Aufschrei in Bezug auf die »Wüstenbildung« erkennbar, welche die spirituelle Dimension der Menschheit befallen hat. Zum Beispiel sprach Imam Ahmed Al-Tayyeb, Scheich von Al-Azhar, vom »Niedergang des spirituellen Aspekts« sowie vom Fehlen »der moralischen Dimension auf dem Weg des heutigen Menschen«. Und doch ist es gerade der Durst, so würde Antoine de Saint-Exupérys Kleiner Prinz sagen, der in der Wüste das Vorhandensein des Brunnens anzeigt. Daran erinnerte Kardinal Zuppi vor einigen Tagen in einem Interview mit dieser Zeitung: »Wenn das Bild der geistlichen Verwüstung stimmt, muss es auch Wasser geben. Die
Wüste als solche bringt den Durst zum Ausdruck, das Bedürfnis und die Suche nach Wasser.« Die dänische Schriftstellerin Karen Blixen bemerkte einmal: »Bis zu diesem Tag hat noch niemand gesehen, dass die Zugvögel ihren Weg nehmen nach wärmeren Gegenden, die es gar nicht gibt, oder dass die Flüsse ihren Lauf durch Felsen und Ebenen brechen, und einem Meer entgegenströmen, welches nirgends vorhanden ist. Gott hat gewiss keine Sehnsucht oder Hoffnung erschaffen, ohne auch die Wirklichkeit zur Hand zu haben, die als Erfüllung dazu gehört. Unsere Sehnsucht ist unsere Gewissheit.«

Die Sehnsucht nach Frieden und die Sehnsucht nach Unendlichkeit sprechen von demselben Durst, den man stärker spürt, wenn man das Vertrauen in Gott verliert und in den eigenen existentiellen Wüsten vom Weg abkommt, wie es der Papst in seiner Predigt gesagt hat: »Wie oft sind wir entmutigt und unduldsam in unseren Wüsten vertrocknet und haben das Ziel des Weges aus den Augen verloren! Auch in diesem großen Land gibt es eine Wüste, eine herrliche Landschaft, die uns aber zugleich von der Mühsal und Trockenheit spricht, die wir manchmal in unseren Herzen tragen. Das sind die Momente der Müdigkeit und der Prüfung, in denen wir nicht mehr die Kraft haben, aufzublicken zu Gott.«

Den Weg wieder aufnehmen und gemeinsam vorwärts und aufwärts gehen. Das war die Botschaft des zweiten Tages dieser Pilgerreise des Friedens und der Einheit von Papst Franziskus nach Kasachstan, in der Gewiss-heit, dass »Gott unserer Niedertracht dadurch begegnet, dass er uns eine neue Hoheit verleiht«. Diese lebendige, vitale Kraft der Religionen war es, die der Papst in seiner Ansprache vor den anderen Religionsführern der Welt eindringlich bekräftigte: »Angesichts des Geheimnisses des Unendlichen, das uns überragt und anzieht, erinnern uns die Religionen daran, dass wir Geschöpfe sind: Wir sind nicht allmächtig, sondern Frauen und Männer auf dem Weg zum selben Himmel.«

(Orig. ital. in O.R. 15.9.2022)

Von Andrea Monda