Eine italienische Ordensschwester berichtet über ihre Erfahrungen in einer Aufnahmeeinrichtung für Migranten

Fremde aufnehmen

 Fremde aufnehmen  TED-037
16. September 2022

Von Maria Giovanna Titone CSJ

Die Koordinierung des Nachtasyls einer Pfarrei bringt es mit sich, dass man mit vielen Geschichten in engen Kontakt kommt.

Meine früheren Erfahrungen als Ehrenamtliche mit Menschen ohne festen Wohnsitz konzentrierten sich wohl eher auf das Finden von »Strategien«, um mich ihnen zu nähern, und auf das Wenige, das ich ihnen geben konnte: etwas zu essen und zu trinken und ein paar kümmerliche Worte des Trostes und der Ermutigung – zusammen mit (hoffentlich) nützlichen Informationen.

Das Management einer niederschwelligen Einrichtung stellt einen jedoch vor ganz andere Herausforderungen.

Es geht darum, auch die besten eigenen Absichten beiseite zu lassen, um für das Leben derer Raum zu schaffen, die wir aufnehmen, und Verkündiger der christlichen Hoffnung zu bleiben trotz der Ohnmacht, der wir oft ausgesetzt sind.

Resignation und
Sinnverlust überwinden

Unser Nachtasyl »Buon Samaritano« liegt in der Pfarrei San Rocco in der italienischen Stadt Ravenna und stellt sich der täglichen Herausforderung, mit Resignation und Sinnverlust umzugehen.

Beeindruckend ist die ständige Anfrage um Aufnahme seitens junger Migranten, die sich im Schwebezustand des Wartens auf ihre Papiere und der Eingliederung in die zunehmend überfüllten CAS (außerplanmäßigen Aufnahmezentren) befinden. Ravenna liegt zwar nicht an einer der Migrationsrouten, es wurde jedoch das Gerücht verbreitet, dass die hiesige Polizei die Papiere rasch ausstellt (eine Fehlinformation), und viele wählen diesen Weg, um ihr Ziel, eine Aufenthaltsgenehmigung für Italien zu erhalten, schneller zu erreichen. In Wirklichkeit müssen sie lange warten (normalerweise zwischen 2 und 8 Monaten) – ohne Arbeit, Unterkunft und Geld, mit anderen Worten: auf der Straße.

Genauso stark ist die Nachfrage durch Menschen, die an psychischen Störungen und Abhängigkeiten leiden, über kein angemessenes familiäres beziehungsweise gesundheitliches Sicherheitsnetz verfügen und letztendlich bei Notschlafstellen wie unserer ein- und ausgehen.

Unser kleines Asyl kann in Covid-Zeiten bis zu 15 Männer und 3 Frauen aufnehmen und sieht sich mit Herausforderungen konfrontiert, die fast nicht zu bewältigen sind.

Ich habe mich oft gefragt, was es bedeutet, die Verkündigung des Evangeliums in diesem Nachtasyl zu leben; hier braucht es Entschlossenheit, Aufmerksamkeit gegenüber den Details und einen Blick für das Ganze, die Pflege der Beziehungen zu öffentlichen Behörden, die Kenntnis des Umfelds und seiner Ressourcen, das Bewusstsein der eigenen Grenzen (die persönlichen und die der Aufnahme als solcher), ohne am Helfersyndrom oder an Entmutigung zu erkranken. Wir müssen ja auch schwierige Entscheidungen treffen, zum Beispiel wenn manche Menschen wegen aggressiver Handlungen beziehungsweise schwerer Verstöße gegen die Hausordnung abgewiesen werden müssen oder wir »Nein« zur Aufnahme sagen und eingestehen müssen, dass wir den Problemen unserer Gäste nicht gewachsen sind.

Es ist in der Tat nicht unsere Aufgabe, die Dramen dieser Menschen allein auf unsere Schultern zu nehmen. Wir sind ja nur eine kleine Aufnahmeeinrichtung, die vor über zwanzig Jahren von Don Ugo Salvatori, einem Priester der Diözese Ravenna-Cervia, gegründet wurde und von Ehrenamtlichen weitergeführt wird.

Die Verwaltungsbehörden, mit denen wir ein Netz aufzubauen versuchen, neigen letztendlich dazu, sich auf Einrichtungen wie die unsere zu stützen, um rasch auf Situationen zu reagieren, die eigentlich als Ansprüche anerkannt werden sollten. Es ist bekannt, dass es an wirtschaftlichen Ressourcen und Personal fehlt, um die Fälle nachzuverfolgen; es fehlt an angemessenen Strukturen zur Aufnahme von Menschen mit gesundheitlichen Problemen und Wohnungsbedarf. Die Bürokratie zur Legalisierung der Anwesenheit von Migranten in unserem Land ist zu langsam und unzuverlässig… Aus allen diesen Gründen reicht es nicht aus, ein Bett und eine Dusche zur Verfügung zu stellen, obwohl das für die Menschen, die wir aufnehmen, schon ausreicht, um sie von der Straße und aus der Verzweiflung zu holen. Man muss zur Stimme derer werden, die für unsere westliche Gesellschaft keine Stimme haben, und die Aufmerksamkeit der Behörden und der öffentlichen Meinung wecken, damit die Erinnerung an die Letzten nicht nur ein Slogan im Wahlkampf ist, sondern ein Bedürfnis der Zivilisation noch mehr als der Nächstenliebe.

Als Christen dürfen wir uns nicht mit einer Politik zufriedengeben, die religiöse Symbole bei Bedarf einsetzt; wir müssen anspruchsvoll sein und verlangen, dass die Programme und die daraus folgenden adminis-trativen Entscheidungen den realen Bedürfnissen der Menschen – vor allem der Schwächsten – entsprechen.

Sicherheit und
Hoffnung schenken

Von dem Blickwinkel aus, den mir dieses kleine Nachtasyl der Pfarrei bietet, können christliche Nächstenliebe und Hoffnung von dem Wenigen, was wir tun können, nicht als erfüllt betrachtet werden; es ist ein aktives, kritisches Gewissen nötig, das den Imperativ spürt, soziale Gerechtigkeit zu fördern, und sich durch konkrete Entscheidungen dazu verpflichtet, zu fordern, dass man die Gerings-ten nicht instrumentalisiert, um sie dann wieder zu vergessen. Als Kirche müssen wir verlangen, dass unsere Grundwerte nicht dazu missbraucht werden, Spaltungen zu schaffen zwischen denen, die die Sakramente empfangen dürfen, und jenen, die dies nicht dürfen, und dass diese Werte konsequent umgesetzt werden in politischen und sozialen Entscheidungen, die eine Gesellschaft fördern, in der jede Frau und jeder Mann in ihrer Menschenwürde anerkannt sind.

Wie Kardinal Matteo Zuppi, der Vorsitzende der Italienischen Bischofskonferenz, in seinem Dank an den scheidenden Ministerpräsidenten Draghi betonte, »müssen wir an das Leid der Menschen denken und ernsthafte, nicht ideologische oder trügerische Antworten gewährleisten, die – wenn nötig – auch Opfer vorsehen, aber Sicherheit und Hoffnung schenken; »Die unerlässliche politische Auseinandersetzung darf nicht respektlos sein und muss sich auf die Kenntnis der Probleme und auf gemeinsame Visionen ohne Tricks konzentrieren, mit Leidenschaft für die öffentlichen Angelegenheiten und ohne einen mittelmäßigen Wettbewerb, der nur auf kleinliche persönliche Vorteile und nicht auf eine Lösung der offenen Fragen aus ist«.

#sistersproject