Johannes Paul I.

Ein Seelsorger – nahe bei Gott und nahe bei den Menschen

 Ein Seelsorger – nahe bei Gott  und nahe bei den Menschen  TED-037
16. September 2022

»Samstag, 26. August 1978: In einem der kürzesten Konklave der Kirchengeschichte« – es dauerte knapp 24 Stunden, von Freitag, 19 Uhr, bis Samstag um etwa dieselbe Zeit – »wählen die 111 in der Sixtinischen Kapelle versammelten Kardinäle den Patriarchen von Venedig, Albino Luciani, zum neuen Papst. Um 19.30 Uhr erscheint der Neugewählte auf der Mittleren Loggia des Petersdoms und erteilt zum ersten Mal den Segen ›Urbi et Orbi‹.« Mit diesen Worten fasst die deutsche Ausgabe des Osservatore Romano vom 6. Oktober 1978 in der »Chronik« den Beginn eines der kürzesten Pontifikate der Kirchengeschichte zusammen – 33 Tage. Weiter heißt es: »Er winkt der Menschenmenge väterlich zu, und die Welt sieht zum ersten Mal sein Lächeln, welches ihn in wenigen Stunden und Tagen in der ganzen Welt populär machen sollte.«

In seinem persönlichen Tagebuch aus jener Zeit schreibt Luciani, was es bedeutet, ein Amt in der Kirche zu haben: Es bedeute »Diener, nicht Herren der Wahrheit« zu sein. Der bischöfliche Wahlspruch »Humilitas«, den er zusammen mit den drei Sternen – Symbol für Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe – in seinem Wappen verewigen ließ, war schon seit 20 Jahren der Kompass seines Wirkens. In derselben Ausgabe des Osservatore sagt der damalige Erzbischof von München und Freising, Kardinal Joseph Ratzinger, dass von diesem kurzen Pontifikat »auf jeden Fall das Bild einer leuchtenden Persönlichkeit« bleibe, »die wirklich von der Freude und der Kraft des Evangeliums geprägt ist«.

Einfache
Herkunft

Woher kommt der Papst? Andrea Tornielli beleuchtet in einem Artikel für die italienische Sonderausgabe des Osservatore Romano zur Seligsprechung die einfache Herkunft und die Atmosphäre, in der Albino Luciani aufwächst. Dabei stehen sein Werdegang zum Priestertum und seine Ratschläge an die Priester im Mittelpunkt. Albino Luciani wurde am 17. Oktober 1912 in Canale d’Agordo (damals: Forno di Canale) geboren, einem kleinen Ort im Cordevole-Tal in den Dolomiten. Seine Familie war nicht reich. Im Jahr 1917, nach den Schlachten des Ersten Weltkriegs in diesem Gebiet, litten sie Hunger. Das erwähnt Luciani nach seiner Wahl zum Papst, als er am 3. September die Gläubigen seiner Heimatdiözese Belluno in Audienz empfängt: »In den Zeitungen wurde, vielleicht sogar zu sehr, daran erinnert, dass meine Familie arm war. Ich kann bestätigen, dass ich während des Jahres der Invasion wirklich Hunger gelitten habe, und auch danach; zumindest werde ich in der Lage sein, die Probleme der Hungernden zu verstehen!« Die Dorfbewohner erinnerten sich auch daran, wie der Seminarist in den Ferien in der Soutane mit der Sense Heu mähte.

Tornielli sagt über die Rolle der Eltern: »Über die Berufung schreibt Luciani später: ›Wenn Gott ruft … gibt es nichts Festgeschriebenes oder Starkes oder ganz Klares: es ist vielmehr ein leises Flüstern […], das die Seele berührt.‹ Nachdem er seinem im Ausland arbeitenden Vater einen Brief geschickt hat, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, in das Kleine Seminar in Feltre einzutreten, wartet er wochenlang gespannt auf die Antwort. Der Vater bringt sein überzeugtes Einverständnis zum Ausdruck, begleitet von dem Ratschlag: ›Ich hoffe, dass du, wenn du Priester wirst, auf der Seite der Armen stehst, denn Christus war auf ihrer Seite.‹

So beginnt Luciani 1923 das Kleine Seminar in Feltre und tritt fünf Jahre später in das Priesterseminar in Belluno ein. […] Am 7. Juli 1935 wurde er zum Priester geweiht. Seinen ersten Dienst leistete er in Canale d’Agordo, seinem Heimatort. Sein Bischof ernannte ihn 1937 zum Vizeregens des Priesterseminars in Belluno und zum Dozenten für dogmatische Theologie. Luciani hatte eine katechetische Gabe und verstand es, Glaubenswahrheiten und moralische Lehren auf verständliche und attraktive Weise zu ›übersetzen‹. Sein erstes Werk, das seiner im Jahr zuvor verstorbenen Mutter Bortola gewidmet war, wurde 1949 unter dem Titel ›Catechetica in briciole‹ (Katechetische Spuren) gedruckt. Es handelt sich um ein kleines Buch für die Katecheten der Pfarrschulen, das auf die Vorbilder der heiligen Philipp Neri und Johannes Bosco verweist. Diese hätten ›den Kindern sogar auf der Straße Katechese erteilt, ohne irgendwelche besonderen Mittel, und doch waren die Kinder fasziniert‹. Auch Luciani sollte dies gelingen, als Priester, als Bischof und als Papst.«

Außerdem stellt Tornielli auf Vatican News ein im Vorfeld der Selig-sprechung neu aufgetauchtes Tondokument vor: Eine elf Minuten lange Predigt, gehalten in freier Rede am 29. Juni 1968, als Luciani Bischof der Diözese Vittorio Veneto war. Anlass der Predigt ist die Priesterweihe von Giuseppe Nadal in der Pfarrei von Santa Maria del Piave, die der Bischof ihm gespendet hatte. Darin spricht er unter anderem über seine Mutter und die Identität des Priesters.

Zu Beginn zitiert Luciani einen französischen Schriftsteller, der gesagt hat: »Es gibt Mütter, die ein priesterliches Herz haben und die das auf ihre Söhne übertragen.« Dann erinnert er an seine eigene Mutter, Bortola Tancon, die ihn mit ihrem Glaubenszeugnis zum Priestertum geführt habe. »Meine Mutter hat mir nie gesagt, ich solle Priester werden, niemals, aber sie war so gut, sie liebte den Herrn so sehr, dass ich im Kontakt mit ihr spontan diesen Weg eingeschlagen habe. Es schien mir, als gäbe es keinen anderen Weg. Der Herr hat sich des familiären Umfeldes bedient.«

Es geht
um die Liebe

Über seine Mutter spricht der Papst auch am Mittwoch, 27. September, als er einen Tag vor seinem Tod im Rahmen der wöchentlichen Generalaudienz wegen des großen Andrangs die über 5.000 Pilger aus den deutschsprachigen Ländern und aus den Niederlanden im Petersdom gesondert empfängt. [Das Tondokument kann man in voller Länge auf der deutschen Vatican News-Seite anhören.] Er sagt auf Deutsch: »Ich freue mich, auch euch mit wenigen Worten mein heutiges Anliegen vorzutragen: es geht um die Liebe. Meine Mutter hat mich folgendes Gebet gelehrt: ›Mein Gott, mit ganzem Herzen und mehr als alles andere liebe ich Dich, unendliches Gut, meine ewige Seligkeit. Und aus Liebe zu Dir liebe ich meinen Nächsten wie mich selbst, bin ich bereit, empfangenes Unrecht zu verzeihen. Mein Herr und mein Gott: dass meine Liebe zu Dir noch wachse!‹ Dieses Gebet spreche ich noch heute jeden Tag. Betrachtet es Wort für Wort!« Was der Papst auch selbst dann bei der Generalaudienz in der Audienzhalle tut, wo er betont, dass man in der Liebe nicht stehenbleiben dürfe. Mit ganzem Herzen – »also total«: »Gott ist zu groß, wir schulden ihm zu viel, als dass wir ihm wie einem armen Lazarus nur das hinwerfen könnten, was wir an Zeit und Herz zu viel haben. Er ist ein unermessliches Gut und wird unsere ewige Seligkeit sein. Geld, Vergnügen und Glück dieser Welt sind im Vergleich zu ihm nur Bruchstücke des Guten und flüchtige Augenblicke des Glücks. Es wäre nicht weise, so viel von uns an diese Dinge zu verschwenden und so wenig an Jesus.«

In der erwähnten Predigt zur Priesterweihe unterstreicht Luciani, dass der Priester zum Dienen berufen ist: »Ein Priester ist ein guter Priester, wenn er ein Diener der anderen ist; wenn er Diener seiner selbst ist, ist das nicht richtig.« Der Bischof von Vittorio Veneto wiederholt noch einmal: »Der Priester soll der Diener aller sein. Dies ist vor allem seine Aufgabe, sein Platz: zu dienen. Und die Leute sehen es, wenn der Priester wirklich ein Diener ist, der sich für andere aufopfert. Dann sagen sie: ›Wir haben einen guten Priester‹, dann sind sie glücklich, dann sind sie wirklich glücklich.« Außerdem unterstreicht er, wie wichtig das persönliche Zeugnis ist, das heißt, das, was der Priester predigt, »muss gelebt werden«: »Ich kann nicht zu euch anderen sagen: ›Seid gut‹, wenn ich nicht zuerst gut bin. […] Es wäre wunderbar, wenn ich, bevor ich anderen predige, alles getan hätte, was ich anderen sage. Das ist nicht immer möglich. Man muss mit der Anstrengung zufrieden sein, wir haben auch unser Temperament, wir haben auch Schwächen. Aber der Priester, wenn er Priester sein will, darf nicht kommen und anderen predigen, wenn er nicht vorher selbst wenigstens versucht hat, das zu tun, was er von den anderen verlangt.«

Abschließend gibt er eine Empfehlung: In der Seelsorge und bei der Feier der Sakramente, »vor allem der Beichte«, müsse man «sanftmütig« sein und die Menschen gut behandeln: »Ich sage meinen Priestern immer: ›Liebe Brüder ... die Menschen müssen gut behandelt werden. Wenn es wahr ist, dass wir Diener sind, müssen wir die Menschen gut behandeln; es reicht nicht aus, sich den Menschen zu widmen, sondern wir müssen sanft zu den Menschen sein, auch wenn einige manchmal undankbar sind.‹« Er schließt mit einem Wunsch und einem Gebet um »Priester, die wirklich heilig sind und wirklich dem Volk dienen«.

Das Ziel der Seelsorge findet sich auch im letzten vom Papst am 28. September unterzeichneten Dokument. Es handelt sich um das in deutscher Sprache verfasste Schreiben an den damaligen Apostolischen Administrator von Erfurt-Meiningen, Bischof Hugo Aufderbeck. Anlass war die 700-Jahr-Feier des Baus der Severikirche in Erfurt: Die »Steine sprechen vom Glauben und von der Frömmigkeit der Vorfahren und mahnen die heute lebenden Christen, ihr heiliges Erbe unversehrt zu erhalten und ins praktische Leben umzusetzen«. Außerdem mögen sie »sich selbst zu einem ›geistigen Haus‹ auferbauen lassen, in dem Gott seine Wohnung nimmt«. Zum Schluss spricht er von der »Wohnung im Himmel«, »die unserer kurzen und oft beschwerlichen irdischen Pilgerfahrt wahre Bedeutung und echten Sinn verleiht«.

jw