Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem, und im heutigen Evangelium heißt es, dass viele Menschen ihn begleiteten (vgl. Lk 14,25). Mit ihm gehen bedeutet, ihm nachfolgen, sein Jünger werden. Doch der Herr wendet sich an diese Menschen mit einer wenig ansprechenden und sehr anspruchsvollen Rede: Man kann nicht sein Jünger sein, wenn man ihn nicht mehr liebt als die, die einem nahestehen, wenn man nicht sein Kreuz trägt, wenn man sich nicht von den irdischen Gü-tern löst (vgl. V. 26-27.33). Warum richtet sich Jesus mit solchen Worten an die Menge? Welche Bedeutung haben diese Ermahnungen? Wir wollen versuchen, auf diese Fragen zu antworten.
Wir sehen zunächst eine große Menschenmenge, viele Leute, die Jesus folgen. Wir können uns vorstellen, dass viele von seinen Worten fasziniert waren und über die Taten, die er vollbrachte, staunten. Sie sahen in ihm eine Hoffnung für ihre Zukunft. Was hätte ein Lehrer der damaligen Zeit getan, oder – so können wir weiter fragen – was würde eine schlaue Führungspersönlichkeit tun, wenn sie erkennt, dass sie in der Lage ist, mit ihren Worten und ihrem Charisma die Massen anzuziehen und große Zustimmung zu finden? So ist es auch heute: Besonders in Zeiten privater und gesellschaftlicher Krisen, wenn wir verstärkt anfällig sind für Wutgefühle oder Angst vor etwas haben, das unsere Zukunft bedroht, werden wir verletzlicher; und so lassen wir uns von Gefühlen mitreißen und verlassen uns dann auf der Welle der Emotionen auf diejenigen, die es mit Geschick und List verstehen, diese Situation auszunutzen, indem sie die Ängste der Gesellschaft missbrauchen und versprechen, sie seien die »Heilsbringer«, die die Probleme beheben würden, während sie in Wirklichkeit ihr eigenes Ansehen und ihre eigene Macht, ihr eigenes Erscheinungsbild, ihre eigene Fähigkeit, die Dinge zu kontrollieren, vergrößern wollen.
Das Evangelium sagt uns, dass Jesus nichts dergleichen tut. Gottes Stil ist anders. Es ist wichtig, den Stil Gottes zu verstehen, zu verstehen, wie er handelt. Gott handelt auf eine gewisse Weise und dieser Stil Gottes ist anders als die Haltung dieser Leute, denn er nutzt unsere Nöte nicht aus, er nutzt unsere Schwächen nicht, um sich selbst zu erhöhen. Er, der uns nicht mit Täuschungen betören und auch keine billigen Freuden anbieten will, ist nicht an riesigen Menschenmassen interessiert. Er huldigt nicht den Zahlen, sucht nicht nach Konsens, ist kein Götzendiener des persönlichen Erfolgs. Im Gegenteil, es scheint ihn zu beunruhigen, wenn die Menschen ihm mit Euphorie und leichtfertiger Begeisterung folgen. Anstatt sich von der Faszination der Popularität beeindrucken zu lassen – denn Popularität fasziniert –, bittet er alle, die Gründe für ihre Nachfolge und die damit verbundenen Konsequenzen sorgfältig zu prüfen. Viele aus dieser Menge sind Jesus vielleicht nur deshalb gefolgt, weil sie hofften, dass er ein Führer sei, der sie von ihren Feinden befreien würde, einer, der die Herrschaft erringen würde und sie daran teilhaben ließe, oder einer, der durch Wunder die Probleme von Hunger und Krankheit lösen würde.
Man kann in der Tat aus verschiedenen Gründen dem Herrn folgen, und einige, das müssen wir anerkennen, sind weltlich: hinter einem perfekten religiösen Auftreten kann sich die bloße Befriedigung der eigenen Bedürfnisse verbergen, das Streben nach persönlichem Prestige, der Wunsch, eine bestimmte Rolle zu spielen, alles zu kontrollieren, die Lust, Räume zu besetzen und Privilegien zu erhalten, das Streben nach Anerkennung und vieles mehr. Das gibt es auch heute unter den Chris-ten. Aber das ist nicht der Stil Jesu. Und das darf auch nicht der Stil des Jüngers und der Kirche sein. Wenn einer Jesus mit solchen persönlichen Interessen folgt, hat er sich verirrt.
Der Herr verlangt eine andere Einstellung. Ihm nachzufolgen bedeutet nicht, in einen Hofstaat aufgenommen zu werden oder an einem Triumphzug teilzunehmen, und es ist auch keine Lebensversicherung. Im Gegenteil, es bedeutet, auch das Kreuz zu tragen (vgl. Lk 14,27), also wie er selbst die eigenen Lasten und die Lasten der anderen auf sich zu nehmen, das eigene Leben zu einer Gabe zu machen – nicht zu einem Besitz – und es hinzugeben in Nachahmung seiner großzügigen und barmherzigen Liebe zu uns. Dies sind Entscheidungen, die die gesamte Exis-tenz betreffen; deshalb will Jesus, dass der Jünger dieser Liebe nichts vorzieht, nicht einmal die wichtigsten Beziehungen und den größten Besitz.
Aber dazu müssen wir mehr auf ihn schauen als auf uns selbst, müssen wir vom Gekreuzigten lernen, was es bedeutet zu lieben. Dort sehen wir die Liebe, die sich ganz hingibt, ohne Maß und ohne Grenzen. Die Liebe kennt kein Maß. »Wir sind«, sagte Papst Johannes Paul I., »das Ziel der unvergänglichen Liebe Gottes« (Angelus, 10. September 1978). Sie ist unvergänglich: Sie versagt sich nie unserem Leben, sie leuchtet uns und erhellt selbst die dunkelsten Nächte. Und so sind wir mit Blick auf das Kreuz aufgerufen, dieser Liebe gerecht zu werden und uns von unseren verzerrten Vorstellungen von Gott und unserer Verschlossenheit zu reinigen, ihn und die anderen zu lieben – in der Kirche und in der Gesellschaft, auch die, die nicht so denken wie wir, ja sogar unsere Feinde.
Lieben, auch wenn es das Kreuz des Opfers, des Schweigens, des Unverständnisses und der Einsamkeit kostet, auch wenn man behindert und verfolgt wird. So lieben, auch wenn es viel kostet, denn – so sagte wiederum der selige Johannes Paul I. – wenn du den gekreuzigten Jesus küssen willst, ist das »nur möglich, wenn du dich über das Kreuz beugst und dich von den Dornen der Krone, die der Herr auf dem Haupt hat, stechen lässt« (Generalaudienz, 27. September 1978).
Liebe bis zum Ende, mit all ihren Dornen: keine halben Sachen, keine Bequemlichkeiten oder ein ruhiges Leben. Wenn wir nicht nach mehr streben, wenn wir keine Risiken eingehen, wenn wir uns mit einem »Rosenwasser-Glauben« begnügen, dann sind wir – sagt Jesus – wie diejenigen, die einen Turm bauen wollen, aber die Mittel dazu schlecht kalkulieren; sie legen das Fundament, können den Bau dann aber nicht fertigstellen (vgl. V. 29). Wenn wir aus Angst, uns selbst zu verlieren, darauf verzichten, uns hinzugeben, lassen wir die Dinge unvollendet: unsere Beziehungen, unsere Arbeit, die uns anvertraute Verantwortung, unsere Träume, selbst unseren Glauben. Und so leben wir am Ende nur halbherzig – und wie viele Menschen leben halbherzig, auch wir sind oft in der Versuchung, halbherzig zu leben – ohne jemals den entscheidenden Schritt zu tun – das bedeutet »halbherzig leben«. So starten wir nie richtig durch, so gehen wir für das Gute nie ein Risiko ein und setzen uns nie wirklich für andere ein. Jesus verlangt dies von uns: Lebe das Evangelium und du wirst wahrhaft leben, nicht halb, sondern ganz und gar. Lebe das Evangelium, lebe das Leben, ohne Kompromisse.
Brüder und Schwestern, so hat der neue Selige gelebt: in der Freude des Evangeliums, ohne Kompromisse, liebend bis zum Ende. Er verkörperte die Armut des Jüngers, die nicht nur darin besteht, sich von den materiellen Gütern zu lösen, sondern vor allem darin, der Versuchung zu widerstehen, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen und den eigenen Ruhm zu suchen. Er war, ganz im Gegenteil, ein sanftmütiger und demütiger Hirte nach dem Vorbild Jesu. Er betrachtete sich selbst als den Staub, in den Gott schreiben wollte (vgl. A. Luciani/Giovanni Paolo I, Opera omnia, Padua 1988, Bd. II, 11). Deshalb sagte er: »Der Herr hat so sehr empfohlen: Seid demütig. Auch wenn ihr Großes geleistet habt, sagt: wir sind unnütze Knechte« (Generalaudienz, 6. September 1978).
Mit seinem Lächeln gelang es Papst Johannes Paul I., die Güte des Herrn zu vermitteln. Schön ist eine Kirche mit einem heiteren Gesicht, mit einem gelassenen Gesicht, mit einem lächelnden Gesicht, eine Kirche, die ihre Türen nie verschließt, die die Herzen nicht verbittert, die nicht jammert und keinen Groll hegt, die nicht zornig und unduldsam ist, die sich nicht mürrisch zeigt, die nicht an Nostalgie leidet und in eine Rückwärtsgewandtheit verfällt. Bitten wir diesen unseren Vater und Bruder, dass er uns dieses »Lächeln der Seele« erwirke, das ehrliche und aufrichtige Lächeln der Seele. Bitten wir mit seinen Worten um das, worum er selbst zu bitten pflegte: »Herr, nimm mich, wie ich bin, mit meinen Fehlern, mit meinen Mängeln, doch lass mich werden, wie du mich haben willst« (Generalaudienz, 13. September 1978). Amen.
Vor dem Angelusgebet sagte der Papst:
Liebe Brüder und Schwestern!
Bevor ich diese Feier abschließe, möchte ich euch alle grüßen und euch für eure Teilnahme danken. Ich bin meinen Mitbrüdern Kardinälen, Bischöfen und Priestern aus verschiedenen Ländern dankbar. Ich begrüße die offiziellen Delegationen, die sich hier versammelt haben, um dem neuen Seligen ihre Ehrung zuteil werden zu lassen. Meine respektvollen Gedanken gelten dem Präsidenten der Italienischen Republik und dem Premierminister des Fürstentums Monaco.
Ich grüße alle Pilger, besonders die Gläubigen aus Venedig, Belluno und Vittorio Veneto, Orte, die mit der menschlichen, priesterlichen und bischöflichen Erfahrung des seligen Albino Luciani verbunden sind.
Und nun wenden wir uns im Gebet an die Jungfrau Maria, damit sie die Gabe des Friedens in der ganzen Welt erlange, besonders in der gequälten Ukraine. Möge sie, die erste und vollkommene Jüngerin des Herrn, uns helfen, dem Beispiel und der Heiligkeit des Lebens von Johannes Paul I. zu folgen.