Zum 400. Todesjahr des heiligen Franz von Sales

Philothea – Glücklich und schön durch Tugenden…

 Philothea – Glücklich und schön durch Tugenden…  TED-035
02. September 2022

Die Philothea (Anleitung zum frommen Leben) ist ein Klassiker der geistlichen Literatur. Das Werk wurde 1609 zum ersten Mal im Druck veröffentlicht, die erste deutsche Übersetzung erschien 1616 in München, zahllose Übersetzungen und Auflagen kamen hinzu, 2009 wurden etwa 1.300 Ausgaben in verschiedenen Sprachen gezählt, zu denen nun (2022) eine schöne Neuübersetzung aus dem Be+Be-Verlag in Heiligenkreuz hinzukommt.

Anlass zu zusätzlicher Aufmerksamkeit für den Klassiker ist der 400. Todestag des Autors: Der heilige Franz von Sales erlitt auf der Durchreise in Lyon einen Schlaganfall und starb dort am
28. Dezember 1622 im Alter von 55 Jahren. Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens war er Bischof der Diözese Genf mit Sitz in Annecy, und damit auch 1609, als seine »Anleitung zum frommen Leben« herauskam. In seinem für die erste Ausgabe verfassten Vorwort unterstreicht er, dass es »gerade eine Aufgabe der Bischöfe« sei, »den Seelen bei ihrem Streben nach Vollkommenheit zu helfen«, sich also mit einem wirklich väterlichen Herzen einzelner Seelen anzunehmen.

So ist das Ziel der Philothea die »praktische Seelenführung«, wie die Herausgeber der Neuübersetzung, Markus Dusek und Paul Bernhard Wodrazka, unterstreichen. »Ein frommes Leben im weltlichen Alltag: das ist
es letztlich, wovon dieses Buch handelt«, schreibt der heilige Franz von Sales und bringt damit auch zum Ausdruck, an wen er sich wenden möchte. Bisher habe ein zurückgezogenes Leben als Voraussetzung für Frömmigkeit gegolten: »Meine Absicht ist es, jene zu unterrichten, die in den Städten wohnen, Familie haben, am Hof verkehren und durch ihre Aufgaben gezwungen sind, ein äußerlich gewöhnliches Leben zu führen.«

Definition der Frömmigkeit

Wobei noch ein Wort zum Begriff der »Frömmigkeit« zu sagen ist, heute meist negativ aufgeladen und eher in Richtung »weltfremd, brav, naiv, beschränkt, spleenig« weisend, weshalb er seit der Mitte des 20. Jh.s zunehmend durch den aus Frankreich übernommenen Begriff »Spiritualität« verdrängt wurde. Dabei geht es keineswegs um Frömmigkeit als subjektive, emotionale Seite der Religiosität, ein »naives Gefühlschristentum« in Abkehr vom »realen Leben«. Schon zu Zeiten von Franz von Sales verleumdete »die Welt« nach seinen eigenen Worten das Frommsein »wie sie nur kann«: fromme Menschen seien »griesgrämig, freudlos, trübsinnig, unerträglich«.

Wie definiert Franz von Sales Frömmigkeit? In der Philothea steht: »Kurz gesagt: Frömmigkeit ist nichts anderes als eine Art Beweglichkeit und Lebhaftigkeit des Geistes, mit deren Hilfe die Liebe in uns wirken kann oder wir durch sie, bereitwillig und freudig«, gewissermaßen eine höhere Stufe der Nächstenliebe, wo man mit Freude und Leichtigkeit Gutes tut, zu dem man nicht verpflichtet ist.

Dabei hat das Ganze nichts Schablonenartiges; die Tugenden sollen auf treue und kluge Weise geübt werden: Im Laufe eines Lebens bleibt dies nicht gleich und ist auch für jeden anders, für Handwerker, Bischöfe, Kartäuser, Soldaten. Eine Familienmutter kann nicht wie eine Kartäuserin leben.

Die Gefahr ist, dass jeder sich die Frömmigkeit so zurechtbiegt, wie es ihm selbst gefällt, seinen Vorlieben und Neigungen entsprechend. Franz von Sales bringt mehrere Beispiele: einer fastet gerne, lästert und verleumdet aber ständig seinen Nächsten; einer betet den ganzen Tag, ist aber ansonsten überheblich und beleidigend. Ein anderer gibt Almosen, damit er sich fromm fühlen kann, ist aber sonst hartherzig.

Dieses Prinzip, dass man sich alles nach dem eigenen Gutdünken zurechtlegt, wird schon in der Benediktregel kritisiert: »Was sie meinen und wünschen, das nennen sie heilig, was sie nicht wollen, das halten sie für unerlaubt.«

Dem Autor der Philothea geht es um »echte und solide Frömmigkeit«, »die sich durch einen beständigen, resoluten, einsatzbereiten Willen kennzeichnet, das zu tun, was Gott
gefällt«. Es geht um eine »wahre, aufrichtig Gesinnung«, ohne Heuchelei, Affektiertheit, Falschheit. Die ehrliche Absicht des Herzens ist gefragt, kein Deckmantel für den eigenen Stolz. Es darf nicht alles nur Schein sein, denn aus Erfahrung kennt er Menschen, »die sich auf der Straße wie Engel, zu Hause aber wie Teufel benehmen«.

Es geht darum, alltägliche Tugenden zu erwerben, »Tugenden die immer passen« und »alle Handlungen unseres Lebens prägen sollten«, wie Sanftmut, Besonnenheit, Ehrlichkeit und Demut, liebenswürdig und hilfsbereit, freundlich und zuvorkommend zu sein. So entsteht das Bild eines angenehmen Menschen, der kein Egozentriker ist, frei von Stolz, Eitelkeit und Eigenliebe, der in einer heiteren inneren Ruhe die Regeln des zivilisierten Zusammenlebens einzuhalten vermag. »Menschen werden in all ihren Tätigkeiten angenehmer, wenn sie fromm sind: Die Sorge um die Familie wird gelassener, die Liebe zwischen den Eheleuten aufrichtiger, jede Art der Beschäftigung leichter und heiterer.«

Man weiß, dass es Franz von Sales selbst aufgrund seines Charakters nicht immer leicht hatte. Er spricht wohl aus eigener Erfahrung, wenn er sagt: »Es ist leicht, keinen Mord zu begehen; viel schwieriger ist es, die zahlreichen kleinen Zornausbrüche zu vermeiden, zu denen wir jederzeit Gelegenheit haben.« Enge Vertraute berichten, dass nicht selten »der Zorn in seinem Kopf wie Wasser über dem Feuer kochte«. Bei Widerspruch sei sein Gesicht zuweilen »kupferrot« geworden, das heißt die für ihn charakteristische Sanftmut war ihm keineswegs in die Wiege gelegt…

Franz von Sales fordert dazu auf, mit der Gnade Gottes an sich selbst zu arbeiten: »Wenn wir vom frommen Leben sprechen, dann meinen wir eine vollständige Erneuerung des Herzens und bedingungslose Hinwendung der Seele zu Gott.«

In den für seinen Stil charakteristischen unzähligen Bildern und Vergleichen hört sich dies so an: »An den Leidenschaften unserer Seele erkennen wir ihren Zustand, indem wir eine nach der anderen abtasten. Ein Lautenspieler zupft an allen Saiten seines Instruments und stimmt die falsch klingenden richtig, indem er sie straffer spannt oder die Spannung reduziert. So werden auch wir unsere Liebe, Ablehnung, Wünsche, Furcht, Hoffnung, Traurigkeit und Freude überprüfen und wenn wir finden, dass die eine oder andere dieser Seiten falsch gestimmt ist, dann werden wir sie auf die Melodie einstimmen, die wir spielen wollen, nämlich auf die Ehre Gottes. Seine Gnade und der Rat unseres Seelenführers werden uns dabei behilflich sein.«

An anderer Stelle steht die Uhr für das Herz, das man genauso wie die Uhr zur Reinigung und Reparatur gründlich auseinandernehmen und ölen müsse – durch die Sakramente der Beichte und der Eucharistie. Besonders häufig sind Vergleiche aus dem Leben der Bienen, Hinweise auf verschiedene Honigsorten… Man kann sich vorstellen, wie er sich mit den Imkern seiner Zeit unterhalten hat, etwas Interessantes erfuhr, und dies dann gleich in einen konkreten Ratschlag für das geistliche Leben umzusetzen wusste. Vielleicht hatte er sein Wissen aber auch aus Büchern, denn der Bischof von Genf war ein sehr belesener Mann, der in der Philothea das »eine oder andere schöne fromme Buch« empfiehlt, was eine ganz ansehnliche Liste ergibt. [Im Anhang der Neuausgabe findet man dazu hilfreiche Biographische Hinweise zu allen erwähnten Personen, von denen manche heute in Vergessenheit geraten sind.]

Franz von Sales gibt nützliche Ratschläge zu den verschiedensten Themen, die das alltägliche Leben in der Welt ausmachen. Er spricht über verschiedene Arten von Beziehungen von wahrer Freundschaft bis zum Flirten. In Bezug auf Letzteres warnt er vor heilloser Verstrickung: »In diesem Spiel ist gefangen, wer fängt.« Auch in Bezug auf Kleidung und Ernährung hat er interessante Hinweise zu bieten, die deutlich machen, dass die Menschen im
17. Jahrhundert wohl gar nicht so viel anders waren als heute. Beispiele für »alberne Kleidung«, wie er es nennt, kann man wohl noch heute in der Öffentlichkeit sehen. Auch damals bildete man sich etwas auf seine Gewänder ein: »Wie armselig, seinen Selbstwert von einem […] Stück Stoff herzuleiten!«, sagt der Autor der Philothea, ein Stück Designer-Stoff könnte man heute hinzufügen oder eben die richtige Marke.

Er gibt Ratschläge über das Reden, warnt vor Spott, voreiligem Urteilen, auch die üble Nachrede kriegt ihr Fett weg.

In Bezug auf das Essen – und die heutigen Essstörungen – hat er einen sehr einleuchtenden Rat: »Beständige und maßvolle Nüchternheit ist besser als wiederholtes hartes Fasten.« Er hat nichts gegen ein Festessen, aber warnt vor der ständigen Gier danach. Die »barocke Leibesfülle« kam nicht von ungefähr: Bei den prächtigen Festen wurde stundenlang getafelt. Aus einer zeitgenössischen Beschreibung erfährt man zum Beispiel, dass Weinfässer von bekränzten Ochsen mit vergoldeten Hörnern herbeigebracht wurden. Dahinter rollte auf Rädern ein Schiff heran, das mit Käse, Broten und erlegtem Wild behangen war. Es gab Bankette, auf denen Schwärme von Fasanen und Rudel von Rehen verspeist und zum Dessert Pyramiden von kandierten Früchten serviert wurden.

Ziel der Ratschläge

Wobei die Ratschläge des heiligen Franz von Sales ein Ziel haben, nämlich zu zeigen, worauf man sich einstellen muss, wenn man ein geistliches Leben führen und darin Fortschritte machen will. Das Ziel des Lebens wiederum ist es, alles auf Gott zu beziehen; was gegen dieses Ziel ist, ist sinnlos, es bedeutet, »sich mit gehaltlosen Dingen vollzusaugen«. Es geht darum, Jesus in das eigene Herz aufzunehmen: »Denn das Herz ist der Quell unserer Handlungen; sie werden so sein, wie unser Herz ist. […] Wahrlich, wer Jesus Christus in seinem Herzen trägt, zeigt ihn auch bald schon in all seinen äußeren Handlungen. Deshalb […] habe ich zuerst dieses heilige Wort in dein Herz schreiben und einprägen wollen: Es lebe Jesus!«

Dazu gibt es etwas, was für Franz von Sales »absolut notwendig« ist, nämlich eine Stunde Betrachtung am Tag, »am Besten in der Kirche, ungestört«, denn »wenn das jeder machen würde, würden andere sehen, dass Chris-ten beten, und die Christen würden sich ändern«. Zum betrachtenden Lesen des Wortes Gottes gibt der Autor den folgenden Ratschlag: »andächtig, es wie kostbaren Balsam ins Herz aufnehmen, jeden Tag ein bisschen.« Dem sei der Ratschlag der Herausgeber in der Einleitung hinzugefügt, wie man die Philothea lesen sollte: »Die Kapitel sind kurz und leicht fassbar, doch sollten sie nicht überstürzt in einem Zug durchgelesen werden. Man nehme sich eher täglich bloß ein Kapitel vor, überdenke anschließend die praktischen Implikationen auf das persönliche Leben und erwäge dies vor Gott. Und wenn Sie bei der letzten Seite der Philothea angekommen sind, beginnen Sie doch einfach wieder von Neuem.« Im Übrigen hat auch Franz von Sales die Abhandlung Lorenzo Scupolis über den geistlichen Kampf in seiner Studienzeit in Padua einmal im Monat ganz gelesen.

Nach 80 Jahren hat Dr. Alexander Wagensommer eine Neuübersetzung des Bestsellers vorgenommen, der den Text stellenweise schon durch die Wortwahl ins Heute übersetzt – Dinge, die es früher schon gab, aber vielleicht nicht so wichtig waren und auch nicht so genannt wurden, darunter Freizeitbeschäftigung (19. Jh.), gestresst, aus dem Englischen: Stress (gibt es seit den 1950-ern auf Deutsch), flirten (19. Jh.), Sport (19. Jh.).

Dass ein geistliches Leben trainiert werden muss, hat auch der Tweet des Papstes vom
17. Februar 2022 zum Inhalt. Wahrscheinlich hätte er Franz von Sales gefallen: »Die brüderliche Liebe ist wie ein Fitnessstudio des Geis-tes, wo wir uns Tag für Tag mit uns selbst auseinandersetzen und ein Thermometer für unser geistliches Leben haben.« Am Schluss aller Bemühungen soll nach Franz von Sales das Fazit stehen: »Unser Herz hat sich verändert. Ich gehöre dem Herrn.« Am Anfang stand der Entschluss: »Ich will fromm werden.« Auch weil Tugenden glücklich machen: »Wer nur wenige Laster hat, ist nicht glücklich, und wer davon viele hat, ist ausgesprochen unglücklich. Was aber die Tugenden betrifft, ist schon glücklich, wer auch nur wenige hat, und je mehr er darin fortschreitet, desto glücklicher machen sie ihn.« Worte des heiligen Franz von Sales.

Franz von Sales, Philothea. Anleitung zum frommen Leben; 410 S., Hardcover; ISBN: 978-3-903602-37-3; Be+Be-Verlag Heiligenkreuz 2022; 21,90 Euro.

Von Johanna Weißenberger