Die Heiligen sind eine faszinierende Erklärung des Evangeliums. Ihr Leben ist der privilegierte Punkt, von dem aus wir einen Blick auf die frohe Botschaft werfen können, die Jesus zu verkünden gekommen ist, nämlich dass Gott unser Vater ist und alle Menschen von ihm geliebt werden. Das ist das Herz des Evangeliums, und Jesus ist der Beweis dieser Liebe, ihre Fleischwerdung, ihr Antlitz.
Heute feiern wir die Eucharistie an einem Tag, der für diese Stadt und für diese Kirche eine ganz besondere Bedeutung hat: dem Tag der »Perdonanza Celestiniana«, der Coelestinischen Vergebungsfeier. Hier ruhen die Gebeine des heiligen Papstes Coelestin V. Dieser Mann scheint in Fülle das gelebt zu haben, was wir in der ersten Lesung gehört haben: »Je größer du bist, umso mehr demütige dich, und du wirst vor dem Herrn Gnade finden!« (Sir 3,18). Wir erinnern uns fälschlicherweise an die Person Coelestins V. als den, »der sich den großen Verzicht erlaubt hat«, wie es Dante in der Göttlichen Komödie ausdrückt. Aber Coelestin V. war nicht der Mann des Nein, er war der Mann des Ja.
Denn es gibt keinen anderen Weg, Gottes Willen zu erfüllen, als die Kraft der Demütigen anzunehmen, es gibt keinen anderen Weg. Gerade weil sie demütig sind, erscheinen sie in den Augen der Menschen als Schwache, als Verlierer. In Wahrheit aber sind sie die wahren Sieger, denn sie sind die einzigen, die ganz auf den Herrn vertrauen und seinen Willen kennen. Es ist in der Tat so, dass Gott »den Bescheidenen seine Geheimnisse offenbart. Denn von den Demütigen wird er gerühmt« (Sir 3,19-20). Im Geist der Welt, der vom Stolz beherrscht wird, lädt uns das Wort Gottes, das wir heute gehört haben, zu Demut und Sanftmut ein. Demut bedeutet nicht, sich selbst abzuwerten. Demut ist vielmehr jener gesunde Realismus, der uns unsere Möglichkeiten und auch unser Elebd erkennen lässt. Die Demut lässt uns – von unserem Elend ausgehend – den Blick von uns selbst abwenden und auf Gott richten, der alles vermag und uns auch das erlangt, was wir aus eigener Kraft nicht schaffen: »Alles kann, wer glaubt« (Mk 9,23).
Die Stärke der Demütigen ist der Herr – nicht Strategien, menschliche Mittel, die Logik dieser Welt, Kalkül… Nein, es ist der Herr. In diesem Sinne war Coelestin V. ein mutiger Zeuge des Evangeliums, denn keine Logik der Macht hat ihn gefangen nehmen, beherrschen können. In ihm bewundern wir eine Kirche, die frei ist von der Logik dieser Welt und Zeugnis ablegt für den Namen Gottes, der Barmherzigkeit ist. Das ist das Herzstück des Evangeliums, denn Barmherzigkeit bedeutet, dass wir uns auch in unserem Elend geliebt wissen. Das gehört zusammen. Man kann die Barmherzigkeit nicht verstehen, wenn man die eigene Armseligkeit nicht versteht. Gläubig zu sein bedeutet nicht, sich einem obskuren und angsteinflößenden Gott zu nähern. Im Hebräerbrief heißt es: »Denn ihr seid nicht zu einem sichtbaren, lodernden Feuer hinzugetreten, zu dunklen Wolken, zu Finsternis und Sturmwind, zum Klang der Posaunen und zum Schall der Worte, bei denen die Hörer flehten, diese Stimme solle nicht weiter zu ihnen reden« (12,18-19). Nein, liebe Brüder und Schwestern, wir haben uns an Jesus, den Sohn Gottes, gewandt, der die Barmherzigkeit des Vaters und die Liebe ist, die rettet. Die Barmherzigkeit ist er, und mit der Barmherzigkeit kann nur unser Elend sprechen. Wenn jemand von uns glaubt, er könne auf einem anderen Weg als dem des eigenen Elends zur Barmherzigkeit gelangen, hat er den falschen Weg eingeschlagen. Deshalb ist es wichtig, dass man seine eigene Realität versteht.
L’Aquila bewahrt seit Jahrhunderten das Geschenk, das Papst Coelestin V. dieser Stadt hinterlassen hat: Das Privileg, alle daran zu erinnern, dass das Leben eines jeden Mannes und einer jeden Frau mit Barmherzigkeit – und nur mit ihr – in Freude gelebt werden kann. Barmherzigkeit ist die Erfahrung, sich angenommen, wiederaufgerichtet, gestärkt, geheilt und ermutigt zu fühlen. Vergebung zu erlangen bedeutet, hier und jetzt das zu erleben, was der Auferstehung am nächsten kommt. Vergebung bedeutet, vom Tod zum Leben überzugehen, von der Erfahrung der Angst und der Schuld zur Erfahrung der Freiheit und der Freude. Möge dieses Gotteshaus immer ein Ort sein, an dem wir Versöhnung erlangen und die Gnade erfahren, die uns wieder aufstehen lässt und uns eine neue Chance gibt. Unser Gott ist der Gott der Möglichkeiten: »Wie oft, Herr? Einmal? Siebenmal?« – »Sieben mal siebzigmal.« Er ist der Gott, der dir immer eine neue Chance gibt. Es soll ein Gotteshaus der Vergebung sein, nicht nur einmal im Jahr, sondern immer. Denn so wird der Friede aufgebaut: durch
die Vergebung, die empfangen und gewährt wird.
Vom eigenen Elend ausgehen und dort suchen, wie man zur Vergebung gelangen kann, denn selbst im Elend finden wir immer ein Licht, das den Weg zum Herrn weist. Er ist es, der Licht ins Elend bringt. Daran habe ich zum Beispiel heute morgen gedacht, als wir in L’Aquila angekommen waren und nicht landen konnten: Dichter Nebel, alles zu, wir konnten nicht landen. Der Hubschrauberpilot drehte eine Runde nach der anderen... Schließlich sah er ein kleines Loch in den Wolken und hat die Gelegenheit ergriffen: und er konnte landen, ein Meister. Und da musste ich an das Elend denken: Mit dem Elend ist es dasselbe, mit dem eigenen Elend. Wie oft sehen wir, wer wir sind: nichts, weniger als nichts; und wir drehen uns im Kreis... Doch manchmal tut der Herr einen kleinen Spalt auf: Begib dich hinein, es sind die Wunden des Herrn! Dort ist die Barmherzigkeit, aber sie liegt in deinem Elend. Es gibt die Öffnung, die der Herr in deinem Elend für dich auftut, damit du eintreten kannst. Barmherzigkeit, die in dein Elend, in mein Elend, in unser Elend kommt.
Liebe Brüder und Schwestern, ihr habt sehr unter dem Erdbeben gelitten, und als Bevölkerung versucht ihr, wieder aufzustehen. Aber jene, die gelitten haben, müssen in der Lage sein, sich ihrem Leiden zu stellen; sie müssen verstehen, dass ihnen in der Dunkelheit, die sie erlebt haben, auch die Gabe geschenkt wurde, den Schmerz der anderen zu verstehen. Ihr könnt das Geschenk der Barmherzigkeit wertschätzen, weil ihr wisst, was es bedeutet, alles zu verlieren; zu sehen, wie das, was ihr aufgebaut habt, einstürzt; wie es sich anfühlt, alles was euch am Herzen lag, zurücklassen zu müssen – und die Leere zu spüren, die eure Lieben hinterlassen haben, die nicht mehr unter uns weilen. Ihr könnt die Barmherzigkeit schätzen, weil ihr das Elend erfahren habt.
Man muss aber nicht unbedingt ein Erdbeben erlebt haben, um zu wissen, wie sich ein »Erdbeben der Seele« anfühlt, das uns mit unserer eigenen Zerbrechlichkeit, unserer Begrenztheit, unserem Elend konfrontiert. Bei einer solchen Erfahrung kann man alles verlieren, aber man kann auch wahre Demut lernen. Und dann kann man mit dem Leben hadern – oder aber Sanftmut lernen. Demut und Sanftmut sind also die Merkmale dessen, der die Aufgabe hat, die Barmherzigkeit zu bewahren und zu bezeugen. Ja, denn die Barmherzigkeit, wenn sie uns zuteil wird, ist dazu da, dass wir sie bewahren, und auch, dass wir von dieser Barmherzigkeit Zeugnis ablegen. Sie ist ein Geschenk für mich, die Barmherzigkeit, für mich in meinem Elend, aber diese Barmherzigkeit muss auch an andere weitergegeben werden, als Geschenk des Herrn.
Es gibt jedoch eine Alarmglocke, die uns warnt, wenn wir auf dem falschen Weg sind, und das heutige Tagesevangelium erinnert uns daran (vgl. Lk 14,1.7-14). Jesus – so haben wir gehört – ist zum Essen bei einem Pharisäer eingeladen und beobachtet, wie viele Leute sich um die besten Plätze am Tisch drängen. Das veranlasst ihn, ein Gleichnis zu erzählen, das auch für uns heute gilt: »Wenn du von jemandem zu einer Hochzeit eingeladen bist, nimm nicht den Ehrenplatz ein! Denn es könnte ein anderer von ihm eingeladen sein, der vornehmer ist als du, und dann würde der Gastgeber, der dich und ihn eingeladen hat, kommen und zu dir sagen: Mach diesem hier Platz! Geh nach hinten. Du aber wärst beschämt und müsstest den untersten Platz einnehmen« (V. 8-9). Zu oft denken die Menschen, dass ihr Wert von dem Platz abhängt, den sie in dieser Welt einnehmen. Was den Menschen ausmacht, ist nicht der Platz, den er innehat, sondern die Freiheit, zu der er fähig ist und die er zum Ausdruck bringt, wenn er den letzten Platz einnimmt oder wenn ihm ein Platz am Kreuz vorbehalten ist.
Der Christ weiß, dass sein Leben keine Karriere nach dem Vorbild dieser Welt ist, sondern eine »Karriere« nach dem Vorbild Christi, der von sich selbst sagen wird, dass er gekommen ist, um zu dienen und nicht, um sich dienen zu lassen (vgl.
Mk 10,45). Solange wir nicht verstehen, dass die Revolution des Evangeliums in dieser Art von Freiheit liegt, werden wir weiterhin Zeugen von Kriegen, Gewalt und Ungerechtigkeit sein, die nichts anderes sind als das äußere Symptom eines Mangels an innerer Freiheit. Wo es keine innere Freiheit gibt, werden Egoismus, Individualismus, Eigennutz und Unterdrückung, all diesen Armseligkeiten, Tür und Tor geöffnet. Und sie, die Armseligkeiten, übernehmen das Kommando.
Brüder und Schwestern, möge L’Aquila wirklich eine Hauptstadt der Vergebung, eine Hauptstadt des Friedens und der Versöhnung sein! Möge L’Aquila allen jene Verwandlung bieten, die Maria im Magnifikat besingt: »Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen« (Lk 1,52); jene Verwandlung, an die uns Jesus im heutigen Evangelium erinnert hat: »Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden« (Lk 14,11). Und gerade Maria, die ihr mit dem Titel »Heil des Volkes von L’Aquila« verehrt, wollen wir den Entschluss anvertrauen, nach dem Evangelium zu leben. Möge ihre mütterliche Fürsprache Vergebung und Frieden für die ganze Welt erlangen. Das Wissen um die eigene Armseligkeit und die Schönheit der Barmherzigkeit.