Liebe Jungen und Mädchen,
guten Tag und herzlich willkommen!
Ich möchte Bischof Camillo Cibotti, dem Bischof von Isernia-Venafro, für seine Worte danken und vor allem dafür, dass er euch zusammen mit zahlreichen Priestern, Erziehern und Alpha-Leitern sowie dem Bürgermeister von Macchia d’Isernia, dem Ort eures Sommerlagers, begleitet hat. »Begleiten« ist ein Schlüsselwort für die Kirche! Begleiten.
Für einen Tag habt ihr die Hügel von Molise verlassen, um nach Rom zu kommen und dem Papst zu begegnen. Ich danke euch dafür! Ich empfinde es als ein Geschenk für mich und für die Kirche.
Ihr seid junge Menschen aus Italien und anderen europäischen Ländern. Ihr wurdet in einem Kontext geboren, der als »säkularisiert« definiert wird, das heißt in dem die Kultur nicht von der Dimension des Heiligen, sondern von den Realitäten der Welt beherrscht wird. Doch im menschlichen Herzen wird der Durst nach dem Unendlichen nie gestillt, auch in euch, die ihr mit der Informationstechnologie aufgewachsen seid, tauchen die großen Fragen aller Zeiten auf: Woher kommen wir? Was ist der Ursprung von allem? Was ist der Sinn meiner Exis-tenz? Und warum gibt es so viel Leid? Wa-rum trifft es auch die Kleinen und Wehrlosen?… Ihr sollt wissen, dass Gott die Fragen liebt, sehr liebt; und in gewisser Weise liebt er sie mehr als die Antworten. Warum? Doch das ist klar: da die Antworten geschlossen, die Fragen offen sind. Ein Mensch, der nur von Antworten lebt, ist ein Mensch, der es gewohnt ist, zu schließen, zu schließen, zu schließen. Ein Mensch, der von Fragen lebt, ist es gewohnt, sich zu öffnen, zu öffnen, zu öffnen. Und Gott liebt Fragen. In der Tat wandte sich Jesus eines Tages am Ufer des Jordans an die ersten beiden, die ihm folgten, mit den Worten: »Was sucht ihr?« (Joh 1,38): eine Frage. Bevor wir Antworten geben, lehrt uns Jesus, uns eine wesentliche Frage zu stellen: »Was suche ich?« Und jeder von uns muss sich diese Frage stellen: Was suche ich? Wenn man sich diese Frage stellt, ist man jung, auch wenn man achtzig Jahre alt ist. Und wenn einer nicht danach fragt, ist er alt, auch wenn er zwanzig ist. Seid ihr damit einverstanden?
Letzte Woche war ich in Kanada und habe die Ureinwohner getroffen, deren Vorfahren dieses Land vor der Kolonialisierung bewohnt haben. Sie sind Hüter der überlieferten Werte und Traditionen, leben aber in einem sehr modernen, sehr säkularisierten Land. Wenn ich euch jetzt anschaue, denke ich an die Jugend dieser indigenen Völker. So anders als ihr und doch so ähnlich, ich würde sogar sagen: so gleich. Gleich im Sinne des Menschseins, im Sinne dessen, was unser Menschsein ausmacht, das heißt unsere Beziehung zu Gott, zu den anderen, zur Schöpfung und zu uns selbst in Freiheit, in Unentgeltlichkeit, in der Selbsthingabe. Diese Beziehung drückt eine »Unvollständigkeit« aus, ein Verlangen nach Fülle, Fülle des Lebens, der Freude, des Sinns. Hier ist Jesus Christus die Fülle: Wir sind alle unvollendet, wir sind auf der Straße, auf dem Weg. Und dieses Bewusstsein müssen wir haben.
Deshalb habe ich vor einigen Jahren einen langen Brief an die jungen Menschen der Welt geschrieben, der mit den Worten beginnt: »Christus lebt. Er ist unsere Hoffnung, und er ist die schönste Jugend dieser Welt. Alles, was er berührt, verjüngt sich,
wird neu, füllt sich mit Leben. […] Er lebt und er will, dass du lebendig bist! Er ist in dir, er ist bei dir und verlässt dich nie. So sehr du dich auch entfernen magst, der Auferstandene ist an deiner Seite; er ruft dich und wartet auf dich, um neu zu beginnen. Wenn du dich aus Traurigkeit oder Groll, Furcht, Zweifel oder Versagen alt fühlst,
wird er da sein, um dir Kraft und Hoffnung
zurückzugeben« (Apostolisches Schreiben Chris-tus vivit, 1-2).
Das galt für Andreas und Johannes, für Simon und Jakobus, die Jünger und Apostel Jesu wurden. Und das gilt auch für mich, der ich eines Tages, als ich siebzehn war, den Ruf vernahm. Und das gilt für euch, für jeden einzelnen von uns, für euch, die Jungen und Mädchen des Internetzeitalters. Jesus bleibt immer der Anfang und das Ende, das Alpha und das Omega. Aber offen, auf dem Weg, immer. Nicht geschlossen.
Euer Camp heißt »Alpha«, wie die Methode der Evangelisierung, von der es inspiriert ist. Alpha ist ein Synonym für Geburt, für den Anfang, für den Anbruch des Lebens... Christus ist »Alpha«, also der Anfang, und er ist auch »Omega«, also das Ende, die Erfüllung, die Fülle. So kann dieser Mikrokosmos, der der Mensch ist, mit Christus aus dem Abgrund des Todes und des Negativen gerettet werden und in die Anziehungskraft Gottes, des Gottes des Lebens, des Gottes der Liebe eintreten. Vereint mit Jesus wird jeder von uns zu einem Samen, der dazu bestimmt ist, zu keimen, zu wachsen und Früchte zu tragen. Aber dazu wir müssen ihm folgen! Sagt nein zum Egoismus, sagt nein zur Selbstbezogenheit, sagt nein dazu, mehr zu scheinen als wir sind. Nein. Zu wissen, wie man bei jeder Verschlossenheit Nein sagen kann. Man selbst sein und sich nicht aufplustern, sich nicht einmal herabsetzen, sich als das erkennen, was man ist, das ist wahre Demut. Und angesichts des Bösen in uns und um uns herum nicht weglaufen, nicht der Realität ausweichen, sich nicht verschließen, sondern jeder seinen Teil der Verantwortung – Jesus sagt »sein Kreuz« – auf sich nehmen und es mit Liebe und Freude tragen. Nicht allein, nein, das ist nicht möglich: immer mit Jesus, er vorne und wir hinter ihm.
Das gibt uns Frieden, es gibt uns Sicherheit: Wir sind bei ihm, der uns kennt und uns mehr liebt als wir uns selbst, und der für jeden von uns eine ursprüngliche Fülle will, eine Fülle, die jedem einzelnen eigen ist. Gott will keine Fotokopien, sondern nur Originale. Wisst ihr, wer das zu sagen pflegte? Ein junger Mann, der selige Carlo Acutis. Ein italienischer Junge, geboren in England und aufgewachsen in Mailand, einer wie ihr, ein Kind dieser Zeit, ein Computergenie, vor allem aber verliebt in Jesus, verliebt in die Eucharistie, die er »die Straße zum Himmel« nannte. Das irdische Leben von Carlo war kurz, sehr kurz, aber es war erfüllt. Es war wie ein Wettlauf, ein Vorlauf zum Himmel. Er nahm den Anlauf am Tag seiner Erstkommunion, als er Jesus in seinem Leib und Blut begegnete. Ja, denn Jesus ist nicht eine Idee oder eine moralische Regel, nein, Jesus ist eine Person, ein Freund, ein Weggefährte.
Jungen und Mädchen, ich verabschiede euch nun in dieser Hitze mit diesem Wunsch: Möge Jesus euer großer Freund, euer Wegbegleiter werden. Möge der lebendige Jesus zu deinem Leben werden! Jeden Tag und für immer. Und ich greife den Spruch von Carlo Acutis auf: Bitte seid keine Foto-kopien, jeder von euch ist ein Original! Danke, dass ihr gekommen seid! Viel Spaß auf dem Camp und einen guten Weg!
(Orig. ital in O.R. 5.8.2022)