Im Folgenden veröffentlichen wir die Botschaft, die Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin im Namen des Papstes an den Bischof von Rimini, Francesco Lambiasi, gesandt hat. Das Meeting fand vom 20. bis 25. August statt und stand unter dem Thema »Eine Leidenschaft für den Menschen«.
Exzellenz!
Der Heilige Vater grüßt Sie herzlich und vertraut Ihnen durch mich diese Botschaft für das kommende Meeting für die Freundschaft zwischen den Völkern an, das den Titel trägt: »Eine Leidenschaft für den Menschen«. Zum 100. Geburtstag des Dieners Gottes Luigi Giussani möchten die Organisatoren mit Dankbarkeit an seinen apostolischen Eifer erinnern, der ihn drängte, vielen Menschen zu begegnen und einem jeden die Frohe Botschaft Jesu Christi zu bringen. Er sagte in seiner Ansprache zum Meeting im Jahr 1985: »Das Christentum ist nicht entstanden, um eine Religion zu gründen, es wurde als Leidenschaft für den Menschen geboren. […] Die Liebe zum Menschen, die Verehrung für den Menschen, die Zärtlichkeit gegenüber dem Menschen, die Leidenschaft für den Menschen, die absolute Wertschätzung des Menschen.«
Zuweilen mag es scheinen, als habe die Geschichte sich von diesem Blick Christi auf den Menschen abgewendet. Papst Franziskus hat dies bei zahlreichen Anlässen unterstrichen: »Die Verwundbarkeit unserer Zeit ist auch das: der mangelnde Glaube daran, dass es Erlösung gibt, eine Hand, die uns aufhebt, eine Umarmung, die uns rettet, vergibt, uns aufnimmt, uns mit unendlicher Liebe überschwemmt, geduldig und nachsichtig. Die uns wieder in die Spur setzt« (Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornielli, Penguin-Verlagsgruppe 2016, S. 31).
Das ist der schmerzlichste Aspekt der Erfahrung vieler, die während der Pandemie Einsamkeit erlebt haben oder die alles verlassen mussten, um vor der Gewalt des Krieges zu fliehen. So ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter heute mehr denn je ein Schlüsselwort, weil offensichtlich ist, dass »die Menschen in ihrem Inneren warten, dass der Samariter ihnen zu Hilfe kommt, sich über sie beugt, Öl über ihre Wunden gießt, für sie sorgt und sie in Sicherheit bringt. Letztlich wissen sie, dass sie die Barmherzigkeit Gottes und sein sanftes Mitgefühl brauchen, […], eine rettende ohne Gegenleistung geschenkte Liebe« (Interview mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI., in: Per mezzo della fede, Hg. Daniele Libanori, Cinisello Balsamo 2016, S. 129).
Das Evangelium zeigt den barmherzigen Samariter als Beispiel einer bedingungslosen Leidenschaft für jeden Bruder und jede Schwester, denen wir auf dem Weg begegnen, und daher steht es in tiefem Einklang mit dem Thema des Meetings: »Tragen wir Sorge für die Zerbrechlichkeit jedes Mannes, jeder Frau, jedes Kindes und jedes älteren Menschen mit dieser solidarischen und aufmerksamen Haltung der Nähe des barmherzigen Samariters« (Enzyklika Fratelli tutti, 79).
Es geht nicht nur um Großherzigkeit, die manchen mehr und anderen weniger zu eigen ist. Hier will Jesus uns die tiefe Wurzel der Geste des barmherzigen Samariters vor Augen stellen. Papst Franziskus beschreibt dies folgendermaßen: »Christus selbst in jedem verlassenen und ausgeschlossenen Bruder und in jeder verstoßenen oder vereinsamten Schwester wieder[…]erkennen (vgl. Mt 25,40.45). Tatsächlich bietet der Glaube wichtige Beweggründe für die Anerkennung des anderen; denn wer glaubt, kann erkennen, dass Gott jeden Menschen mit einer unendlichen Liebe liebt und dass er ihm dadurch unendliche Würde verleiht. Dazu kommt, dass wir glauben, dass Christus sein Blut für alle und für jeden Einzelnen vergossen hat und für ihn keiner von seiner allumfassenden Liebe ausgeschlossen bleibt« (ebd., 85).
Dieses Geheimnis führt uns immer wieder neu zum Staunen, wie Don Giussani in Gegenwart des heiligen Johannes Paul II. am 30. Mai 1998 bezeugt hat: »›Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?‹ Keine Frage hat mich in meinem Leben so getroffen wie diese. Es gab nur einen einzigen Gott-Menschen auf der Welt, der mir Antwort geben konnte, indem er eine neue Frage stellte: ›Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis könnte ein Mensch sein Leben zurückkaufen?‹ […] Christus allein nimmt sich alles an meiner Menschlichkeit zu Herzen« (Generare tracce nella storia del mondo, Mailand 2019, S. 7-8).
Diese Leidenschaft Christi für das Schicksal jedes einzelnen Geschöpfs muss den Blick des Glaubenden auf jeden Menschen beseelen: eine unentgeltliche Liebe, ohne Maß und ohne Kalkül. Aber, so fragen wir uns, scheint dies nicht eher eine fromme Absicht zu sein, angesichts dessen, was wir heute in der Welt geschehen sehen? Wie ist es im Kampf aller gegen alle, wo die Egoismen und Eigeninteressen die Agenda des Lebens der Einzelnen und der Nationen zu bestimmen scheinen, möglich, auf die Menschen in unserer Nähe so zu blicken, dass wir sie als zu achtendes Gut sehen, das wir hüten und für das wir sorgen müssen? Wie ist es möglich, die trennende Distanz zu überwinden? Die Pandemie und der Krieg scheinen den Graben vertieft zu haben, was Rückschritte auf dem Weg zu einer mehr vereinten und solidarischeren Menschheit bewirkt hat.
Aber wir wissen, dass der Weg der Geschwisterlichkeit nicht in den Wolken geschrieben steht: er durchquert die vielen geistlichen Wüsten, die es in unserer Gesellschaft gibt. Papst Benedikt XVI. hat gesagt: »In der Wüste entdeckt man wieder den Wert dessen, was zum Leben wesentlich ist; so gibt es in der heutigen Welt unzählige, oft implizit oder negativ ausgedrückte Zeichen des Durstes nach Gott, nach dem letzten Sinn des Lebens. Und in der Wüste braucht man vor allem glaubende Menschen, die mit ihrem eigenen Leben den Weg zum Land der Verheißung weisen und so die Hoffnung wach halten« (Predigt in der heiligen Messe zur Eröffnung des Jahrs des Glaubens, 11. Oktober 2012). Papst Franziskus wird nicht müde, auf den Weg hinzuweisen, der durch die Wüste führt und Leben schenkt: »Unser Einsatz besteht nicht ausschließlich in Taten oder in Förderungs- und Hilfsprogrammen; was der Heilige Geist in Gang setzt, ist nicht ein übertriebener Aktivismus, sondern vor allem eine aufmerksame Zuwendung zum anderen, indem man ihn als eines Wesens mit sich selbst betrachtet. Diese liebevolle Zuwendung ist der Anfang einer wahren Sorge um seine Person, und von dieser Basis aus bemühe ich mich dann wirklich um sein Wohl« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 199).
Dieses Bewusstsein wiederzuerlangen ist von entscheidender Bedeutung. Ein Mensch kann nicht allein den Weg der Selbstentdeckung gehen, die Begegnung mit dem anderen ist grundlegend. In diesem Sinne weist uns der barmherzige Samariter darauf hin, dass unser Leben eng verbunden ist mit dem der anderen und dass die Beziehung zum anderen die Bedingung ist, um ganz wir selbst zu werden und Frucht zu bringen. Als Gott uns das Leben geschenkt hat, hat er sich uns in gewisser Weise selbst geschenkt, damit wir uns unsererseits den anderen schenken: »Ein Mensch kann sich nur entwickeln, sich verwirklichen und Erfüllung finden in der aufrichtigen Hingabe seiner selbst« (Enzyklika Fratelli tutti, 87). Don Giussani fügte hinzu, dass die Liebe »ergriffene« Selbsthingabe ist. In der Tat ist es ergreifend, wenn wir daran denken, dass Gott, der Allmächtige, sich zu unserem Nichts herabgebeugt hat, Mitleid mit uns hatte und jeden einzelnen von uns mit ewiger Liebe liebt.
Was ist die Frucht derer, die sich in der Nachfolge Jesu selbst hingeben? »Ein gesellschaftlicher Zusammenhalt […], der niemanden ausschließt, und eine Geschwisterlichkeit, die für alle offen ist« (ebd., 94). Eine Umarmung, die die Mauern niederreißt und auf den anderen zugeht in dem Bewusstsein, welch großen Wert jeder einzelne konkrete Mensch hat, in welcher Situation auch immer er sich befinden mag. Eine Liebe zum anderen, so wie er ist: Geschöpf Gottes, geschaffen nach seinem Bild und ihm ähnlich, und daher mit einer unantastbaren Würde ausgestattet, über die niemand verfügen oder – schlimmer noch – sie missbrauchen darf.
Und dieser gesellschaftliche Zusammenhalt ist es, den wir als Gläubige mit unserem Zeugnis stärken sollen: »Die evangelisierende Gemeinde stellt sich durch Werke und Gesten in das Alltagsleben der anderen, verkürzt die Distanzen, erniedrigt sich nötigenfalls bis zur Demütigung und nimmt das menschliche Leben an, indem sie im Volk mit dem leidenden Leib Christi in Berührung kommt« (Evangelii gaudium, 24). Wie notwendig ist es doch, dass die Männer und Frauen unserer Zeit Menschen begegnen, die nicht Lehren vom Balkon aus erteilen, sondern die hinuntergehen in die Straßen, um die tägliche Mühe des Lebens zu teilen, gestützt auf eine verlässliche Hoffnung!
Papst Franziskus ruft die Christen immer wieder zu dieser historischen Aufgabe auf, zum Wohl aller und mit der Gewissheit, dass die Quelle der Würde jedes Menschen und die Möglichkeit einer universalen Geschwisterlichkeit das Evangelium Jesu ist, Fleisch geworden im Leben der christlichen Gemeinde: »Wenn die Musik des Evangeliums nicht mehr unser Inneres in Schwingung versetzt, werden wir die Freude verlieren, die aus dem Mitgefühl entsteht, die Zartheit, die aus dem Vertrauen kommt, die Fähigkeit zur Versöhnung, die ihre Quelle in dem Wissen hat, dass uns vergeben wurde und dass auch wir vergeben sollen. Wenn die Musik des Evangeliums in unseren Häusern, in der Öffentlichkeit, an unseren Arbeitsplätzen, in der Politik und der Wirtschaft nicht mehr zu hören ist, dann haben wir wohl die Melodie abgeschaltet, die uns herausfordert, für die Würde jedes Mannes und jeder Frau ungeachtet ihrer Herkunft zu kämpfen« (Ansprache bei der ökumenischen Begegnung in Riga, Lettland, 24. September 2018).
Der Heilige Vater wünscht, dass die Organisatoren und Teilnehmer am Meeting 2022 diesen Appell mit freudigem und bereitem Herzen aufnehmen und weiterhin mit der universalen Kirche auf dem Weg der Freundschaft zwischen den Völkern zusammenarbeiten, indem sie in der Welt die Leidenschaft für den Menschen verbreiten. Und während er dieses Anliegen der Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria anvertraut, sendet er von Herzen den Apostolischen Segen.
Meinerseits übermittle ich meine persönlichen guten Wünsche für ein Meeting, das den Erwartungen voll und ganz entsprechen möge, und verbleibe mit Gefühlen brüderlicher Ehrerbietung Ihr im Herrn ergebener
Pietro Kardinal Parolin
Kardinalstaatssekretär