Leitartikel des Direktors unserer Zeitung

Gemeinsam gehen, ja vielmehr fliegen

 Gemeinsam gehen, ja vielmehr fliegen  TED-033
19. August 2022

Am Ende der langen Pilgerreise der Buße von Papst Franziskus nach Kanada kommen einem die ersten Worte in den Sinn, die öffentlich gesagt worden sind: »Es ist eine große Ehre, Sie bei uns zu haben. Sie sind weit gereist, um bei uns zu sein in unserem Land und um mit uns den Weg der Versöhnung zu gehen.«

Chief Wilton Littlechild hat dies gesagt, einer der Anführer des Stammes der Cree. Sein Name lautet »Usow-Kihew«, das heißt »Goldener Adler«, und er ist ein ehemaliger Schüler des Internats von Ermineskin sowie Mitglied der Wahrheits- und Versöhnungskommission.

Sie hatten sich bereits im April im Vatikan getroffen, und er war es, der am 25. Juli auf der Ebene von Maskwacis den Reigen der Tänze dieser Apostolischen Reise eröffnet hatte. Außerdem war er bis Québec in zugleich diskreter und hartnäckiger Weise bei allen Ereignissen und Begegnungen anwesend. Ein lebendiges Bild für die mit Demut und Einfachheit verbundene Würde, das ist Littlechild, der in einem Interview mit Vatican News sofort den Geist dieser Reise des Papstes getroffen hat, die kein »Endpunkt« war, sondern vielmehr der erste Schritt in eine Zukunft der Heilung, der Versöhnung und der Hoffnung auf einem Seite an Seite zu gehenden Weg.

Er ist in seinem Volk ein sehr angesehener Anführer, was sich auch daran zeigte, dass viele Leute ihn baten, sich mit ihm fotografieren zu lassen, und er stimmte immer freundlich lächelnd zu.

Er war es, der stellvertretend für die anderen Ältesten mühsam die Treppe zur Bühne hinaufstieg (er geht mit Hilfe von zwei Krücken), und den Kopfschmuck aus Federn zum Papst brachte, der ihn aufsetzte, und alle haben bemerkt, dass in diesen Tagen eine echte Beziehung zwischen ihnen entstanden war, die über formale Herzlichkeit hinausging.

In der Kathedrale von Québec verabschiedeten und umarmten sich Franziskus und Wilton am Ende der Vesper wie zwei alte Freunde, und der Papst machte mit seinem Daumen ein Kreuzzeichen auf seine Stirn, als ob er auf eine Segensbitte antwortete, während die scharfen Augen des älteren Cree-
Anführers Dankbarkeit und reines Glück ausdrückten. In dieser sehr kurzen Szene, weit weg vom Rampenlicht, war Wilton wirklich gleichzeitig »Golden Eagle«, mit dem ganzen Stolz seines vom prächtigen Kopfschmuck umrahmten Gesichts, und Littlechild, ein kleines Kind, das die Wahrheit spürte und vor Freude übersprudelte. »Er hat einen weiten Weg zurückgelegt, um mit uns zu gehen«, hatte er dem Papst gesagt, aber diese Worte gelten schließlich auch für ihn. Beide haben Probleme beim Gehen: der eine auf Krücken, der andere im Rollstuhl. Dennoch haben sie dies getan, sie sind gemeinsam gegangen, von sehr weit her und mit einer sehr schweren Last auf den Schultern.

In dieser ersten kurzen Begrüßung erzählte Littlechild, dass er fast 7.000 Zeugnisse von ehemaligen Internatsschülern gehört hatte, und erkannte, als er die Gesten des Paps-tes sah und ihm in die Augen blickte, dass auch dieser »tief und mit großem Mitgefühl den Zeugnissen zuhörte, die davon berichteten, wie unsere Sprache unterdrückt, unsere Kultur von uns genommen und unsere Spiritualität verunglimpft wurde. Er spürte die Verwüstung, die der Zerstörung unserer Familien folgte.« Diese beiden älteren Menschen, die sich nur mühsam fortbewegen können, haben sich entschieden, gemeinsam und meist schweigend zu gehen. Wilton sah Franziskus in der Stille beten, am Ufer des Lac Ste. Anne, der seit Jahrtausenden, vielleicht seit der Erschaffung der Welt, dort liegt und der den Hirten der katholischen Kirche an das Bild des Sees von Galiläa erinnerte, wo das Christentum seine ersten Schritte machte.

Es gibt eine Quelle, aus der man schöpfen kann, um die Last des Lebens zu tragen, die manchmal überwältigend erscheint, eine Quelle, die es einem ermöglicht, jeden Tag neu anzufangen. Da ist diese wunderbare Gestalt des alten Cheyenne-Häuptlings in dem berühmten Film The Little Big Man (der 1970 einen Richtungswechsel in der bis dahin »manichäischen« Erzählung des Westernheldentums markierte), der seine Begegnung mit seinem weißen Freund Jack Crabb immer mit den Worten einleitet: »My heart soars high as a hawk« [»Mein Herz steigt auf wie der Falke«]. Die Annahme des Lebens (und des Lebens des anderen) als Geschenk ist hier die Quelle, die jedem Menschen die Kraft zurückgibt, sich seinem Schicksal freudig zu stellen.

In seiner Predigt bei der Vesper in der Kathedrale sprach der Papst von der christlichen Freude, die sich vereint »mit einer Erfahrung des Friedens, der in unserem Herzen bleibt, auch wenn wir von Prüfungen und Bedrängnissen heimgesucht werden, weil wir wissen, dass wir nicht allein sind, sondern von einem Gott begleitet werden, dem unser Schicksal nicht gleichgültig ist. Wie wenn das Meer rau ist: an der Oberfläche ist es stürmisch, aber in der Tiefe bleibt es ruhig und friedlich.«

Bei der letzten öffentlichen Begegnung dieser langen Reise lud der Papst die jungen Inuit in Iqaluit ein, sich in die Höhe aufzuschwingen. »Du bist dazu geschaffen, emporzufliegen, Mut zur Wahrheit zu fassen und die Schönheit der Gerechtigkeit zu fördern.«

Diese Worte richten sich an alle jungen Menschen, ob katholisch oder nicht, und sie sind auch an seinen Freund Wilton Littechild gerichtet, dessen Herz, als er sie hörte, sicherlich so hoch wie ein Adler geflogen ist.

Von Andrea Monda