Frau Generalgouverneurin,
Herr Premierminister,
liebe indigene Bevölkerungen von
Maskwacis und dieses kanadischen
Bodens, liebe Brüder und
liebe Schwestern!
Ich habe darauf gewartet, zu euch zu gelangen. Von hier aus, von diesem traurig stimmenden Ort, möchte ich mit dem beginnen, was ich innerlich beabsichtige: eine Bußwallfahrt. Ich komme in eure Heimat, um euch persönlich zu sagen, dass ich voller Kummer bin, und um Gott um Vergebung, Heilung und Versöhnung zu bitten, um euch meine Nähe zu zeigen, um mit euch und für euch zu beten.
Ich erinnere mich an die Begegnungen, die vor vier Monaten in Rom stattgefunden haben. Damals waren mir zwei Paar Mokassins als Pfand überreicht worden, die Zeichen für das Leid der indigenen Kinder sind, insbesondere derjenigen, die aus den Residential Schools leider nicht mehr nach Hause zurückkehrten. Man hatte mich gebeten, die Mokassins bei meiner Ankunft in Kanada zurückzugeben; ich habe sie mitgebracht und werde dies am Ende dieser Ansprache tun, bei der ich dieses Symbol als Ausgangspunkt nehmen möchte, das in mir in den letzten Monaten Schmerz, Empörung und Scham hervorgerufen hat. Die Erinnerung an diese Kinder erfüllt uns mit Trauer und ruft zum Handeln auf, damit jedes Kind mit Liebe, Würde und Respekt behandelt wird. Aber diese Mokassins erzählen uns auch von einer Reise, einem Weg, den wir gemeinsam beschreiten wollen. Gemeinsam gehen, gemeinsam beten, gemeinsam arbeiten, damit die Leiden der Vergangenheit einer Zukunft der Gerechtigkeit, Heilung und Versöhnung Platz machen.
Deshalb findet die erste Etappe meiner Pilgerreise unter euch in dieser Region statt, in der seit jeher die indigenen Bevölkerungen anwesend sind. Es ist ein Gebiet, das zu uns spricht, das uns gestattet, zu gedenken.
Gedenken: Brüder und Schwestern, ihr lebt seit Tausenden von Jahren auf diesem Boden mit einer Lebensweise, die die Erde selbst respektiert und die ihr von früheren Generationen geerbt habt und für künftige Generationen bewahrt. Ihr habt sie als ein Geschenk des Schöpfers behandelt, das mit anderen geteilt und in Harmonie mit allem, was existiert, geliebt werden soll, in einer lebendigen Verbindung zwischen allen Lebewesen. So habt ihr gelernt, einen Familien- und Gemeinschaftssinn zu pflegen und starke Bindungen zwischen den Generationen zu entwickeln, indem ihr die älteren Menschen ehrt und euch um die Kleinen sorgt. Wie viele gute Bräuche und Lehren, die sich auf die Aufmerksamkeit für die anderen und die Liebe zur Wahrheit, auf Mut und Respekt, auf Demut und Ehrlichkeit, auf Lebensweisheit stützen!
Aber wenn dies die ersten Schritte in diesen Gebieten waren, führt uns das Gedächtnis leider zu den nachfolgenden. Der Ort, an dem wir uns jetzt befinden, ruft in mir einen Schmerzensschrei hervor, einen unterdrückten Schrei, der mich in diesen Monaten begleitet hat. Ich denke an die Tragödie, die so viele von euch, eure Familien, eure Gemeinschaften erlitten haben; an das, was ihr mir über das Leid, das ihr in den Residential Schools ertragen musstet, erzählt habt. Dies sind traumatische Erfahrungen, die in gewisser Weise jedes Mal wieder durchlebt werden, wenn sie in Erinnerung gerufen werden, und ich bin mir bewusst, dass auch unsere heutige Begegnung Erinnerungen wachrufen, Wunden aufreißen kann und dass viele von euch Schwierigkeiten haben könnten, während ich spreche. Aber es ist richtig, zu gedenken, denn Vergessen führt zu Gleichgültigkeit, und, wie gesagt wurde, »das Gegenteil der Liebe ist nicht der Hass, sondern die Gleichgültigkeit … das Gegenteil des Lebens ist nicht der Tod, sondern die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben oder dem Tod« (E. Wiesel, 12. April 1999). Das Gedenken an die verheerenden Erfahrungen in den Residential Schools macht uns betroffen, empört uns, schmerzt uns, aber es ist notwendig.
Es ist notwendig, daran zu erinnern, dass die Politik der Assimilierung und Entrechtung (»enfranchisement«), zu der auch das System der Residential Schools gehörte, für die Menschen in diesen Gebieten verheerend war. Als die ersten europäischen Siedler dort ankamen, bot sich die große Chance, eine fruchtbare Begegnung von Kulturen, Traditionen und Spiritualität zu entwickeln. Dies ist jedoch größtenteils nicht geschehen. Und ich erinnere mich erneut an eure Berichte: wie die Assimilationspolitik dazu führte, dass die indigenen Völker systematisch an den Rand gedrängt wurden; wie auch durch das System der Residential Schools eure Sprachen und eure Kulturen verunglimpft und unterdrückt wurden; und wie Kinder körperlich und verbal, psychologisch und spirituell miss-handelt wurden; wie sie von klein auf von zu Hause weggeholt wurden und wie dies die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln unauslöschlich gezeichnet hat.
Ich danke euch, dass ihr all das in mein Herz habt eintreten lassen, dass ihr die schweren Bürden, die ihr tragt, hervorgeholt habt, dass ihr dieses blutende Gedächtnis mit mir geteilt habt. Ich bin heute hier, auf diesem Boden, der neben einem alten Gedächtnis die Narben noch offener Wunden trägt. Ich bin hier, weil der erste Schritt dieser Bußpilgerfahrt unter euch darin besteht, meine Bitte um Vergebung zu erneuern und euch von Herzen zu sagen, dass ich zutiefst betrübt bin: Ich bitte um Verzeihung für die Art und Weise, in der leider viele Christen die Mentalität der Kolonialisierung der Mächte unterstützt haben, die die indigenen Völker unterdrückt haben. Ich bin schmerzlich betrübt. Ich bitte um Vergebung, insbesondere für die Art und Weise, in der viele Mitglieder der Kirche und der Ordensgemeinschaften, auch durch Gleichgültigkeit, an den Projekten der kulturellen Zerstörung und der erzwungenen Assimilierung durch die damaligen Regierungen mitgewirkt haben, die im System der Residential Schools ihren Höhepunkt fanden.
Obgleich die christliche Nächstenliebe zugegen war und es nicht wenige vorbildliche Fälle der Einsatzbereitschaft für die Kinder gab, waren die Folgen der mit den Residential Schools verbundenen Politik insgesamt katastrophal. Der christliche Glaube sagt uns, dass dies ein verheerender Fehler war, der mit dem Evangelium von Jesus Christus unvereinbar ist. Es schmerzt, zu wissen, dass der feste Boden der Werte, der Sprache und der Kultur, der euren Bevölkerungen einen unverfälschten Sinn für die Identität verliehen hat – das schmerzt, zu wissen – ausgehöhlt wurde und dass ihr weiterhin den Preis dafür zahlt. Angesichts dieses empörenden Übels kniet die
Kirche vor Gott nieder und bittet um Vergebung für die Sünden ihrer Kinder (vgl. Johannes Paul II., Bulle Incarnationis mysterium
[29. November 1998], 11: AAS 91 [1999], 140). Ich möchte dies mit Beschämung und Klarheit wiederholen: Ich bitte demütig um Vergebung für das Böse, das von so vielen Christen an den indigenen Bevölkerungen begangen wurde.
Liebe Brüder und Schwestern, viele von euch und euren Vertretern haben gesagt, dass die Abbitte nicht ein Zielpunkt ist. Ich stimme voll und ganz zu: Sie stellt nur den ersten Schritt dar, den Ausgangspunkt. Ich bin mir auch bewusst: »Wenn wir auf die Vergangenheit blicken, ist es nie genug, was wir tun, wenn wir um Verzeihung bitten und versuchen, den entstandenen Schaden wiedergutzumachen. Schauen wir in die Zukunft, so wird es nie zu wenig sein, was wir tun können, um eine Kultur ins Leben zu rufen, die in der Lage ist, dass sich solche Situationen nicht nur nicht wiederholen, sondern auch keinen Raum finden« (Schreiben an das Volk Gottes, 20. August 2018). Ein wichtiger Teil dieses Prozesses ist, eine ernsthafte Suche nach der Wahrheit über die Vergangenheit durchzuführen und den Überlebenden der Residential Schools zu helfen, Heilungswege von den erlittenen traumatischen Erfahrungen zu beschreiten.
Ich bete und hoffe, dass die Christen und die Gesellschaft in diesem Land in ihrer Fähigkeit wachsen, die Identität und Erfahrung der indigenen Bevölkerungen anzunehmen und zu achten. Ich wünsche mir, dass konkrete Wege gefunden werden, sie kennen und schätzen zu lernen, wobei alle lernen müssen, miteinander zu gehen. Meinerseits werde ich weiterhin zum Einsatz aller Katholiken für die indigenen Völker ermutigen. Ich habe dies bei anderen Gelegenheiten und an verschiedenen Orten getan, durch Begegnungen, Appelle und auch durch ein Apostolisches Schreiben. Ich weiß, dass all dies Zeit und Geduld erfordert: Es handelt sich um Prozesse, die in die Herzen eintreten müssen, und meine Anwesenheit hier und das Engagement der kanadischen Bischöfe sind ein Zeugnis für den Willen, auf diesem Weg voranzuschreiten.
Liebe Freunde, diese Pilgerreise erstreckt sich über mehrere Tage und wird weit voneinander entfernte Orte erreichen. Dennoch wird es mir nicht möglich sein, den vielen Einladungen nachzukommen und Zentren wie Kamloops, Winnipeg, verschiedene Orte in Saskatchewan, dem Yukon und den Gebieten des Nordwestens zu besuchen. Auch wenn das nicht möglich ist, sollt ihr wissen, dass ich mit meinen Gedanken und meinem Gebet bei euch bin. Ihr sollt wissen, dass ich die Leiden, die traumatischen Erfahrungen und die Herausforderungen der indigenen Völker in allen Regionen dieses Landes kenne. Meine Worte, die ich auf diesem Weg der Buße gesprochen habe, richten sich an alle indigenen Gemeinschaften und Personen, die ich von Herzen umarme.
In dieser ersten Phase wollte ich Raum für das Gedächtnis schaffen. Heute bin ich hier, um an die Vergangenheit zu erinnern, um mit euch zu weinen, um in Stille auf die Erde zu blicken, um an den Gräbern zu beten. Lassen wir es zu, dass die Stille uns allen helfe, die Trauer zu verinnerlichen. Schweigen. Und Gebet: Beten wir angesichts des Bösen zum Herrn des Guten; beten wir angesichts des Todes zum Gott des Lebens. Der Herr Jesus Christus hat aus einem Grab, der Endstation der Hoffnung, angesichts dessen sich alle Träume aufgelöst hatten und nur noch Trauer, Schmerz und Resignation zurückblieben, aus einem Grab hat er den Ort der Neugeburt, der Auferstehung gemacht, von dem aus eine Geschichte des neuen Lebens und der universalen Versöhnung ausgegangen ist. Unsere Bemühungen genügen nicht, um zu heilen und zu versöhnen, es bedarf seiner Gnade: Es bedarf der milden und starken Weisheit des Geis-tes, der Zärtlichkeit des Trösters. Möge er derjenige sein, der die Erwartungen der Herzen erfüllt. Möge er uns an die Hand nehmen. Möge er derjenige sein, der uns gemeinsam gehen lässt.