Bei den Großeltern in die Schule gehen, um auf dem Weg der Geschichte fortzuschreiten

 Alla scuola dei nonni  per proseguire  nel cammino della storia  QUO-170
29. Juli 2022

Zu den Wurzeln zurückkehren, zur Quelle. Und zwar nicht aus nostalgischen Gründen, sondern um voranzugehen, um sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Am dritten Tag seiner Bußwallfahrt lädt uns Papst Franziskus in zwei verschiedenen liturgischen Momenten dazu ein, darüber nachzusinnen, wie wichtig, wie lebenswichtig ein gesunder Umgang mit der eigenen Vergangenheit, der eigenen Geschichte ist.

Beim ersten dieser Augenblicke - bei der am Vormittag gefeierten heiligen Messe aus Anlass des Gedenktags der heiligen Joachim und Anna im Commonwealth Stadium in Edmonton - sprach der Papst über die Großeltern und erinnerte uns dabei an zwei Aspekte: Erstens: »Wir sind Kinder einer Geschichte, die es zu hüten gilt. Wir sind keine isolierten Individuen, wir sind keine Inseln, niemand kommt losgelöst von den anderen auf die Welt. Unsere Wurzeln, die Liebe, die uns erwartet und die wir erhalten haben, als wir auf die Welt gekommen sind, das familiäre Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind, sind Teil einer einzigartigen Geschichte, die uns vorausgegangen und uns hervorgebracht hat. Wir haben sie uns nicht ausgesucht, sondern als Geschenk empfangen; und es ist ein Geschenk, das wir gerufen sind zu hüten.« Zweitens: »Wir sind nicht nur Kinder einer Geschichte, die es zu hüten gilt, sondern auch Handwerker einer Geschichte, die es aufzubauen gilt. […] Unsere Großeltern und ältere Menschen wünschten sich eine gerechtere, geschwisterlichere und solidarischere Welt und kämpften dafür, dass wir eine Zukunft haben. Jetzt liegt es an uns, sie nicht zu enttäuschen. […] Gestützt auf sie, […] die unsere Wurzeln sind, liegt es an uns, Früchte zu tragen. Wir sind die Zweige, die aufblühen und in der Geschichte neue Samen säen müssen.« Das Thema, um das es geht, ist jenes der Wurzeln, das Bild ist jenes des Baumes.

Am Montag hatte sich der Papst in der Herz-Jesu-Kirche in Edmonton vor dem Altar, der auf einem großen Baumstumpf errichtet worden war, bereits desselben Bildes bedient, als er über die Versöhnung und über Jesus sprach, »der uns miteinander am Kreuz versöhnt, an diesem Baum des Lebens, wie die frühen Christen ihn gerne nannten. […] Ihr, liebe indigene Brüder und Schwestern, habt viel zu lehren über die lebenswichtige Bedeutung des Baumes, der durch seine Wurzeln mit der Erde verbunden ist, durch seine Blätter Sauerstoff spendet und uns mit seinen Früchten ernährt. Und es ist schön, die Symbolik des Baumes in der Physiognomie dieser Kirche dargestellt zu sehen, wo ein Stamm den Boden mit einem Altar verbindet, auf dem Jesus uns in der Eucharistie versöhnt, ein »Akt der kosmischen Liebe«, der »Himmel und Erde vereint, die ganze Schöpfung umarmt« (Enzyklika Laudato si', 236). […] Und er ist es, der am Kreuz versöhnt, der wieder zusammenfügt, was undenkbar und unverzeihlich schien, der alle und alles umarmt.«

Auch in den Ansprachen des dritten Tages, scheinbar anderen Themen gewidmet, kehrt das zentrale Thema dieser Bußpilgerreise wieder. Als er über die Großeltern spricht, merkt der Papst an, dass »sie uns etwas weitergegeben [haben], was in uns niemals ausgelöscht werden kann, und gleichzeitig haben sie uns ermöglicht, einzigartige, eigenständige und freie Personen zu sein. So haben wir gerade von unseren Großeltern gelernt, dass Liebe niemals ein Zwang ist, dass sie den anderen niemals seiner inneren Freiheit beraubt«. Er spricht eben deshalb zu verwundeten Völkern, weil sie einen Prozess der Auslöschung ihrer eigenen Identität durchlitten haben, und hierauf bezieht sich die Lektion, die Franziskus nachdrücklich unterstreicht: »Lernen wir dies als Einzelne und als Kirche: Unterdrücken wir niemals das Gewissen der anderen, fesseln wir niemals die Freiheit unseres Gegenübers.«

Diese Zwänge und Unterdrückungen sind gerade an jenem Ort erfolgt, wo sie niemals hätten erfolgen dürfen, in der Schule. Bei der am Montag erfolgten Begegnung in der Herz-Jesu-Kirche hatte der Papst daran erinnert, dass »Erziehung immer von der Achtung und Förderung der in den Personen bereits vorhandenen Talente ausgehen [muss]. Sie ist nicht und kann nie etwas Vorgefertigtes sein, das man aufzwingt, denn die Erziehung ist das Abenteuer, das Geheimnis des Lebens gemeinsam zu erkunden und zu entdecken.« Die Schule ist gerade der Ort, wo Vergangenheit und Gegenwart einander begegnen. Und sie müssen immer zusammenbleiben, man kann die jungen Generationen nicht in die Zukunft führen, wenn man die Vergangenheit entwurzelt und auslöscht. Das ist die Tragödie, die sich in den Residential Schools in Kanada abgespielt hat. Ein tragischer, unsinniger Kurzschluss. Es ist, als komme man auch ohne die Großeltern aus, ja es ist, als »lösche« man sie in jenem Augenblick, in dem man zu wachsen beginnt. Der Papst hingegen zeigt uns den Wert der »Quelle«, des unerschöpflichen Quells der Liebe, der aus den Großeltern sprudelt, von denen wir abstammen: »Aus dieser Quelle finden wir Trost in Momenten der Entmutigung, Licht in der Unterscheidung, Mut, um die Herausforderungen des Lebens zu meistern.« Es ist die Zukunft, die die Vergangenheit wieder heraufbeschwört, die sie als grundlegende Ressource wieder aufleben lässt, wenn man die demütige Kraft hat, sich an diejenigen zu wenden, die uns vorausgegangen sind. Die »Schule« der Großeltern kann nicht versagen, und deshalb muss man, wenn sich die Zukunft drängend und beunruhigend präsentiert, »immer wieder in die Schule zurückkehren, in der wir die Liebe erlernt und erlebt haben. »Es bedeutet, dass wir uns bei den Entscheidungen, die wir heute zu treffen haben, fragen, was die weisesten älteren Menschen, die wir kennengelernt haben, an unserer Stelle tun würden, was unsere Großeltern und Urgroßeltern uns raten oder raten würden zu tun.«

Auch bei der zweiten, am Dienstag erfolgten Begegnung, die am Lac Ste Anne stattfand, hat der Papst über Wurzeln und Quellen gesprochen: »Wir [sind] nun hier, in der Stille, und betrachten das Wasser dieses Sees. Es hilft uns, auch zu den Quellen des Glaubens zurückzukehren. Es ermöglicht uns, in Gedanken zu den heiligen Stätten zu pilgern: Wir können uns Jesus vorstellen, der einen großen Teil seines Wirkens gerade an den Ufern eines Sees, dem See Gennesaret, ausgeübt hat.« Die Pilgerfahrt wird hier zu einer Reise der Einbildungskraft. »Wir können uns also jenen See, der Galiläisches Meer genannt wurde, als ein Kondensat von Unterschiedlichkeiten vorstellen: An seinen Ufern trafen Fischer und Zöllner aufeinander, Zenturien und Sklaven, Pharisäer und Arme, Männer und Frauen unterschiedlichster Herkunft und sozialer Schichten. Dort, genau dort, hat Jesus das Reich Gottes gepredigt: nicht ausgewählten religiösen Menschen, sondern verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die so wie heute von zahlreichen Gegenden herbeieilten; er hat alle willkommen geheißen und ihnen vor einer Naturbühne, so wie hier, gepredigt. Gott hat dieses vielseitige und heterogene Umfeld gewählt, um der Welt etwas Revolutionäres zu verkünden. […] So wurde gerade dieser See, ›ein Schmelztiegel der Verschiedenheiten‹, zum Schauplatz einer noch nie dagewesenen Verkündigung der Geschwisterlichkeit, einer Revolution ohne Tote und Verletzte, der Revolution der Liebe. Und hier, an den Ufern dieses Sees, versetzt uns der Klang der Trommeln, der die Jahrhunderte überdauert und die verschiedenen Völker vereint, bis in diese Zeit zurück. Er erinnert uns daran, dass die Geschwisterlichkeit echt ist, wenn sie diejenigen vereint, die weit voneinander entfernt sind, dass die Botschaft der Einheit, die der Himmel auf die Erde sendet, keine Angst vor Verschiedenheiten hat und uns zur Gemeinschaft einlädt, zur Gemeinschaft der Unterschiede, um gemeinsam wieder aufzubrechen, weil wir alle – alle! - Pilger auf dem Weg sind.«

Alle unterwegs, aber als Pilger, nicht als Herren der Welt, sondern als Menschen, die diese Welt zum Geschenk erhalten haben und die sie voller Dankbarkeit für die erhaltene Gabe fröhlich durchwandern. Und zwar alle gemeinsam: wir Zeitgenossen, verschieden und doch Brüder und Schwestern, »horizontal«, und »vertikal« im Hinblick auf jene, die uns vorhergegangen sind und diejenigen, die nach uns kommen werden und bereit sind, von uns jenen Reichtum der Weisheit zu empfangen, die wir unsererseits in der sicheren und liebevollen »Schule« unserer Vorfahren empfangen haben.

Von Andrea Monda


(Orig. ital. in O.R. 27.7.2022)