Zweimal spricht Maria im Magnificat von »Erbarmen«: »[Gott] erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten« (Lk 1,50) und »Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen« (Lk 1,54). Diese zwei Sätze sind zentral für das Verständnis des heutigen Evangeliums, denn dieses »Erbarmen«, von dem die Allzeitjungfräuliche spricht, diese Barmherzigkeit, ist die »Visitenkarte« Gottes.
Indem sich Gott am brennenden Dornbusch als der »Ich bin, der ich sein werde« (Ex 3,14) offenbart, stellt er sich als derjenige vor, der, aus Erbarmen mit Seinem Volk, eine unauflösliche Liebesbeziehung mit ihm eingehen möchte; eine Liebesbeziehung, von der, seit der Auferstehung Jesu Christi, kein Mensch auf Erden ausgenommen ist! Das ist die Barmherzigkeit Gottes!
Aus dem Lateinischen misericordia übersetzt, begegnet uns das Wort Erbarmen oder Barmherzigkeit im griechischen Urtext als eleos. Eleos wiederum ist die Übersetzung des Hebräischen rhm. Das Alte Testament verwendet rhm nur in Bezug auf Gott: Gott ist und handelt barmherzig. »Die Huld des Herrn währt immer und ewig für alle, die ihn fürchten und ehren« (Ps 103,17) und »[Gott denkt] an seine Huld und an seine Treue zum Hause Israel« (Ps 98,3). Hierauf bezieht sich Maria im Magnificat.
Der Stamm rhm bedeutet aber nicht nur »Barmherzigkeit« sondern auch »Mutterschoß«.
Dieser Gleichklang zwischen Ethik und Leib führt uns eine Gesellschaft vor Augen, die sich in ihrem Handeln als »Körper« versteht. Deshalb kann Paulus von dem »einen Leib« und den vielen »Gliedern des Leibes« Christi in Bezug auf die Gemeinde (vgl. 1Kor 12,12) sprechen. Wenn also Barmherzigkeit geübt wird, dann ist das etwas, was das Innerste des Leibes, die vitale Mitte – den mütterlichen Schoß, worin der neue Mensch heranwächst – betrifft. Wenn Gott sich seines Volkes erbarmt, dann empfindet er wie eine Mutter, der sich beim Anblick ihres ungehorsamen Sohnes der Mutterschoß zusammenkrampft vor Leid und Schmerz.
Genau dieser »mütterliche Schoß« krampft sich bei dem Samariter im heutigen Evangelium zusammen, der den halbtoten Mann am Wegesrand liegen sieht. Was für ein starkes Bild! Einem Mann zieht sich beim Anblick eines Leidenden der mütterliche Schoß, das Zentrum seiner Empfindung, zusammen: er erbarmt sich. Dadurch wird er Gott ähnlich.
Mit diesem Gleichnis führt Jesus dem jüdischen Gesetzeslehrer vor Augen, dass selbst ein Heide vom Gesetz Gottes mehr begriffen hat als der Priester und der Levit. Während der Heide nämlich nach dem Sinn des Wortes handelt, lehren jene das Wort, ohne danach zu handeln.
Br. Immanuel Lupardi OSB ist Missionsbenediktiner von St. Ottilien in Oberbayern und Student am Päpstlichen Athenäum Sant’Anselmo in Rom.