Bittgesuche von Juden an Papst Pius XII. online publiziert

Praktische Hilfe in der Not

 Praktische Hilfe in der Not  TED-027
08. Juli 2022

Das Historische Archiv des Staatssekretariats – Abteilung für Beziehungen zu den Staaten und internationalen Organisationen – veröffentlicht seit Juni den Bestand »Ebrei« (Juden). Den Grund für die Online-Publikation der Dokumente erläutert der »Außenminister« des Heiligen Stuhls im folgenden Artikel.

»Wenn ich Ihnen heute schreibe, dann nur, um Sie zu bitten, mir aus der Ferne zu helfen.« Tausende von archivierten Akten geben verzweifelten Hilferufen eine Stimme. So wie dieser von einem 23-jährigen deutschen Universitätsstudenten »israelitischer Herkunft«, der 1938 getauft wurde und am 17. Januar 1942 einen letzten Versuch unternahm, sich aus der Haft in einem Internierungslager in Miranda de Ebro, Spanien, zu befreien. Er hatte die Möglichkeit, zu seiner Mutter zu gehen, die 1939 nach Amerika geflohen war, »um ein neues Leben für mich vorzubereiten«, wie der junge Mann schrieb. Alles war bereit für die Abreise aus Lissabon. Es fehlte nur noch, dass »jemand von außen« eingriff, damit die Behörden seiner Ausreise zustimmten. »Es gibt wenig Hoffnung für diejenigen, die keine Hilfe von außen haben«, erklärt er mit wenigen, aber beredten Worten. Dann schreibt er an eine italienische Freundin und bittet sie um einen Gefallen: Sie möge Papst Pius XII. ersuchen, den Apostolischen Nuntius in Madrid zu seinen Gunsten intervenieren zu lassen, denn er weiß: »Durch diese Intervention aus Rom konnten andere das Internierungslager verlassen.«

In den beiden folgenden Dokumenten erfahren wir, dass sich das Staatssekretariat innerhalb weniger Tage mit dem Fall befasst und ihn dem Nuntius in Madrid zur Kenntnis gebracht hat. Dann verliert sich die Spur der Dokumente. Sie schweigen über das Schicksal des jungen deutschen Studenten. Wie bei den meisten anderen Bittschriften wird das Ergebnis des Gesuchs nicht mitgeteilt. Wir hoffen natürlich von Herzen, dass die Angelegenheit ein gutes Ende genommen hat und dass Werner Barasch – so der Name des Studenten – aus dem Internierungslager befreit wurde und zu seiner Mutter reisen konnte.

In diesem konkreten Fall erfüllt sich unsere Hoffnung: Eine Internetrecherche führt im Jahr 2001 auf seine Spur. Es gibt nicht nur eine Autobiographie, die seine Erinnerungen als Überlebender wiedergibt, sondern in den Online-Sammlungen des United States Holocaust Memorial Museum findet sich sogar ein Video mit einem langen Interview, in dem Werner Barasch seine unglaubliche Geschichte persönlich erzählt, im Alter von 82 Jahren (Oral History N. RG 050.477.0392). So erfahren wir, dass er im Jahr nach seinem Appell in einem Brief an den Papst aus dem Lager Miranda entlassen wurde und 1945 tatsächlich zu seiner Mutter in die Vereinigten Staaten reisen konnte. Dort setzte er sein Studium an der University of California, Berkeley, am Massachusetts Institute of Technology und an der University of Colorado fort. Anschließend arbeitete er als Chemiker in Kalifornien. Dank der immer reichhaltigeren Online-Ressourcen können wir dieses Mal aufatmen.

Es ist ein besonderes dokumentarisches Erbe, das sich von anderen Archivserien unterscheidet, schon durch den Namen, der ihm gegeben wurde: »Ebrei« (Juden). Ein wertvolles Erbe, weil es die Bitten um Hilfe sammelt, die getaufte und ungetaufte Juden nach dem Beginn der nationalsozialistischen und faschis-tischen Verfolgung an Papst Pius XII. richteten. Ein Erbe, das nun auf Wunsch von Papst Franziskus dank eines Projekts zur Veröffentlichung der vollständigen digitalisierten Version der Archivserie für die ganze Welt leicht zugänglich ist.

Es handelt sich um den Bestand »Ebrei« des Historischen Archivs des Staatssekretariats – Abteilung für Beziehungen zu den Staaten und internationalen Organisationen (ASRS). Die Reihe mit insgesamt 170 Bänden ist Teil der Sammlung »Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten (AA.EE.SS.) zum Pontifikat von Pius XII. – Teil 1 (1939-1948)« und kann bereits seit 2. März 2020 im Lesesaal des Historischen Archivs von Forschenden aus aller Welt eingesehen werden.

Die damalige Heilige Kongregation für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten (von der die Archivsammlung ihren Namen hat; sie entspricht einem Außenministerium) beauftragte einen diplomatischen Sachbearbeiter (Monsignore Angelo Dell’Acqua) mit der Verwaltung der Hilfsgesuche, die aus ganz Europa an den Papst gerichtet wurden. Ziel war es, jede mögliche Hilfe zu leisten.

Die Bitten betrafen die Erteilung von Visa oder Pässen für die Ausreise, die Suche nach Asyl, die Wiedervereinigung von Familien, die Befreiung aus der Haft und die Verlegung von einem Konzentrationslager in ein anderes, die Übermittlung von Nachrichten über deportierte Personen, die Lieferung von Lebensmitteln oder Kleidung, finanzielle Unterstützung, geistliche Hilfe und vieles mehr.

Jedes dieser Ersuchen bildet einen Fall ab, der nach seiner Bearbeitung in einer Dokumentationsreihe mit dem Titel »Ebrei« aufbewahrt wurde. Diese Reihe enthält mehr als 2.700 Fälle mit Hilfsgesuchen fast immer für ganze Familien oder Personengruppen. Tausende von Menschen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Religion oder auch nur wegen ihrer »nichtarischen« Abstammung verfolgt wurden, wandten sich an den Vatikan, wohl wissend, dass Andere Hilfe erhalten hatten, wie auch der junge Werner Barasch schreibt.

Die Bittschriften gingen beim Staatssekretariat ein, das auf diplomatischem Weg versuchte, jede ihm mögliche Hilfe zu leisten, wobei die Komplexität der politischen Situation im weltweiten Kontext zu berücksichtigen war.

Nachdem die Dokumente aus dem Pontifikat von Pius XII. im Jahr 2020 zur Konsultation freigegeben wurden, erhielt diese spezielle Namensliste in Anlehnung an »Schindlers Liste« den Titel »Pacellis Liste« (nach dem Familiennamen von Papst Pius XII.: Eugenio Pacelli). Zwar unterscheiden sich die beiden Fälle, doch bringt diese Parallele sehr gut die Vorstellung zum Ausdruck, dass Menschen an den Schalthebeln der Institution im Dienst des Papstes unermüdlich daran arbeiteten, Menschen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens praktische Hilfe zu leisten.

Seit Juni 2022 ist die »Ebrei«-Reihe in ihrer virtuellen Version auf der Website des His-torischen Archivs des Staatssekretariats – Abteilung für die Beziehungen zu den Staaten und internationalen Organisationen – frei zugänglich.

Neben der fotografischen Reproduktion jedes einzelnen Dokuments wird auch eine Datei mit dem analytischen Inventar der Serie, einschließlich aller Namen der in den Dokumenten erwähnten Hilfsempfänger, online verfügbar sein. 70 Prozent des Materials sind sofort online zugänglich, die letzten Bände sind derzeit in Bearbeitung und folgen in einem zweiten Schritt.

Zurück zum Bittgesuch von Werner Barasch: Die meisten der über 2.700 Fälle, die das Staatssekretariat erreicht haben und die die zahlreichen Geschichten von Fluchtversuchen vor rassistischer Verfolgung erzählen, lassen den Atem stocken, und nicht immer sind Quellen mit weiteren Informationen auffindbar. Die Bereitstellung der digitalisierten Version des gesamten »Ebrei«-Bestands im Internet soll es den Nachkommen der Bittsteller ermöglichen, weltweit die Spuren ihrer Angehörigen finden zu können. Gleichzeitig ermöglicht die Veröffentlichung des Bestands den Forschenden und allen Interessierten, dieses besondere archivarische Erbe frei einzusehen.

*Sekretär für die Beziehungen zu den Staaten und internationalen Organisationen im Staatssekretariat

Von Erzbischof Paul Richard Gallagher*