Der Klassiker unter den Klassikern

 Il classico dei classici  QUO-152
08. Juli 2022

Letzten Sonntag gedachte die Kirche der Gestalt des Apostels Thomas, des ungläubig-gläubigen Heiligen, der vielleicht besser als jeder andere Heilige für den Menschen aller Zeiten, vor allem aber für den Menschen dieses konfusen Zeitalters steht, in der wir leben müssen. Dem Thomas, genannt Didymos (altgriechisch für Zwilling) vielleicht gerade deshalb, weil er der Zwilling eines jeden von uns ist, bietet Jesus einen »Heimservice« an, indem er eigens für ihn zurückkommt, denn das ist es, was Jesus tut, der seine Gesprächspartner im Evangelium oft fragt: »Was willst du, dass ich für dich tue?«: ein freundlicher und großzügiger Knecht, ein Diener. Aber hier, acht Tage nach jenem Abend des Letzten Abendmahls, hat sich die göttliche Großzügigkeit selbst noch überboten durch diese Geste, die Wundmale zu zeigen, sich berühren zu lassen. Caravaggios unsterbliches Gemälde unterstreicht, dass Jesus selbst es ist, der uns (durch die Hand des Thomas) bei der Hand nimmt und uns ins Geheimnis vordringen lässt. Der Auferstandene ist ein und derselbe wie der Gekreuzigte und zeigt sich uns, um uns das Evangelium, die Frohe Botschaft, zu geben: der Tod ist tot.

Da kommt eine Reflexion von Alessandro d’Avenia in den Sinn, die von der Bedeutung des Adjektivs »klassisch« ausgeht, das man insbesondere auf Kunstwerke oder Werke der Literatur anzuwenden pflegt. D’Avenia zufolge bezeichnete dieses Wort in der Militärsprache der alten Römer einen Veteranen, der viele Schlachten überlebt hatte und von der Höhe seiner Erfahrung herab die jüngeren Soldaten eben dadurch ermutigte, dass er ihnen seine Narben zeigte, praktisch um zu sagen: Der Krieg ist hässlich und tut weh, aber man kann siegen. Es ist das Ebenbild, der Inbegriff der Literatur, der Erzählkunst: ich bin gesund und munter von dem Abenteuer zurückgekommen, ich habe dem Tod ins Auge geschaut, habe aber überlebt und kann jetzt davon erzählen. Die Literatur ist eine Frage der Heimkehrer bzw. Veteranen, und jede Geschichte ist eine Heilsgeschichte.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist Jesus der »Klassiker unter den Klassikern«, er, der als einziger vom Tod zurückgekommen ist, um uns zu sagen, dass dieser seinen Stachel verloren hat und nicht mehr das letzte Wort hat.

Und die Kirche, »Expertin der Menschlichkeit«, wie es der heilige Paul VI. formulierte, tut genau dasselbe: sie ermutigt die Menschen, indem sie die Narben nicht verbirgt, sondern zeigt, indem sie sie bei ihrem alltäglichen Kampf mit dem Geheimnis der Sterblichkeit, des Leidens und der Angst, die sich daraus ergibt, dass wir sterblich sind, ermutigt. Das sichtbare Haupt der Kirche, der Papst, ist am vergangenen 17. April an Ostern bei Gelegenheit der Botschaft Urbi et Orbi auf das Geschenk eingegangen, das Jesus seinen Freunden macht, als er sich unmittelbar nach seiner Auferstehung in Fleisch und Blut vor denen präsentiert, die ihren Augen noch nicht trauen können: den Frieden. Und er betont gerade diesen Aspekt der an diesem Tag für die Ewigkeit vorgezeigten und geradezu als Gabe, als Pfand dargebotenen Wundmale: »Nur er hat heute das Recht, uns den Frieden zu verkünden«, so bekräftigte Papst Franziskus. »Nur Jesus, denn er trägt die Wunden, unsere Wunden. Diese seine Wunden sind auf zweifache Weise die unseren: Sie sind die unseren, weil sie ihm von uns zugefügt wurden, von unseren Sünden, von unserer Herzenshärte, von brudermörderischem Hass; und sie sind die unseren, weil er sie für uns trägt, er hat sie nicht von seinem glorreichen Leib getilgt, er wollte sie für immer an sich behalten. Sie sind ein unauslöschliches Siegel seiner Liebe zu uns, als immerwährende Fürsprache, damit unser himmlischer Vater sie sieht und sich über uns und die ganze Welt erbarmt. Die Wunden am Leib des auferstandenen Jesus sind das Zeichen des Kampfes, den er für uns mit den Waffen der Liebe geführt und gewonnen hat, auf dass wir Frieden haben, in Frieden sein und in Frieden leben können.

Wenn wir auf diese glorreichen Wunden schauen, öffnen sich unsere ungläubigen Augen, unsere verhärteten Herzen lösen sich und lassen die Osterbotschaft eintreten: ›Friede sei mit euch!‹«.

Seit dem Beginn seines Pontifikats hat Papst Franziskus auf diesem Thema des »Fleisches Christi« bestanden und hat gebeten, ja gefleht, die Kraft zu finden, aus uns herauszugehen und auf die Brüder und Schwestern zuzugehen, die Letzten, die Armen, die heute und immer das Fleisch Christi sind. Heute, wo die ganze Welt, Europa inbegriffen, von den Wunden des Krieges zerrissen ist, von den eigenen vorgezeigten und berührten Wunden ausgehend neu anzufangen, die so zu Quellen der Heilung für die anderen werden, Das ist, so paradox das auch sein mag, der einzig mögliche wirklich menschliche Weg. Das ist die Straße, die der junge »Soldat« Thomas, unser Zwillingsbruder, eingeschlagen hat, ermutigt vom »Klassiker«, dem Kriegsveteranen Jesus, dem Sieger.

»Angesichts der anhaltenden Zeichen des Krieges«, so schloss der Papst seine Osterbotschaft, »wie auch der vielen schmerzhaften Niederlagen des Lebens ermutigt uns Christus, der Sieger über Sünde, Angst und Tod, nicht dem Bösen und der Gewalt nachzugeben. Brüder und Schwestern, lassen wir uns vom Frieden Christi überwältigen! Der Frieden ist möglich, der Frieden ist eine Pflicht, der Frieden ist die vorrangige Verantwortung aller!«

Von Andrea Monda