Botschaft von Papst Franziskus zum VI. Welttag der Armen am 13. November

Wie viele arme Menschen bringt der Wahnsinn des Krieges hervor!

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24. Juni 2022

Jesus Christus wurde euretwegen arm
(vgl. 2 Kor 8,9)

1. »Jesus Christus […] wurde euretwegen arm« (2 Kor 8,9). Mit diesen Worten wendet sich der Apostel Paulus an die ersten Chris-ten in Korinth, um ihr Engagement für die Solidarität mit ihren bedürftigen Brüdern und Schwestern zu begründen. Der Welttag der Armen ist auch in diesem Jahr wieder eine gesunde Provokation, um uns zu helfen, über unsere Lebensweise und die vielen Formen der Armut der Gegenwart nachzudenken.

Vor einigen Monaten begann die Welt langsam den Sturm der Pandemie hinter sich zu lassen und Anzeichen für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu zeigen, der Millionen von durch Arbeitsverlust verarmten Menschen Erleichterung bringen würde. Es zeigte sich ein vorsichtiger Optimismus, weil trotz der bleibenden schmerzlichen Erinnerung an den Verlust geliebter Menschen die Aussicht bestand, endlich zu direkten zwischenmenschlichen Beziehungen zurückzukehren, sich wieder ohne Zwänge und Einschränkungen zu begegnen. Und dann zeichnete sich eine neue Katastrophe am Horizont ab, die der Welt ein anderes Szenario aufzwingen sollte.

Der Krieg in der Ukraine reiht sich ein in die regionalen Kriege, die in den letzten Jahren Tod und Zerstörung gebracht haben. Hier ist das Bild jedoch komplexer, da eine »Supermacht« direkt eingreift und ihren Willen gegen den Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker durchsetzen will. Es wiederholen sich Szenen von tragischer Erinnerung, und wieder einmal überdeckt die gegenseitige Erpressung einiger weniger Mächtiger die Stimme der nach Frieden rufenden Menschheit.

2. Wie viele arme Menschen bringt der Wahnsinn des Krieges hervor! Wo immer wir unseren Blick hinwenden, sehen wir, wie die Gewalt die Wehrlosen und Schwächsten trifft. Es gibt Deportationen von Tausenden von Menschen, insbesondere von Kindern, um sie zu entwurzeln und ihnen eine andere Identität aufzuzwingen. Die Worte des Psalmisten angesichts der Zerstörung Jerusalems und des Exils der jungen Juden werden wieder aktuell: »An den Strömen von Babel, / da saßen wir und wir weinten, wenn wir Zions gedachten. An die Weiden in seiner Mitte hängten wir unsere Leiern. Denn dort verlangten, die uns gefangen hielten, Lieder von uns, / unsere Peiniger forderten Jubel […] Wie hätten wir singen können die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?« (Ps 137,1-4).

Millionen von Frauen, Kindern und älteren Menschen sind gezwungen, sich der Gefahr der Bomben auszusetzen, nur um sich in Sicherheit zu bringen und als Flüchtlinge in Nachbarländern Zuflucht zu suchen. Diejenigen, die in den Konfliktgebieten bleiben, leben jeden Tag in Angst und ohne Nahrung, Wasser, medizinische Versorgung und vor allem ohne ihre Lieben. In dieser Lage bleibt die Vernunft auf der Strecke, und die Leidtragenden sind viele einfache Menschen, die zu den ohnehin schon zahlreichen Notleidenden hinzukommen. Wie können wir so vielen Menschen in Ungewiss-heit und Unsicherheit eine angemessene Antwort geben, um Erleichterung und Frieden zu bringen?

3. In diesem widersprüchlichen Kontext findet der VI. Welttag der Armen statt, mit der vom Apostel Paulus aufgegriffenen Aufforderung, den Blick auf Jesus zu richten: er, »der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen« (2 Kor 8,9). Bei seinem Besuch in Jerusalem war Paulus auf Petrus, Jakobus und Johannes getroffen, die ihn gebeten hatten, die Armen nicht zu vergessen. Die Gemeinde in Jerusalem befand sich nämlich aufgrund der Hungersnot, die das Land heimgesucht hatte, in einer schwierigen Lage. Und der Apostel hatte sich sofort darum gekümmert, eine große Sammlung zugunsten dieser armen Menschen zu organisieren. Die Christen in Korinth erwiesen sich als sehr mitfühlend und hilfsbereit. Auf Anweisung von Paulus sammelten sie jeden ersten Tag der Woche, was sie angespart hatten, und alle waren sehr großzügig.

Als ob seit diesem Moment keine Zeit vergangen wäre, vollziehen auch wir jeden Sonntag während der Eucharistiefeier dieselbe Geste und legen unsere Gaben zusammen, damit die Gemeinschaft auf die Not der Ärmsten antworten kann. Es ist ein Zeichen, das die Christen immer mit Freude und Verantwortungsbewusstsein gesetzt haben, damit es keinem Bruder oder keiner Schwester an dem Nötigsten fehlt. Dies bezeugt bereits der Bericht des heiligen Justinus, der im zweiten Jahrhundert dem Kaiser Antoninus Pius die Sonntagsfeiern der Christen so beschrieb: »An dem Tage, den man Sonntag nennt, findet eine Versammlung aller statt, die in den Städten oder auf dem Lande wohnen; dabei werden die Erinnerungen der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es möglich ist. […]. Darauf findet die Austeilung und die Teilnahme an den durch die Danksagung geweihten Dingen statt. Den Abwesenden aber wird er durch die Diakonen gebracht. Wer aber die Mittel und guten Willen hat, gibt nach seinem Ermessen, was er will, und das, was da zusammenkommt, wird bei dem Vorsteher hinterlegt; dieser kommt damit Waisen und Witwen zu Hilfe, solchen, die wegen Krankheit oder aus sonst einem Grunde bedürftig sind, den Gefangenen und den Fremdlingen« (Erste Apologie, LXVII, 1-6).

4. Zurück zur Gemeinde in Korinth: Nach dem anfänglichen Enthusiasmus begann ihr Engagement zu erlahmen und die vom Apos-tel vorgeschlagene Initiative verlor an Schwung. Dies ist der Grund, warum Paulus in einem leidenschaftlichen Schreiben die Kollekte wieder neu anstößt: «jetzt sollt ihr das Begonnene zu Ende führen, damit das Ergebnis dem guten Willen entspricht – je nach eurem Besitz« (2 Kor 8,11).

Ich denke in diesem Moment an die Bereitschaft, die in den letzten Jahren ganze Nationen dazu bewegt hat, ihre Türen zu öffnen, um Millionen von Flüchtlingen aus den Kriegen im Nahen Osten, in Zentralafrika und jetzt in der Ukraine aufzunehmen. Die Familien haben ihre Häuser weit geöffnet, um Platz für andere Familien zu schaffen, und die Gemeinschaften haben viele Frauen und Kinder großzügig aufgenommen, um ihnen die ihnen gebührende Würde zukommen zu lassen. Je länger der Konflikt jedoch andauert, desto schlimmer werden seine Folgen. Für die Gastländer wird es immer schwieriger, kontinuierliche Hilfe zu leisten; Familien und Gemeinden beginnen, die Last einer Situation zu spüren, die über den Notfall hinausgeht. Jetzt ist es an der Zeit, nicht aufzugeben und die ursprüngliche Motivation zu erneuern. Was wir begonnen haben, muss mit der gleichen Verantwortung zu Ende geführt werden.

5. Solidarität bedeutet nämlich genau das: das Wenige, das wir besitzen, mit denen zu teilen, die nichts haben, damit niemand leidet. Je mehr der Sinn für die Gemeinschaft und das Miteinander als Lebensform wächst, desto mehr Solidarität entwickelt sich. Andererseits muss man bedenken, dass es Länder gibt, in denen in den letzten Jahrzehnten der Wohlstand vieler Familien erheblich gestiegen ist und sie einen gesicherten Lebensstandard erreicht haben. Dies ist ein positives Ergebnis von Privatinitiativen und Gesetzen, die das Wirtschaftswachstum unterstützt haben, kombiniert mit konkreten Anreizen für Familienpolitik und soziale Verantwortung. Das Kapital an Sicherheit und Stabilität, das erreicht wurde, möge nun mit denjenigen geteilt werden, die gezwungen waren, ihre Heimat und ihr Land zu verlassen, um sich zu retten und zu überleben. Als Mitglieder der Zivilgesellschaft müssen wir den Mahnruf zu den Werten der Freiheit, der Verantwortung, der Brüderlichkeit und der Solidarität lebendig erhalten. Und als Christen finden wir in der Nächstenliebe, im Glauben und in der Hoffnung stets die Grundlage unseres Seins und Handelns.

6. Es ist interessant, dass der Apostel die Christen nicht zu einem Werk der Nächstenliebe zwingen will. So schreibt er: »Ich meine das nicht als strenge Weisung« (2 Kor 8,8); vielmehr will er, dass sich ihre Liebe »als echt erweist« in der Fürsorge und im
Eifer für die Armen (vgl. ebd.). Die Grundlage der Bitte des Paulus ist sicherlich das Bedürfnis nach konkreter Hilfe, aber seine Absicht geht darüber hinaus. Er ruft dazu auf, dass die Kollekte ein Zeichen der Liebe sein soll, wie sie von Jesus selbst bezeugt wurde. Kurz gesagt, die Großzügigkeit gegenüber den Armen findet ihre stärkste Motivation in der Entscheidung des Gottessohnes, der sich selbst arm machen wollte.

Der Apostel scheut sich in der Tat nicht zu bekräftigen, dass diese Wahl Christi, diese »Erniedrigung« seiner selbst, eine Gnade ist, ja »die Gnade unseres Herrn Jesus Christus« (2 Kor 8,9), und nur wenn wir sie für uns annehmen, können wir unserem Glauben konkreten und kohärenten Ausdruck verleihen. Die Lehre des gesamten Neuen Testaments schöpft ihre Einheit aus diesem Thema, das sich auch in den Worten des Apostels Jakobus widerspiegelt: »Werdet aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer, sonst betrügt ihr euch selbst! Wer nur Hörer des Wortes ist und nicht danach handelt, gleicht einem Menschen, der sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet: Er betrachtet sich, geht weg und schon hat er vergessen, wie er aussah. Wer sich aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit vertieft und an ihm festhält, wer es nicht nur hört und es wieder vergisst, sondern zum Täter des Werkes geworden ist, wird selig sein in seinem Tun« (Jak 1,22-25).

7. Angesichts der Armen nützen keine großen Worte, sondern man krempelt die Ärmel hoch und setzt den Glauben durch das persönliche Engagement in die Praxis um, welches nicht an andere delegiert werden kann. Manchmal kann jedoch eine gewisse Laxheit eintreten, die zu inkonsequentem Verhalten führt, zum Beispiel zu Gleichgültigkeit gegenüber den Armen. Es kommt auch vor, dass sich einige Christen aufgrund einer übermäßigen Anhänglichkeit an Geld in den Missbrauch von Gütern und Vermögenswerten verstricken. Dies sind Situationen, die einen schwachen Glauben und eine träge und kurzsichtige Hoffnung offenbaren.

Wir wissen, dass das Problem nicht das Geld selbst ist, denn es ist Teil des täglichen Lebens und der sozialen Beziehungen der Menschen. Wir müssen vielmehr über den Wert nachdenken, den das Geld für uns hat: Es darf nicht zu einem absoluten Wert werden, als ob es der Hauptzweck wäre. Eine solche Anhänglichkeit hindert uns daran, den Alltag realistisch zu betrachten, und vernebelt unsere Sicht, so dass wir die Bedürfnisse anderer nicht erkennen können. Es gibt nichts Schädlicheres für einen Christen und eine Gemeinschaft, als sich vom Götzen des Reichtums blenden zu lassen, der einen an eine oberflächliche und zum Scheitern verurteilte Lebenseinstellung bindet.

Es geht also nicht um eine Wohlfahrtsmentalität gegenüber den Armen, wie es oft der Fall ist, sondern es geht darum, sich dafür einzusetzen, dass es niemandem am Nötigs-ten fehlt. Es ist nicht der Aktivismus, der rettet, sondern die aufrichtige und großherzige Aufmerksamkeit, mit der man sich einem armen Menschen als Bruder nähert, der seine Hand ausstreckt, damit ich aus der Lähmung, in die ich gefallen bin, erwache. Daher gilt: »Niemand dürfte sagen, dass er sich von den Armen fernhält, weil seine Lebensentscheidungen es mit sich bringen, anderen Aufgaben mehr Achtung zu schenken. Das ist eine in akademischen, unternehmerischen oder beruflichen und sogar kirchlichen Kreisen häufige Entschuldigung. […] [Es] darf sich niemand von der Sorge um die Armen und um die soziale Gerechtigkeit freigestellt fühlen« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 201). Es ist dringend notwendig, neue Wege zu finden, die über den Ansatz jener Sozialpolitiken hinausgehen, die »verstanden wird als eine Politik »gegenüber« den Armen, aber nie »mit« den Armen, die nie die Politik »der« Armen ist und schon gar nicht in einen Plan integriert ist, der die Völker wieder miteinander vereint« (Enzyklika Fratelli tutti, 169). Stattdessen müssen wir nach der Haltung des Apostels streben, der an die Korinther schreiben konnte: »Denn es geht nicht darum, dass ihr in Not geratet, indem ihr anderen helft; es geht um einen Ausgleich« (2 Kor 8,13).

8. Es gibt ein Paradoxon, das heute wie damals schwer zu akzeptieren ist, weil es der menschlichen Logik widerspricht: Es gibt eine Armut, die reich macht. Indem er an die »Gnade« Jesu Christi erinnert, will Paulus bekräftigen, was er selbst gepredigt hat, nämlich dass der wahre Reichtum nicht in der Ansammlung von »Schätze[n] hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen« (Mt 6,19) besteht, sondern in der gegenseitigen Liebe, die uns dazu motiviert, die Lasten des anderen zu tragen, damit niemand im Stich gelassen oder ausgeschlossen wird. Die Erfahrung von Schwäche und Begrenztheit, die wir in den letzten Jahren gemacht haben, und nun die Tragödie eines Krieges mit globalen Auswirkungen müssen uns etwas Entscheidendes lehren: Wir sind nicht auf dieser Welt, um zu überleben, sondern damit allen ein würdiges und glückliches Leben ermöglicht wird. Die Botschaft Jesu zeigt uns den Weg und lässt uns entdecken, dass es eine Armut gibt, die erniedrigt und tötet, und eine andere Armut, seine eigene, die befreit und gelassen macht.

Die Armut, welche tötet, ist das Elend, das Ergebnis von Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Gewalt und ungerechter Verteilung der Ressourcen. Das ist die verzweifelte Armut, die keine Zukunft hat, weil sie von der Wegwerfkultur aufgezwungen wird, die weder Perspektiven noch Auswege bietet. Das ist die Armut, welche Menschen in extreme Bedürftigkeit bringt und dadurch auch die spirituelle Dimension untergräbt, die, auch wenn sie oft übersehen wird, existiert und zählt. Wenn das einzige Gesetz die Gewinnberechnung am Ende des Tages ist, dann gibt es keine Hemmungen mehr, der Logik der Ausbeutung von Menschen zu folgen: die Anderen sind nur Mittel. Gerechte Löhne, gerechte Arbeitszeiten gibt es nicht mehr, und es werden neue Formen der Sklaverei geschaffen, unter denen die Menschen leiden, die keine Alternative haben und diese bittere Ungerechtigkeit hinnehmen müssen, um das Exis-tenzminimum zusammenzukratzen.

Dagegen ist die Armut, die befreit, diejenige, die sich uns als verantwortungsvolle Entscheidung präsentiert, um Ballast abzuwerfen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. In der Tat kann man bei vielen Menschen leicht Unzufriedenheit erkennen, weil sie das Gefühl haben, dass etwas Wichtiges fehlt und sie sich wie ziellose Wanderer auf die Suche danach begeben. Auf der Suche nach dem, was sie befriedigen kann, müssen sie sich den Geringen, Schwachen und Armen zuwenden, um so endlich zu begreifen, was sie wirklich brauchen. Die Begegnung mit den Armen ermöglicht es, viele Ängste und substanzlose Befürchtungen zu überwinden und zu dem vorzustoßen, was im Leben wirklich zählt und was uns niemand wegnehmen kann: die wahre und unentgeltliche Liebe. Die Armen sind in der Tat, noch bevor sie Empfänger unserer Almosen sind, Individuen, die uns helfen, uns von den Fesseln der Rastlosigkeit und der Oberflächlichkeit zu befreien.

Johannes Chrysostomus, ein Kirchenvater und Kirchenlehrer, der in seinen Schriften das Verhalten der Christen gegenüber den Armen scharf anprangert, schrieb: »Wenn du nicht vertraust, dass Armut Reichtum bewirken kann, so denke an deinen Herrn und höre auf, zu zweifeln. Denn wäre der Herr nicht arm geworden, so wärest du nicht reich geworden. Das ist gerade das Wunderbare, dass die Armut Reichtum erzeugt hat. Unter Reichtum versteht aber hier der Apostel die Gottseligkeit, die Reinigung von Sünden, die Gerechtigkeit und Heiligkeit und all jene unzähligen Güter, die der Herr uns schon gewährt hat und noch gewähren wird. Und all dieses ist uns aus der Armut erwachsen« (Homilien über den Zweiten Korintherbrief, 17.1).

9. Der Text des Apostels, auf den sich dieser VI. Welttag der Armen bezieht, zeigt das große Paradox des Glaubenslebens: Die Armut Christi macht uns reich. Paulus konnte diese Lehre weitergeben – und die Kirche kann sie verbreiten und über die Jahrhunderte hinweg bezeugen –, weil Gott in seinem Sohn Jesus diesen Weg gewählt hat und ihn gegangen ist. Weil er für uns arm geworden ist, wird unser Leben erhellt und verwandelt und erhält einen Wert, den die Welt nicht kennt und nicht geben kann. Der Reichtum Jesu besteht in seiner Liebe, die sich niemandem verschließt und allen entgegenkommt, vor allem diejenigen, die an den Rand gedrängt und des Nötigsten beraubt sind. Aus Liebe hat er sich erniedrigt und menschliche Gestalt angenommen. Aus Liebe wurde er ein gehorsamer Diener, bis hin zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,6-8). Aus Liebe wurde er zum »Brot des Lebens« (Joh 6,35), damit niemandem das Lebensnotwendige fehlt und er die Nahrung für das ewige Leben finden kann. So wie damals für die Jünger des Herrn scheint es auch heute noch schwierig zu sein, diese Lehre zu akzeptieren (vgl. Joh 6,60); aber das Wort Jesu ist deutlich. Wenn wir wollen, dass das Leben über den Tod triumphiert und die Würde von der Ungerechtigkeit befreit wird, dann ist der Weg der seine: Er besteht darin, der Armut Jesu Christi zu folgen, das Leben aus Liebe zu teilen, das Brot der eigenen Existenz mit den Brüdern und Schwestern zu brechen, angefangen bei den Geringsten, bei denen, denen das Nötigs-te fehlt, damit Gleichheit erreicht wird, die Armen vom Elend und die Reichen von der Selbstgefälligkeit befreit werden, die beide hoffnungslos sind.

10. Am 15. Mai habe ich Bruder Charles de Foucauld heiliggesprochen, einen Mann, der reich geboren wurde und auf alles verzichtete, um Jesus zu folgen und mit ihm arm und ein Bruder für alle zu werden. Sein Einsiedlerleben, zunächst in Nazareth und dann in der Wüste der Sahara, das aus Schweigen, Gebet und Teilen bestand, ist ein beispielhaftes Zeugnis christlicher Armut. Es wird uns guttun, über diese Worte von ihm nachzudenken: »Verachten wir nicht die Armen, die Kleinen, die Arbeiter; sie sind nicht nur unsere Brüder in Gott, sondern auch diejenigen, die Jesus in seinem äußeren Leben am vollkommensten nachahmen. Sie stellen genau Jesus, den Arbeiter von Nazareth, dar. Sie sind die Erstgeborenen unter den Auserwählten, die ersten, die an die Wiege des Erlösers gerufen wurden. Sie waren der alltägliche Umgang Jesu, von seiner Geburt bis zu seinem Tod […]. Lasst uns sie ehren, lasst uns in ihnen die Bilder Jesu und seiner heiligen Eltern ehren […]. Lasst uns für uns selbst [die Bedingung] annehmen, die er für sich selbst angenommen hat […]. Lasst uns nie aufhören, in allem arm zu sein, Brüder der Armen, Gefährten der Armen, lasst uns wie Jesus die Ärmsten der Armen sein, und wie er lasst uns die Armen lieben und uns mit ihnen umgeben« (Kommentare zum Lukas-evangelium, Meditation 263).1 Für Bruder Charles waren dies nicht nur Worte, sondern eine konkrete Lebensweise, die ihn dazu brachte, mit Jesus die Hingabe des Lebens selbst zu teilen.

Möge dieser VI. Welttag der Armen zu einer Gelegenheit der Gnade werden, eine persönliche und gemeinschaftliche Gewissens-prüfung vorzunehmen und uns zu fragen, ob die Armut Jesu Christi unser treuer Begleiter im Leben ist.

Rom, St. Johannes im Lateran,

13. Juni 2022,

Gedenktag des heiligen Antonius von Padua.

1 Meditation Nr. 263 über Lk 2,8-20: Ch. de Foucauld, La Bonté de Dieu. Méditations sur les saints Evangiles (1), Nouvelle Cité, Montrouge 1996, 214-216.