Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Unter den Gestalten älterer Menschen, die in den Evangelien am bedeutsamsten sind, ist Nikodemus – ein führender Mann unter den Juden –, der Jesus kennenlernen wollte, ihn aber im Verborgenen bei Nacht aufsuchte (vgl. Joh 3,1-21). Im Gespräch Jesu mit Nikodemus kommt das Herzstück der Offenbarung Jesu und seiner Erlösungssendung zum Vorschein, wenn er sagt: »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat« (V. 16).
Jesus sagt zu Nikodemus, dass man, um das Reich Gottes zu sehen, »von oben geboren« werden muss (vgl. V. 3). Es geht nicht darum, wieder von vorn anzufangen, geboren zu werden, unsere Ankunft in der Welt zu wiederholen, in der Hoffnung, dass eine Reinkarnation uns erneut die Möglichkeit für ein besseres Leben öffnet. Diese Wiederholung ist sinnlos. Ja, sie würde sogar das gelebte Leben jeglichen Sinnes entleeren und es auslöschen, als wäre es ein gescheitertes Experiment, ein nicht mehr gültiger Wert, eine Wegwerfhülle. Nein, das ist sie nicht, diese Neugeburt, von der Jesus spricht: Sie ist etwas anderes. Dieses Leben ist kostbar in den Augen Gottes: Es identifiziert uns als von ihm zärtlich geliebte Geschöpfe. Die »Geburt von oben«, die es uns gestattet, in das Reich Gottes »zu kommen«, ist eine Zeugung im Geist, ein Hindurchgehen durch das Wasser in das gelobte Land einer mit Gottes Liebe versöhnten Schöpfung. Es ist eine Neugeburt von oben, mit der Gnade Gottes. Es bedeutet nicht, physisch noch einmal neu geboren zu werden.
Nikodemus versteht diese Geburt falsch und zieht als Beleg für ihre Unmöglichkeit das hohe Alter heran: Der Mensch altert unvermeidlich, der Traum von der ewigen
Jugend entfernt sich endgültig, jede Geburt in der Zeit mündet schließlich in den Verfall. Wie lässt sich eine Bestimmung vorstellen, die die Form der Geburt hat? Nikodemus denkt so und weiß nicht, wie er die Worte Jesu verstehen soll. Was ist diese Neugeburt?
Nikodemus’ Einwand ist sehr lehrreich für uns. Denn wir können ihn umdrehen, im Licht des Wortes Jesu, in die Entdeckung einer Sendung, die dem Alter zu eigen ist. Denn alt zu sein ist nicht nur kein Hindernis für die Geburt von oben, von der Jesus spricht, sondern es wird zur günstigen Zeit, um diese zu erleuchten, indem man sie vom Missverständnis einer verlorenen Hoffnung löst. Unsere Zeit und unsere Kultur, die eine besorgniserregende Tendenz aufzeigen, die Geburt eines Kindes einfach nur als Frage der biologischen Produktion und Reproduktion des Menschen zu betrachten, hegen au-ßerdem den Mythos der ewigen Jugend als – verzweifelte – Obsession eines unverderblichen Fleisches. Denn das Alter wird – auf vielerlei Weise – verachtet. Denn es trägt den unwiderlegbaren Beweis für den Abschied von diesem Mythos in sich, der uns in den Mutterleib zurückkehren lassen möchte, um immer wieder jung im Leib zu werden.
Die Technik lässt sich auf jede Weise von diesem Mythos anziehen: In der Erwartung, den Tod zu besiegen, können wir den Leib mit Medizin und Kosmetik, die das Altern verlangsamen, verbergen, hinwegnehmen, am Leben erhalten. Natürlich ist eine Sache das Wohlergehen, eine andere Sache die Speisung des Mythos. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die Verwechslung der beiden Aspekte bei uns eine gewisse geistige Verwirrung schafft. Das Wohlergehen mit der Speisung des Mythos der ewigen Jugend verwechseln. Es wird viel getan, um immer diese Jugend zurückzuerlangen: viel Kosmetik, viele chirurgische Eingriffe, um jung zu erscheinen.
Mir kommen die Worte einer weisen italienischen Schauspielerin, Anna Magnani, in den Sinn. Als man zu ihr sagte, dass man die Falten entfernen solle, sagte sie: »Nein, rührt sie nicht an! Es hat viele Jahre gedauert, sie zu bekommen: Rührt sie nicht an!« Das ist es: Die Falten sind ein Zeichen der Erfahrung, ein Zeichen des Lebens, ein Zeichen der Reife, ein Zeichen dafür, einen Weg zurückgelegt zu haben. Man darf sie nicht anrühren, um jung zu werden, aber jung im Gesicht: Interessant ist die ganze Persönlichkeit, interessant ist das Herz, und das Herz behält jene Jugend des jungen Weines, der immer besser wird, je mehr er altert.
Das Leben im sterblichen Fleisch ist eine wunderschöne »Unvollendete«: wie gewisse Kunstwerke, die gerade in ihrer Unvollkommenheit eine einzigartige Faszination besitzen. Denn das Leben hier unten ist »Initiation«, nicht Vollendung: Wir kommen genau so zur Welt, als reale Personen, als Personen, die im Alter voranschreiten, aber immer real sind. Das Leben im sterblichen Fleisch ist jedoch ein zu kleiner Raum und eine zu kurze Zeit, um den kostbarsten Teil unserer Exis-tenz in der Zeit der Welt unversehrt zu bewahren und zur Vollendung zu bringen. Der Glaube, der die Verkündigung des Evangeliums vom Reich Gottes, für das wir bestimmt sind, annimmt, hat eine erste wunderbare Wirkung, sagt Jesus. Er gestattet es, das Reich Gottes zu »sehen«. Wir werden in die Lage versetzt, wirklich die vielen Zeichen der Annäherung unserer Hoffnung an die Vollendung dessen zu sehen, was in unserem Leben das Zeichen der Bestimmung für Got-tes Ewigkeit trägt.
Die Zeichen sind jene der Liebe nach dem Evangelium, die von Jesus auf vielerlei Weise erleuchtet werden. Und wenn wir sie »sehen« können, können wir auch in das Reich »kommen«, mit dem Hindurchgehen des Geistes durch das Wasser, das neu geboren werden lässt.
Das Alter ist der Zustand, der vielen von uns gewährt wird und in dem das Wunder dieser Geburt von oben innerlich angenommen und für die menschliche Gemeinschaft glaubwürdig gemacht werden kann: Es teilt nicht die Sehnsucht nach der Geburt in der Zeit mit, sondern die Liebe zur endgültigen Bestimmung. In dieser Perspektive hat das Alter eine einzigartige Schönheit: Wir gehen dem Ewigen entgegen. Niemand kann wieder in den Schoß der Mutter zurückkehren, und auch nicht in seinen technologischen und konsumistischen Ersatz. Das schenkt keine Weisheit, das schenkt keinen vollendeten Weg, das ist künstlich. Es wäre traurig, auch wenn es möglich wäre. Der alte Mensch geht voran, der alte Mensch geht seiner Bestimmung entgegen, dem Himmel Gottes, der alte Mensch ist mit seiner während des Lebens gelebten Weisheit unterwegs. Daher ist das Alter eine besondere Zeit, um die Zukunft von der technokratischen Illusion eines biologischen und roboterhaften Überlebens zu lösen, vor allem aber, weil es offen macht für die Zärtlichkeit des Schoßes Gottes, der schöpft und zeugt. Hier möchte ich dieses Wort hervorheben: die Zärtlichkeit der alten Menschen. Achtet darauf, wie ein Großvater oder eine Großmutter ihre Enkel betrachten, wie sie ihre Enkel liebkosen: jene Zärtlichkeit, frei von jeder menschlichen Prüfung, die die menschlichen Prüfungen überwunden hat und fähig ist, die Liebe unentgeltlich zu schenken, die liebevolle Nähe des einen zum anderen. Diese Zärtlichkeit öffnet die Tür, um die Zärtlichkeit Gottes zu verstehen. Vergessen wir nicht, dass der Geist Gottes Nähe, Mitgefühl und Zärtlichkeit ist. Gott ist so; er versteht es zu liebkosen. Und das Alter hilft uns, diese Dimension Gottes zu verstehen, die die Zärtlichkeit ist. Das Alter ist die besondere Zeit, um die Zukunft von der technokratischen Illusion zu lösen; es ist die Zeit der Zärtlichkeit Gottes, der erschafft, der einen Weg für uns alle erschafft. Der Geist gewähre uns die Wiedereröffnung dieser geistlichen – und kulturellen – Sendung des Alters, das mit der Geburt von oben versöhnt. Wenn wir so an das Alter denken, dann sagen wir: Wieso beschließt diese Wegwerfkultur, die alten Menschen wegzuwerfen, sie als nutzlos zu betrachten? Die alten Menschen sind die Boten der Zukunft, die alten Menschen sind die Boten der Zärtlichkeit, die alten Menschen sind die Boten der Weisheit eines gelebten Lebens. Gehen wir voran und schauen wir auf die alten Menschen.
(Orig. ital. in O.R. 6.6.2022)