Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag und herzlich willkommen!
Ich danke P. da Silva Gonçalves für die einführenden Worte; ich begrüße Kardinal Farrell, Erzbischof Paglia und Msgr. Bordeyne und alle, die an diesem Kongress mitgearbeitet haben, sowie alle Teilnehmer. Die Initiative findet im Rahmen des »Familienjahres Amoris laetitia« statt, das ausgerufen wurde, um das Verständnis des Apostolischen Schreibens anzuregen und dazu beizutragen, der pastoralen Praxis der Kirche, die immer mehr und besser synodal und missionarisch sein will, Orientierung zu geben.
Amoris laetitia sammelt die Früchte der beiden Synodalversammlungen über die Familie: der außerordentlichen von 2014 und der ordentlichen von 2015. Früchte, die im Anhören des Gottesvolkes herangereift sind, das zum größten Teil aus Familien besteht, die der erste Ort sind, um den Glauben an Jesus Christus und die gegenseitige Liebe zu leben.
Gebet und Liebe
Es ist daher gut, dass die Moraltheologie aus der reichen Spiritualität schöpft, die in der Familie aufkeimt. Die Familie ist die Hauskirche (vgl. Lumen gentium, 11; Amoris laetitia, 67); in ihr sind die Eheleute und die Kinder aufgerufen, zusammenzuwirken, um das Geheimnis Christi zu leben – durch das Gebet und die Liebe, die in der Konkretheit des Alltags und der Situationen umgesetzt werden, in der gegenseitigen Fürsorge, die in der Lage ist zu begleiten, so dass niemand ausgegrenzt und verlassen wird. »Vergessen wir nicht, dass durch das Sakrament der Ehe Jesus in diesem Boot anwesend ist«, im Boot der Familie.1
Das Familienleben wird heute jedoch mehr denn je auf die Probe gestellt. Vor allem macht die Familie seit langem »eine tiefe kulturelle Krise durch wie alle Gemeinschaften und sozialen Bindungen« (Evangelii gaudium, 66). Außerdem leiden viele Familien unter Mangel an Arbeit, an würdigem Wohnraum oder an einem Land, in dem sie in Frieden leben können, in einer Zeit großer und rascher Veränderungen. Diese Schwierigkeiten wirken sich auf das Familienleben aus, erzeugen Probleme in den Beziehungen. Es gibt viele »schwierige Umstände und verletzte Familien« (Amoris laetitia, 79). Schon die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, ist heute häufig problematisch, und die jungen Menschen begegnen vielen Schwierigkeiten, wenn es darum geht, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Die epochalen Veränderungen, die wir erleben, veranlassen die Moraltheologie in der Tat, die Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen und eine Sprache zu sprechen, die für die Gesprächspartner – nicht nur für »Fachleute« – verständlich ist, und so dazu beizutragen, »die Widrigkeiten und Widerstände zu überwinden« und »eine neue Kreativität« zu fördern, »um angesichts der heutigen Herausforderungen die Werte zum Ausdruck zu bringen, die uns als Volk in unseren Gesellschaften und in der Kirche, dem Volk Gottes, formen«.2 Ich betone: neue Kreativität.
In diesem Zusammenhang spielt die Familie heute eine entscheidende Rolle »auf den Wegen der ›pastoralen Umkehr‹ unserer Gemeinden und der ›missionarischen Verwandlung der Kirche‹«. Dazu bedarf es einer theologischen Reflexion – »auch auf akademischer Ebene« –, die wirklich »auf die Wunden der Menschheit« achtet.3 In diesem Sinne ist es wichtig, dass die Universität »Gregoriana« und das Institut Johannes Paul II. zusammen diese Veranstaltung ins Leben gerufen haben, unter Teilnahme von Theologinnen und Theologen von vier Kontinenten. In ihr kommen Laien, Kleriker und Ordensleute verschiedener Sprachen und Kulturen zu Wort und tauschen sich untereinander aus, in einem Dialog zwischen den Generationen, der auch für junge Forscher offen ist.
Insbesondere möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der Inter- und Transdisziplinarität schon innerhalb der Theologie sowie zwischen Theologie, Humanwissenschaften und Philosophie hinweisen. Diese Methode kann die Vertiefung der theologischen Reflexionen über Ehe und Familie nur fördern. Man kann die gegenseitige Verbindung zwischen der ekklesiologischen und sakramententheologischen Reflexion sowie den liturgischen Riten, zwischen diesen und der pastoralen Praxis, zwischen den großen anthropologischen Fragen und den moralischen Fragen, die mit dem Ehebund, der Zeugung und dem komplexen Sys-tem der familiären Beziehungen verbunden sind, aufzeigen. Tatsächlich müssen die verschiedenen theologischen Ansätze nicht nur nebeneinandergestellt werden, sondern miteinander ins Gespräch kommen, so dass sie sich gegenseitig unterweisen, symphonisch und gemeinschaftlich, im Dienst des einen großen Ziels, das sich in folgender Frage zusammenfassen lässt: Wie können die christlichen Familien heute in der Freude und in den Mühen der ehelichen, kindlichen und geschwisterlichen Liebe die gute Nachricht des Evangeliums Jesu Christi bezeugen?
Gegenseitiges Zuhören
Die Kirche wird auf ihrem synodalen Weg im gegenseitigen Zuhören jener, die das Got-tesvolk bilden, aufgebaut. Denn »wie wäre es möglich gewesen, über die Familie zu sprechen, ohne Familien zu Rate zu ziehen und ihre Freuden und Hoffnungen, ihre Leiden und ihre Ängste anzuhören«?4 Gerade deshalb kommt ein echtes Dialogbedürfnis zum Vorschein: natürlich nicht als »rein taktische Vorgehensweise«, sondern »aus dem inneren Bedürfnis heraus, gemeinsam die Erfahrung der Freude der Wahrheit zu machen und ihre Bedeutung sowie die praktischen Auswirkungen gründlich zu untersuchen« (Veritatis gaudium, 4c). Die dialogische Methode verlangt von uns, eine abstrakte Vorstellung von der Wahrheit, losgelöst vom Leben der Menschen, der Kulturen, der Religionen, zu überwinden. Die Wahrheit der Offenbarung wendet sich in der Geschichte – sie ist geschichtlich! – an ihre Empfänger, die aufgerufen sind, sie im »Fleisch« ihres Zeugnisses umzusetzen. Wie viel Reichtum an Gutem gibt es im Leben vieler Familien, auf der ganzen Welt! Das Geschenk des Evangeliums setzt außer dem Schenkenden auch einen Empfänger voraus, der ernstgenommen, der angehört werden muss.
Ehe und Familie können einen »kairos« für die Moraltheologie darstellen, um die Auslegungskategorien der moralischen Erfahrung im Licht dessen zu überdenken, was im Bereich der Familie geschieht. Zwischen Theologie und pastoralem Handeln muss immer wieder ein Kreislauf des Guten hergestellt werden. Die pastorale Praxis kann nicht aus abstrakten theologischen Grundsätzen abgeleitet werden, ebenso wie die theologische Reflexion sich nicht darauf beschränken darf, die Praxis zu bestärken. Wie oft wird die Ehe eher »als eine Last, die das ganze Leben lang zu tragen ist«, statt »als ein dynamischer Weg der Entwicklung und Verwirklichung« dargestellt (Amoris laetitia, 37). Die Moral des Evangeliums verzichtet trotzdem nicht darauf, das Geschenk Gottes zu verkündigen, aus dem Aufgabe und Hingabe entspringen. Die Theologie hat eine kritische Funktion – das Verständnis des Glaubens –, aber ihre Reflexion geht von der lebendigen Erfahrung und vom »sensus fidei fidelium« aus. Nur so übt das theologische Glaubensverständnis seinen notwendigen Dienst an der Kirche aus.
Gerade deshalb ist die Praxis der Unterscheidung notwendiger denn je, um »dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata auseinanderbrechen« (ebd.)
Liebe Brüder und Schwestern, im Mittelpunkt unseres Einsatzes als Hirten und Theologen steht die Anerkennung der untrennbaren Beziehung, trotz der Dramen und der Mühen des Lebens, zwischen dem Gewissen und dem Guten. Die Moral des Evangeliums steht dem Moralismus, der die wortwörtliche Beachtung der Gesetze zur Garantie der eigenen Gerechtigkeit vor Gott macht, ebenso fern wie dem Idealismus, der im Namen eines idealen Guten das mögliche Gute entmutigt und entfernt (vgl. Amoris laetitia, 308; Evangelii gaudium, 44). Im Mittelpunkt des christlichen Lebens steht die Gnade des Heiligen Geistes, empfangen im gelebten Glauben, die die Akte der Nächstenliebe erweckt. Das Gute ist also ein Appell, es ist eine »Stimme«5, die die Gewissen befreit und anspornt, wie es im Text von Gaudium et spes heißt: »Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss […] Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist« (Nr. 16).
Von euch allen wird verlangt, die Kategorien der Moraltheologie in ihrer gegenseitigen Verbindung heute noch einmal zu überdenken: die Beziehung zwischen Gnade und Freiheit, zwischen dem Gewissen, dem Gu-ten, den Tugenden, dem Gesetz und der aris-totelischen »phrónesis«, der thomistischen »prudentia« und dem geistlichen Unterscheidungsvermögen, die Beziehung zwischen Natur und Kultur, zwischen der Vielfalt der Sprachen und der Einzigartigkeit der »agape«. Insbesondere zu diesem letzten Aspekt möchte ich hervorheben, dass der Unterschied zwischen den Kulturen eine kostbare Gelegenheit ist, die uns hilft, noch mehr zu verstehen, wie sehr das Evangelium die moralische Erfahrung der Menschheit in ihrer kulturellen Vielfalt bereichern und läutern kann.
So werden wir den Familien helfen, den Sinn der Liebe wiederzufinden: ein Wort, das heute »oft entstellt« erscheint (Amoris laetitia, 89). Denn die Liebe ist »nicht nur ein Gefühl«, sondern die Entscheidung, in der ein jeder »›Gutes tun‹« will […], in »einer überreichlichen Selbsthingabe, ohne abzuwägen, ohne Entlohnung zu erwarten, einzig aus dem Wunsch, zu geben und zu dienen« (ebd., 94). Das konkrete Leben der Familien ist eine wunderbare Schule des guten Lebens. Daher lade ich euch, die Moraltheologinnen und -theologen, ein, eure präzise und wertvolle Arbeit fortzusetzen, mit kreativer Treue zum Evangelium und der Erfahrung der Männer und Frauen unserer Zeit, insbesondere zur lebendigen Erfahrung der Gläubigen. Der »sensus fidei fidelium«, in der Vielfalt der Kulturen, bereichert die Kirche, damit sie heute das Zeichen der Barmherzigkeit Gottes sei, der unser nicht müde wird. In diesem Licht fügen sich eure Reflexionen sehr gut in den gegenwärtigen synodalen Prozess ein: dieser internationale Kongress gehört in ganzer Fülle dazu und kann seinen ureigenen Beitrag dazu leisten.
Mit Jesus unterwegs sein
Ich möchte etwas hinzufügen, das in diesem Augenblick der Kirche sehr schadet: Es ist gleichsam eine »Rückwendung«, aus Angst oder aus Mangel an Geistesgröße oder aus fehlendem Mut. Es stimmt, dass wir Theologen, auch wir christlichen Theologen, zu den Wurzeln zurückkehren müssen, das stimmt. Ohne die Wurzeln können wir keinen Schritt nach vorn tun. Den Wurzeln entnehmen wir die Inspiration, voranzugehen. Das ist etwas anderes als sich zurückzuwenden. Sich zurückwenden ist nicht christlich. Ich glaube, es ist der Autor des Briefes an die Hebräer, der sogar sagt: »Wir sind keine Menschen, die sich zurückwenden.« Der Christ darf sich nicht zurückwenden. Zu den Wurzeln zurückkehren ja, um Inspiration zu bekommen, um voranzugehen. Aber sich zurückwenden bedeutet, zurückzugehen, um einen Schutz zu haben, eine Sicherheit, durch die wir das Risiko vermeiden, voranzugehen, das christliche Risiko, den Glauben zu bringen, das christliche Risiko, mit Jesus Christus unterwegs zu sein. Und das ist ein Risiko. Diese Rückwendung sieht man heute bei vielen klerikalen – nicht kirchlichen, sondern klerikalen – Gestalten, die wie die Pilze aus dem Boden schießen, hier, dort, da, und sich als Angebote des christlichen Lebens präsentieren. In der Moraltheologie gibt es auch eine Rückwendung mit kasuistischen Angeboten. Und die Kasuistik, die ich sieben Meter tief begraben glaubte, ersteht wieder auf als ein – etwas anders gewandetes – Angebot: »bis hier darf man, bis hier darf man nicht, hier ja, hier nein«. Und die Moraltheologie auf die Kasuistik zu reduzieren ist die Sünde der Rückwendung. Die Kasuistik ist überwunden. Die Kasuistik war meine Nahrung und die meiner Generation im Studium der Moraltheologie. Aber sie ist dem dekadenten Thomismus zu eigen. Der wahre Thomismus ist jener von Amoris laetitia: jener, der dort entfaltet wird, in der Synode gut erläutert und von allen angenommen. Es ist die lebendige Lehre des heiligen Thomas, die uns vorangehen lässt, indem wir etwas riskieren, aber im Gehorsam. Und das ist nicht leicht. Bitte, gebt acht auf diese Rückwendung, die eine gegenwärtige Versuchung ist, auch für euch Theologen der Moraltheologie.
Die Freude der Liebe, die in der Familie ein vorbildliches Zeugnis findet, möge das wirksame Zeichen der Freude Gottes werden, der Barmherzigkeit ist, und der Freude dessen, der diese Barmherzigkeit als Geschenk erhält! Die Freude. Danke, und bitte vergesst nicht, für mich zu beten, denn ich brauche es! Danke.
Fußnoten
1 Brief an die Ehepaare anlässlich des »Familienjahres Amoris laetitia« (26. Dezember 2021).
2 Ebd.
3 Apostolisches Schreiben in Form eines Motu proprio Summa familiae cura, mit dem das Päpstliche Theologische Institut Johannes Paul II. für Ehe- und Familienwissenschaften errichtet wurde (19. September 2017).
4 Ansprache anlässlich der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode (17. Oktober 2015).
5 »Dein Gewissen möge dir Zeugnis geben: Es ist Gottes Stimme« (hl. Augustinus, In Epistolam Ioannis ad Parthos tractatus,
6, 3).
(Orig. ital. in O.R. 13.5.2022)