Liebe Brüder und Schwestern!
Ich freue mich, euch aus Anlass des
85. Jahrestags der Gründung des Rumänischen Kollegs willkommen zu heißen. Ich begrüße euch alle, die Leitung der Kongregation für die Orientalischen Kirchen, die Pries-ter, Studenten und Angestellten des Kollegs, und ich danke dem Rektor, P. Gabriel, für die Worte, die er in eurem Namen an mich gerichtet hat.
Vor zwei Jahren habe ich bei der Göttlichen Liturgie, der ich in Blaj auf dem Feld der Freiheit vorstand, dazu aufgefordert, die neu aufkommenden Ideologien zu bekämpfen, die versuchen, die Oberhand zu gewinnen und auf zuweilen subtile Weise die Völker ihrer religiösen und kulturellen Traditionen zu entwurzeln. Bei jener Feier habe ich sieben Märtyrerbischöfe seliggesprochen und sie dem ganzen rumänischen Volk als Vorbilder vor Augen gestellt. Hier in Rom, in der Stadt, die das Zeugnis von Petrus, Paulus und vieler anderer Märtyrer bewahrt, könnt ihr durch Studium und im betrachtenden Gebet in ganzer Fülle eure Wurzeln neu entdecken. Darüber nachdenken zu können, wie sich die Wurzeln gebildet haben, ist eine kostbare Gelegenheit. Als es in der griechisch-katholischen rumänischen Kirche während des Zweiten Weltkriegs keine aktiven Bischöfe mehr gab, da sie entweder getötet oder inhaftiert worden waren, schrieb Bischof Ioan Ploscaru von Lugoj, der 15 Jahre lang in Gefangenschaft war, in sein Tagebuch: »Die Priester und die Bischöfe der griechisch-katholischen Kirche haben diese Zeitspanne als die wertvollste ihres Lebens betrachtet. Es ist eine Gnade, Gott die eigenen Leiden und das Zeugnis des Glaubens, auch um den Preis des Lebens, darbringen zu können.« Wer das Leben für das Evangelium hingibt, denkt so, er macht sich die Antwort Gottes auf das Böse in der Welt zu eigen: er gibt sich selbst hin, ahmt die sanftmütige und bedingungslose Liebe Jesu, des Herrn, nach, der sich für die Nahen und Fernen aufopfert. Das ist die Quelle, die es den Wurzeln erlaubt hat, sich in die Erde zu senken, kräftig zu werden und Frucht zu bringen. Und ihr seid jene Frucht.
Liebe Freunde, jede religiöse Tradition verliert an Fruchtbarkeit, wenn sie ihre Wurzeln nicht stärkt. Dann tritt ein gefährlicher Prozess ein: Mit der Zeit konzentriert man sich immer mehr auf sich selbst, auf die eigene Zugehörigkeit und verliert dabei die ursprüngliche Dynamik. Dann konzentriert man sich auf institutionelle, äußere Aspekte, auf die Verteidigung der eigenen Gruppe, der eigenen Geschichte und der eigenen Privilegien, und verliert dabei, vielleicht ohne es zu merken, den Geschmack an der Hingabe. Um im Bild zu bleiben, das ist in etwa so, als würde man sich darauf beschränken, den Stamm, die Äste und die Blätter zu betrachten, und dabei vollkommen vergessen, dass alles von den Wurzeln erhalten wird. Aber nur wenn die Wurzeln gut gegossen werden, wird der Baum weiter kräftig wachsen; andernfalls zieht er sich auf sich selbst zurück und stirbt. Das geschieht, wenn man es sich bequem macht und vom Virus der geistlichen Weltlichkeit befallen wird, dem schlimmste Übel, das es in der Kirche geben kann: die geistliche Weltlichkeit. Dann verdorrt man in einem mittelmäßigen, autoreferentiellen Leben, das aus Karrierismus, Erfolg um jeden Preis, Suche nach persönlicher Zufriedenheit und oberflächlichen Vergnügungen besteht. Die Haltung, die danach strebt, aufzusteigen, Macht zu haben, Geld zu haben, Ruhm zu haben, es bequem zu haben, Karriere zu machen. Das bedeutet, ohne Wurzeln wachsen zu wollen. Es stimmt, dass es andere gibt, die zu den Wurzeln gehen, um sich dort zu verstecken, weil sie Angst haben vor dem Wachsen. Das ist wahr. Zu den Wurzeln geht man, um Kraft zu schöpfen, um Lebensenergie zu empfangen und weiter zu wachsen. Man kann nicht nur in den Wurzeln leben und ebenso wenig kann man im Baum leben ohne die Wurzeln. Die Tradition ist gewissermaßen die Botschaft, die wir von den Wurzeln empfangen: Sie ist das, was dir die Kraft gibt, voranzugehen, heute, ohne die Dinge von ges-tern zu wiederholen, sondern mit derselben Kraft wie bei der ersten Inspiration.
Neben der Vertiefung der Wurzeln habt ihr hier in Rom die Möglichkeit, auch darüber nachzudenken, wie ihr sie aktualisieren könnt, damit euer Dienst keine sterile Wiederholung der Vergangenheit oder bloße Aufrechterhaltung der Gegenwart ist, sondern damit er fruchtbar ist, nach vorne schaut. Und das ist das Geheimnis der Fruchtbarkeit, dasselbe Geheimnis wie das jener Priester und Bischöfe: das heißt, die Hingabe des Lebens, das Evangelium, das mit dem Herzen von Hirten in die Praxis umgesetzt werden muss. Ich denke an Kardinal Muresan, der in wenigen Tagen 91 Jahre alt wird: Jahre des priesterlichen Dienstes, begonnen vor 60 Jahren in einem einfachen Keller, nachdem die überlebenden Bischöfe aus dem Gefängnis befreit worden waren. Hirten, die wenig Materielles besaßen, aber reich waren am Evangelium. So sollt ihr sein, freudige Apostel des Glaubens, den ihr geerbt habt, bereit, nichts für euch selbst zurückzubehalten, und bereit, euch mit allen zu versöhnen, zu vergeben und Einheit zu knüpfen und dabei Verbitterung und Selbstmitleid zu überwinden. Dann wird auch euer Same dem Evangelium entsprechen und Frucht bringen. Ohne die Vergangenheit zu vergessen, aber in der Gegenwart leben, mit Fruchtbarkeit.
Nach den Wurzeln möchte ich euch auch etwas über Grund und Boden sagen. Während ihr studiert, sollt ihr den guten Grund des Glaubens nicht vergessen. Ihn haben eure Großeltern, eure Eltern bearbeitet, das Terrain des heiligen gläubigen Volkes Gottes. Während ihr euch darauf vorbereitet, den Glauben weiterzugeben, denkt an sie und denkt auch daran, dass man das Evangelium nicht mit komplizierten Worten verkündet, sondern in der Sprache der Menschen, wie es uns Jesus, die fleischgewordene Weisheit, gelehrt hat: Es wird »im Dialekt« weitergegeben, im Dialekt des Volkes Gottes, den das Volk versteht, mit Einfachheit. Bitte, passt auf, dass ihr keine »Standeskleriker« werdet, ihr sollt Hirten des Volkes sein: Nähe zum Volk, aus dem ihr kommt. Paulus hat zu Timotheus gesagt: »Denk an deine Mutter und an deine Großmutter.« Deine Wurzeln, das Volk, zu dem du gehörst. Und der Prophet Samuel sagte zu König David: »Denk daran, dass du von der Herde weg erwählt worden bist, vergiss nicht die Herde, von der du erwählt worden bist.« Das ist deine erste Zugehörigkeit. Der Verfasser des Hebräerbriefs mahnt uns: »Denkt an eure Vorfahren, an jene, die euch das Wort Gottes verkündet haben.« Bitte vergesst nicht das Volk, aus dem ihr kommt. Seid keine Priester aus dem theologischen Labor, nein. Priester aus dem Volk, mit dem Geruch des Volkes, mit dem Geruch der Herde. Ich habe gesagt, dass das Evangelium nicht mit komplizierten Worten verkündet wird, sondern »im Dialekt«. Der gute Boden ist auch der, der uns das Fleisch Christi berühren lässt, gegenwärtig in den Armen, den Kranken, den Leidenden, den Kleinen und Einfachen, in dem, der leidet, und in dem Jesus ist, in den Ausgegrenzten, in dieser Wegwerfkultur, in der wir leben müssen. Ich denke besonders an die vielen Flüchtlinge aus der nahen Ukraine, die auch Rumänien aufnimmt und unterstützt.
Ein Wort möchte ich auch zu euch sagen, liebe arabischsprachige Studenten, die ihr zum ehemaligen Kolleg des heiligen Ephrem gehört. Seit etwa zehn Jahren bildet ihr eine einzige Gemeinschaft. Die Tatsache, dass ihr das Leben miteinander teilt, darf nicht als Schwächung der jeweiligen Unterscheidungsmerkmale empfunden werden, sondern als fruchtbare Verheißung der Zukunft. Die nationalen Kollegien der Ostkirchen und der lateinischen Kirche dürfen keine »Enklaven« sein, in die man nach einem Tag des Studierens zurückkehrt, um so zu leben, als wäre man in der Heimat, sondern sie müssen Werkstätten brüderlicher Gemeinschaft sein, wo man die echte Katholizität, die Universalität der Kirche erfahren kann. Diese Universalität ist die gute Luft, die man atmen muss, um nicht in die Partikularismen hineingezogen zu werden, die die Evangelisierung hemmen.
Die Wurzeln, Grund und Boden, die gute Luft. Ich wünsche euch, dass ihr in euren römischen Jahren eure Berufung auf diese Weise pflegen könnt. Und ich bitte euch, für mich zu beten. Jetzt segne ich von Herzen euch und eure Lieben. Danke!
(Orig. ital. in O.R. 19.5.2022)