Nachwort von Papst Franziskus zum Buch »La tessitura del mondo«

Das Geheimnis des Erzählens

 Das Geheimnis des Erzählens  TED-022
03. Juni 2022

Wir veröffentlichen im Folgenden das Nachwort von Papst Franziskus zum Buch »La tessitura del mondo« – »Das Gewebe der Welt«, publiziert von der Vatikanischen Verlagsbuchhandlung und dem italienischen Verlagshaus Salani. Das von unserem Direktor Andrea Monda herausgegebene Buch, das auf Italienisch im Buchhandel erhältlich ist, sammelt die Stimmen von bekannten Persönlichkeiten aus der Welt der Kultur zum Thema Erzählen.

»Die Geschichten, die wir immer wieder erzählen und einander überliefern, sind Zelte, unter denen wir uns versammeln, Banner, unter denen wir in die Schlacht ziehen, unzerstörbare Seile, die die Lebenden und die Toten miteinander verbinden, und das Knüpfen dieser riesigen Netze über Jahrhunderte und Kulturen hinweg bindet uns fest aneinander und an die Geschichte und führt uns durch die Generationen.« Das schreibt Donna Tartt nach der Lektüre dieses Buches, in dem die Gedanken von 44 Schriftstellern, Künstlern, Theologen und Journalisten zum Thema der Erzählung zusammengetragen sind. Die amerikanische Romanschriftstellerin erfasst mit großem Scharfsinn einen Punkt, in dem viele Autoren dieses Buches übereinstimmen: die Erzählung als »Gewebe«, das aus »unzerstörbaren Fäden« besteht, das alles und alle, Gegenwart und Vergangenheit, miteinander verbindet und es ermöglicht, sich mit Vertrauen und Hoffnung gegenüber der Zukunft zu öffnen.

Sinn für Offenheit und Dialog

Dieser Aspekt des »textum« (lateinisch für »Gewebe«, daher das deutsche Wort »Text«) stand im Mittelpunkt meiner Botschaft zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel 2020, die gleichsam der Funke war, der alle anderen hier zusammengetragenen Reflexionen hervorgebracht hat. Denn von Februar bis Oktober 2020 wurden diese Texte, die durch die Lektüre dieser Botschaft »hervorgerufen« wurden, im L’Osservatore Romano veröffentlicht. Anschließend wurde ich gebeten, am Ende dieser gehaltvollen und schönen Serie, die ich bereits im Laufe der Monate, in denen sie erschien, mit großer Freude gelesen hatte, ein Schlusswort hinzuzufügen. Ich habe also gerne zugestimmt – allerdings unter der Bedingung, dass es nicht als »endgültig« betrachtet wird. Zum einen, weil »die Geschichten kein Ende nehmen« – wie Frodo, der Protagonist von Tolkiens Der Herr der Ringe, sagt – und zum anderen, weil ein sehr schöner Aspekt dieses Buches gerade sein Sinn für Offenheit, Kreisförmigkeit und Dialog ist.

Bevor ich auf das Thema des »Inhalts« zurückkomme, möchte ich kurz auf die »Methode« dieses Buches eingehen: Am Anfang steht eine Botschaft, die veröffentlicht wird; diese Botschaft wird geteilt und einigen Menschen unterbreitet, die sich davon ansprechen lassen und sie mit ihrem Beitrag bereichern. Der Urheber der Botschaft liest all diese Beiträge und setzt eine neue Reflexion in Gang, die dank der Beiträge aller gehaltvoller ist als die ursprüngliche. Schließlich tritt der Leser dieses Buches in den Dialog ein und setzt ihn in seinem täglichen Leben fort. Das sind die »Zelte, unter denen man sich versammelt«, wie Tartt sagt, das ist die Verknüpfung, die »uns fest miteinander verbindet«, auch über Generationen hinweg.

All das ist vielsagend. Und es sagt vor allem, dass bei den Geschichten natürlich das zählt, was gesagt wird, aber vielleicht noch mehr das Zuhören. Dieses Buch ist die Zusammenfassung eines Dialogs, der nicht auf der letzten Seite endet und der – eben da er ein Dialog ist – sein Herzstück im Zuhören hat, auch im stillen Zuhören. In der Erzählung ist die Gegenwart des Schweigens stark zu spüren. Unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig, dass es auch ein Essay gibt – ich meine den Text »Tu parli anche quando taci« [Du sprichst, auch wenn du schweigst] von Massimo Grilli –, das unmittelbar dem Schweigen gewidmet ist. Gleichsam ein Kontrapunkt, ein musikalischer Gegenpart, der ebenso wesentlich ist wie das Hauptthema, das vom übrigen Orchester ausgeführt wird: Wort und Schweigen, gemeinsam.

Und hier möchte ich zu den inhaltlichen Aspekten zurückkehren, um unter den vielen möglichen (die Sammlung ist gerade aufgrund der Freiheit und der Vielfalt der Ansätze und Sichtweisen schön) drei Themen hervorzuheben, die mir jene zu sein scheinen, die immer wiederkehren. Das erste habe ich bereits hervorgehoben: das Erzählen von Geschichten als »Knüpfen«. Das zweite verbirgt sich in der Erwähnung des Schweigens: Es ist das Thema des »Geheimnisses«; das dritte ist das Thema des »Mitleids«.

Der erste – wie gesagt das Knüpfen – ist vielleicht der Aspekt, auf den sich die meis-ten Autoren konzentrieren. Einige heben dabei die Rolle der Frauen hervor, wie zum Beispiel Marcelo Figueroa. Andere betonen die »Flexibilität« des Knüpfens von Geschichten, »die in der Lage sind, immer neue Situationen und immer neue Empfänger in sich aufzunehmen« (J. P. Sonnet). Wieder andere, wie Antonella Lumini, sprechen über die »magmatische« Konsistenz der Geschichten, die jedoch »fortbestehen«, eine »Dichte« und einen Verlauf haben, »wie das Wasser an der Quelle eines Flusses, das dann ins Meer fließt«.

Das Thema des Geheimnisses, verstanden als das Gefühl der Begrenztheit, aber auch als »Zauber«, der im Augenblick der poetischen Inspiration eingreift, ist vom ersten Text an gegenwärtig: dem des Architekten Renzo Piano, für den »wir Menschen alle von diesem Bewusstsein eines Geheimnisses, das uns übersteigt, das über uns hinausgeht, vereint sind. Auch das hat mit der Poesie zu tun«. »Was ich nicht weiß, das kann ich singen«, heißt es in einem Lied des römischen Liedermachers Francesco De Gregori, der in der Sammlung interviewt wird. Und die Künstler, fügt Judith Thurman mit tiefer Eingebung hinzu, »müssen nicht so sehr über das schreiben, was sie wissen, sondern über das, von dem sie nicht wussten, dass sie es wissen, bevor sie es aus der Dunkelheit befreit haben«.

Der Sinn für das Geheimnis macht offen für das Transzendente, für eine unverkennbar geistliche, religiöse Dimension. Donna Tartt sagt, dass »vielleicht gerade die Geschichten Tuch für die Segel sind, die wir setzen, um einen Hauch des Göttlichen einzufangen. Die Gedanken anderer Menschen erwachen in uns zu einem seltsamen Leben; deshalb ist die Literatur die geistlichste und gewiss die transformativste Kunst von allen. Wie keine andere Form der Kommunikation kann eine Geschichte unsere Art zu denken verändern, im Guten wie im Schlechten […] Die antiken und die modernen Kulturen haben die Geschichten aus einem bestimmten Grund immer als magisch – und gefährlich – betrachtet: weil man eine Geschichte anhören und am Ende ein völlig anderer Mensch sein kann«.

Nähe und Mitleid

Und das führt zum dritten Aspekt, dem Mitleid, das ebenfalls in mehreren Texten, die in dem Buch enthalten sind, vorkommt. Insbesondere die Schriftstellerin Marylinne Robinson, die sich an die Geschichten und Lieder erinnert, die ihre Mutter ihr vorlas, denkt über das Mitleid nach, das ihrer Auffassung nach in seiner weitesten Bedeutung »im Leben der Seele das menschliche Gegenstück zur göttlichen Gnade« ist. Anschließend fügt sie hinzu: »Die Geschichte zeigt, wie wichtig Erzählungen für die Gemeinschaften sind.« Literatur ist also mit Mitleid verbunden, und das führt zur Transformation, die sich in jeder Erfahrung des Schreibens und des Lesens vollzieht. Sie geschieht auf eine mehrdeutige, ambivalente und daher gefährliche Weise: Die Erzählung kann auch eine negative, manipulative, zerstörerische Kraft entfesseln.

Das Mitleid ist, wie ich in meinen Ansprachen oft sage, neben der Nähe und der Zärtlichkeit eines der drei Merkmale von Gottes Stil. Es ist also eine mächtige Kraft, die nicht nur auf einen innerlichen, vertraulichen Aspekt reduziert werden kann, denn sie hat natürlich auch eine öffentliche, soziale Dimension, in der sich die Erzählung als eine Kraft der Erinnerung, also als Hüterin der Vergangenheit erweist, aber – gerade deshalb – auch als Sauerteig der Veränderung für die Zukunft. Das Mitleid findet sein ausdrucksstärkstes Bild in der Gestalt des barmherzigen Samariters in Kapitel 10 des Lukasevangeliums. Dieser Mann hat Mitleid mit dem Verwundeten und bietet ihm nicht nur Behandlung und Heilung an, sondern zusammen mit ihnen auch eine andere Erzählung seines Lebens, das er durch seine Geste »aus der Dunkelheit befreit« hat. Das Mitleid ver-ändert das Leben der beiden Protagonisten, und das gilt für jeden Menschen und für jede Gemeinschaft.

Diese – wenn man so will – »politische« Dimension der Erzählung ist auch in den 44 Texten des Buches sehr gegenwärtig. Ich denke an die Reflexion von Alessandro Zaccuri, der von Jesus als einem »erzählenden Messias« spricht, scheinbar unbewaffnet, aber in Wirklichkeit ausgestattet mit der mächtigen Waffe des Erzählens. Ebenso sieht der irische Romanschriftsteller Collum McCann in der Erzählung »eines der mächtigs-ten Mittel, die wir haben, um unsere Welt zu verändern […] Das Erzählen ist unsere große Demokratie. Es ist das, wozu wir alle Zugang haben. Wir erzählen unsere Geschichten, weil wir gehört werden wollen. Und wir hören uns Geschichten an, weil wir dazugehören wollen. Das Erzählen überschreitet Grenzen. Es überschreitet Grenzen. Es zerstört Klischees. Und es gibt uns Zugang zur vollen Blüte des menschlichen Herzens«. McCann spielt dabei auf die Schlussfolgerung an, zu der Daniel Mendelsohn gelangt, wenn er sagt: »Das Wort ist eine Brücke […], durch die Erzählung können wir die Distanz, die uns voneinander trennt, verringern, und ich denke, das ist heute nötiger denn je«. Mendelsohn bezieht sich auf die Entstehungszeit dieser Texte. Sein Beitrag stammt vom April 2020, und verweist auf einen konkreten literarischen Bezug: Das Dekameron von Boccaccio, das in der Pestzeit spielt. Auch dieses Buch mit seinen 44 Texten wurde in einer Zeit der Pandemie verfasst, und man spürt die Bedeutung, die dringende Notwendigkeit der Rückkehr zur ältesten und menschlichsten Tätigkeit: der Kunst, Geschichten zu erzählen, also Brücken zu bauen, die »die Lebenden und die Toten miteinander verbinden« können, um uns über die Jahrhunderte und Generationen hinweg in eine Zukunft zu führen, die wir gemeinsam aufbauen, knüpfen.