Liebe Freunde!
Mit Freude empfange ich euch, die jungen Mitglieder der »Politischen Fraternität« von Chemin Neuf. Als wir uns im vergangenen Jahr getroffen haben, habt ihr eure Teilnahme an der Veranstaltung Changemakers in Budapest meinem Gebet anvertraut. Dort gab es für euch Momente der Begegnung, der Bildung, aber auch der Aktion bei den lokalen Vereinigungen. Die Art und Weise, wie ihr dieses Ereignis gelebt habt, scheint mir eine gute Umsetzung der wahren Bedeutung dessen zu sein, was Politik insbesondere für Christen ist. Politik ist Begegnung, Reflexion, Aktion.
Politik ist vor allem die Kunst der Begegnung. Sicherlich wird diese Begegnung gelebt, indem man, in einem respektvollen Dialog, den anderen annimmt und seine Verschiedenheit akzeptiert. Als Christen jedoch ist es noch mehr: Weil das Evangelium uns auffordert, unsere Feinde zu lieben (vgl. Mt 5,44), darf ich mich nicht mit einem oberflächlichen, formalen Dialog zufriedengeben wie bei diesen häufig feindseligen Verhandlungen zwischen politischen Parteien. Wir sind aufgerufen, das politische Treffen als geschwisterliche Begegnung zu leben, vor allem gegenüber denjenigen, die am wenigsten mit uns einer Meinung sind; und das bedeutet, in dem, mit dem wir einen Dialog führen, einen wahren Bruder zu sehen, ein von Gott geliebtes Kind. Diese Kunst der Begegnung beginnt demnach mit einer Veränderung des Blicks auf den anderen, mit der Annahme und dem Respekt seiner Person ohne Vorbedingungen. Wenn diese Wandlung des Herzens nicht stattfindet, dann besteht das Risiko, dass sich die Politik in eine – häufig gewaltsame – Auseinandersetzung verwandelt, um die eigenen Ideen durchzusetzen, wo mehr das Eigeninteresse gesucht wird als das Gemeinwohl, im Gegensatz zum Prinzip, dass »die Einheit mehr wiegt als der Konflikt« (vgl. Evangelii gaudium, 226-230).
Aus christlicher Sicht ist Politik auch Reflexion, das heißt die Formulierung eines gemeinsamen Projekts. Ein Politiker des 18. Jahrhunderts, Edmund Burke, erklärte den Wählern in Bristol, dass er sich nicht darauf beschränken könne, nur ihre Interessen zu vertreten, sondern dass er vielmehr in ihrem Namen gesandt würde, um mit den anderen Parlamentsmitgliedern ein Konzept zum Wohl des gesamten Landes, für das Gemeinwohl, zu entwickeln. Als Christen verstehen wir, dass die Politik neben den Begegnungen auch durch eine gemeinsame Reflexion vorangebracht wird, auf der Suche nach diesem allgemeinen Wohl und nicht nur durch die Auseinandersetzung konkurrierender und oft gegensätzlicher Interessen. Kurz gesagt, »das Ganze ist dem Teil übergeordnet« (vgl. ebd., 234-237). Und unser Kompass, um dieses gemeinsame Projekt auszuarbeiten, ist das Evangelium, das eine zutiefst positive Sicht des von Gott geliebten Menschen in die Welt einbringt.
Schließlich ist die Politik auch Aktion. Ich freue mich, dass eure Fraternität sich nicht damit zufriedengibt, ein Ort der Diskussion und des Austauschs zu sein, sondern euch auch zu einem konkreten Engagement führt. Als Christen müssen wir stets unsere Ideen mit der Substanz der Wirklichkeit konfrontieren, wenn wir nicht auf Sand bauen wollen, der früher oder später nachgeben wird. Vergessen wir nicht, dass die »Wirklichkeit wichtiger ist als die Idee« (vgl. ebd., 231-233). Und daher ermutige ich euch in eurem Einsatz für Migranten und die Ökologie. So habe ich erfahren, dass einige von euch sich entschieden haben, gemeinsam mitten in einer Sozialsiedlung von Paris zu leben, um auf die Armen zu hören: Das ist eine christliche Art und Weise, Politik zu machen! Vergesst diese Leitlinien nicht, dass die Wirklichkeit wichtiger ist als die Idee: man kann mit der Ideologie keine Politik machen. Das Ganze ist dem Teil übergeordnet, und die Einheit wiegt mehr als der Konflikt. Immer die Einheit suchen und sich nicht im Konflikt verlieren.
Begegnung, Reflexion, Aktion: das ist ein politisches Programm im christlichen Sinn. Ich denke, dass ihr das wirklich erfahren könnt, besonders bei euren Treffen am Sonntagabend: Wenn ihr gemeinsam den Vater bittet, von dem alles kommt, wenn ihr Jesus nachfolgt und auf den Heiligen Geist hört, dann gewinnt eure Sorge für das Gemeinwohl eine große, stimulierende innere Kraft. Denn so praktiziert man die Politik als »höchs-te Form der Nächstenliebe«, wie es Papst Pius XI. ausgedrückt hat.
Ich möchte auf etwas zurückkommen, was dieser sympathische Brasilianer hier gesagt hat: Er hat von Erinnerung, Hoffnung und »asombro« gesprochen. So war es, nicht wahr? »Asombro«: Das christliche Leben ist nicht möglich, ohne diesen »asombro«, ohne das Staunen. Das Staunen lässt mich spüren, dass ich in Jesus, mit Jesus bin. Das Staunen, die Größe des Herrn zu sehen, die Größe seiner Person, die Größe seines Projektes, die Größe der Seligpreisungen als Lebensprogramm zu spüren. Und dann das andere Wort: Erinnerung. Erinnerung, Hoffnung, Staunen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Es gibt keine Zukunft ohne die Gegenwart, und es gibt keine Hoffnung ohne das Staunen. Pflegt das Gebet mit dem Evangelium, um das Staunen über die Begegnung mit Jesus Christus zu erfahren.
Mein Gebet begleitet euch auf diesem Weg. Ich danke euch für euer Zuhören und segne euch. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten! Und jetzt wollen wir alle im gemeinsamen Gebet den Herrn bitten, dass er uns segnen möge. Jesus, Herr, segne uns alle, die wir nahe bei dir arbeiten. Segne unsere Ideen, segne unsere Herzen, segne unsere Hände. Amen.
(Orig. ital. in O.R. 16.5.2022)