Am 15. Mai 1947 wurde Niklaus von Flüe vor über 10.000 Pilgern von Papst Pius XII. in Rom heiliggesprochen. Aus Anlass des 75-Jahr-Jubiläums reiste der Schweizer Kardinal Kurt Koch, Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen, nach Sachseln, wo sich das Grab des Schweizer Nationalheiligen befindet. Beim Festgottesdienst hielt Kardinal Koch die folgende Predigt:
Wo wohnt Gott? Eine solche Frage mag beim ersten Hinhören wie eine typische Kinderfrage tönen, die aus kindlicher Neugierde heraus entsteht. Denn Kinder wollen bekanntlich alles genau wissen. Die Frage verliert aber diesen Anschein, wenn wir bedenken, welche große Rolle im Leben von uns Menschen die eigene Wohnung spielt. Wir pflegen sie so einzurichten, dass sie unserem Geschmack entspricht, dass wir uns in ihr daheim fühlen können und dass sie uns Lebensqualität ermöglicht.
Die eigene Wohnung gehört so sehr zu uns selbst, dass man mit Carl Zuckmayer sagen könnte: »Als wär’s ein Stück von mir.« Die Wohnung ist für uns Menschen von so grundlegender Bedeutung, dass eben auch die Frage in uns aufkommen kann, ob auch Gott eine Wohnung hat und wo er wohnt.
Denn hinter dieser Frage verbirgt sich viel mehr als allein kindliche Neugierde. Mit unserer Antwort auf diese Frage kommt vielmehr an den Tag, wie wir von Gott und seiner Beziehung zu uns Menschen denken und wie wir zu ihm stehen. Diese Frage stellt sich jedenfalls bei der Gedenkfeier einer Heiligsprechung.
Wo also wohnt Gott? Die herkömmliche und gewiss auch heute spontan geäußerte Antwort dürfte lauten, dass Gott in der Höhe des Himmels wohnt. Diese Antwort ist gewiss wahr; denn Gott ist der Transzendente, der Welterhabene und Unfassbare, den nicht einmal die Himmel der Himmel fassen können. Dennoch ist diese Antwort nur die halbe Wahrheit.
Bereits bei uns Menschen ist ja noch nicht viel, jedenfalls nicht alles ausgesagt, wenn wir wissen, wo sie wohnen. Es gibt nämlich auch Menschen, die durchaus über einen konkret angebbaren Wohnort verfügen und zudem noch eine andere, nämlich eine Wahlheimat haben. Man kann beispielsweise in der Romandie geboren sein und dennoch seine Wahlheimat in der Innerschweiz haben, so dass Obwalden wichtiger als Lausanne ist.
Nun sagt uns der christliche Glaube, dass es sich bei Gott ähnlich verhält. Seine angestammte Heimat ist gewiss der Himmel. Aber auch Gott kennt eine Wahlheimat, und diese befindet sich auf unserer Erde. Dies ist die Botschaft der Heiligen Schrift bereits im Alten Tes-tament, in dem Gott durch seinen Propheten Ezechiel diese schöne Antwort an die Israeliten gegeben hat: »Ich werde mitten unter ihnen für immer mein Heiligtum errichten, und bei ihnen wird meine Wohnung sein. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein« (Ez 26-27).
Gott wählt sich sein Volk zu seiner Wohnung mitten unter den Menschen; denn er will bei seinem Volk wohnen. Der allmächtige Gott, der im Himmel wohnt, hat seine »Wahlheimat« mitten unter uns Menschen. Wie wir in der heutigen Lesung aus der Offenbarung des Johannes gehört haben, wird diese schöne Botschaft im Neuen Testament aufgenommen, in dem der urchristliche Seher Johannes eine Stimme vom himmlischen Thron her rufen hört: »Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er, Gott, wird bei ihnen sein« (Offb 21,3).
Maria, die Tochter Zion
Im Neuen Testament wird diese Botschaft sogar vertieft und vor allem konkretisiert. Denn es wird uns verkündet, dass Gott in seiner Heilsgeschichte mit uns Menschen zunächst in einem ganz konkreten Menschen seine Wohnung genommen hat, nämlich in Maria. Gott hat sich diese Frau erwählt, um seine Wahlheimat unter uns Menschen haben zu können. Denn in Maria ist die alt-testamentliche Verheißung an Israel, die Tochter Zion, dass Gott als Retter kommen und in ihm wohnen wird, in Erfüllung gegangen.
In der Perikope von der Verkündigung nimmt der Erzengel Gabriel genau diese Verheißung auf und spricht sie nun Maria zu, womit er sie mit der Tochter Zion gleichsetzt. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass der Erzengel verheißt, dass der Heilige Geist über Maria kommen und die Kraft des Höchs-ten sie überschatten werde. Mit diesem Wort bezieht sich der Evangelist Lukas auf die alt-testamentlichen Berichte von der heiligen Wolke, die über dem Zelt der Begegnung gestanden ist und die Einwohnung Gottes angezeigt hat. Maria wird uns damit vor Augen gestellt als das neue Heilige Zelt, als die wahre Bundeslade und als der neue Tempel, in dem Gott wohnt.
Dieser neue Tempel ist Maria dadurch geworden, dass sie Jesus, den Sohn Gottes, in sich aufgenommen und ihm ihren Leib als Wohnung zur Verfügung gestellt und ihn in ihrem Leib gleichsam wie in einem Tabernakel getragen hat. Damit wird der Blick frei auf das innerste Geheimnis Marias, auf das wir uns in besonderer Weise im Monat Mai besinnen und es verehren: Maria hat so gelebt, dass sie für Gott ganz bewohnbar und selbst ein Lebensort Gottes geworden ist. Maria hat ihren Leib und damit sich selbst Gott zur Verfügung gestellt, um seine Wohnung in der Welt werden zu können.
Maria ist die konkrete und personifizierte Wohnung Gottes mitten unter uns Menschen. Von daher beginnen wir zu verstehen, dass der christliche Glaube Maria als Königin in der Gemeinschaft von allen Heiligen verehrt. Denn sie zeigt uns, was ein heiliger Mensch ist. Sie zeigt es dadurch, dass sie mit ihrem Leben ganz auf Gott verweist, der allein heilig ist. Wir Menschen vermögen nur dadurch heilig zu werden, dass wir uns ganz für Gott und seinen Willen öffnen, ihn in uns eintreten lassen und für ihn bewohnbar werden. Ein Heiliger ist ein Mensch, der so offen und empfangsbereit für Gott ist, dass Gott bei ihm ankommen und Ankunft, Advent halten und Gott in ihm wohnen kann. Oder anders gesagt: Ein Heiliger ist ein Mensch, der wie Maria und mit Maria zu leben wagt.
Ein solcher Heiliger steht im Mittelpunkt des heutigen Festes, an dem wir den 75. Jahrestag der Heiligsprechung unseres Landespatrons, des heiligen Bruder Klaus, feiern. Er hat sich so tief in Gott hinein verwurzelt, dass er für Gott bewohnbar geworden ist. Und er hat sich so tief in das Geheimnis Gottes hinein begeben, dass es ihm zur Wohnung geworden ist. Denn ein Ge-Heim-nis ist das, was zum Heim gehört und einem so vertraut ist wie die eigene Wohnung. Geheimnisse sind ja nicht dazu da, rational gelöst zu werden; sie sind vielmehr dazu da, bewohnt zu werden.
Um im Geheimnis Gottes daheim zu sein, hat Niklaus von Flüe Familie und Hof verlassen und sich in die Melchaaschlucht zurückgezogen. Dort hat er gleichsam die Stille zu seiner Wohnung gemacht, um auf die leise Stimme Gottes hören zu können. So ist er im Tiefsten ein Gottesfreund geworden. Und indem er sich in der Einsamkeit mit seinem Wunderfasten ganz von der heiligen Eucharis-tie hat nähren und den auferstandenen Chris-tus in sich hat wohnen lassen, ist er für Ihn zur lebendigen Monstranz geworden.
Dieses Lebensgeheimnis von Bruder Klaus kommt am deutlichsten zum Ausdruck in seinem Gebet, das er mit den Worten beginnt: »Mein Herr und mein Gott.« In diesem Gebet bittet er zunächst darum, dass ihm einiges genommen wird, das ihn auf dem Weg zu Gott hindern könnte. Denn ihm war bewusst, dass auch die innere Wohnung von Ballast befreit werden muss, damit sie für Gott bewohnbar werden kann. Erst dann kann sie mit dem gefüllt werden, was uns zu Gott führt: »Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich führet zu dir.«
Weil Bruder Klaus für Gott ganz bewohnbar geworden ist, hat er auch ein offenes Herz für die Mitmenschen gehabt. Als er seine Familie und seine öffentliche Tätigkeit verlassen und sich in die Abgeschiedenheit zurückgezogen hat, hat er sich keineswegs von der Welt verabschiedet und sich von seinen Mitmenschen abgewandt.
Er hat die Anliegen und Sorgen der Menschen vielmehr in seine innere Wohnung hinein genommen; und er ist zu einem weisen Ratgeber bis in die Politik hinein geworden, indem er sich für den Frieden in der damals arg zerstrittenen Eidgenossenschaft eingesetzt hat. Denn er ist überzeugt gewesen, dass der wahre Friede nur bei Gott gesucht und gefunden werden kann. Der Friede des Menschen mit Gott ist der erste und wichtigste Friede; und alle anderen Gestaltungen des Friedens sind Spiegelungen dieses elementaren Gottesfriedens.
Der Friede der Welt beginnt in der inneren Wohnung des Herzens mit dem Frieden, den nur Gott geben kann. Bruder Klaus wagt es deshalb sogar, Gott selbst mit dem Frieden zu identifizieren: »Fried ist allweg in Gott. Denn Gott selbst ist der Fried… Darum sollt ihr schauen, dass ihr auf Fried abstellet.«
Von daher leuchtet das innerste Geheimnis im Leben von Bruder Klaus auf: Das politische Wunder von Stans, nämlich seine Friedensstiftung im Jahre 1481, ist nicht denkbar ohne das religiöse Wunder seiner Gottesfreundschaft im Ranft. Als Gottesfreund ist er auch Menschenfreund gewesen. Weil er für Gott ganz bewohnbar gewesen ist, hat er auch ein offenes Herz für seine Mitmenschen gehabt. Deshalb verdient er, im besten Sinn des Wortes ein Heiliger genannt und so verehrt zu werden.
Das heutige Fest des 75. Jahrestags der Heiligsprechung von Bruder Klaus ruft uns in Erinnerung, dass wir alle zu solcher Heiligkeit berufen sind. Diese Zumutung wird uns in der Heiligen Schrift nahegelegt. Auf die wohl elementarste Frage des christlichen Glaubens, worin der Wille Gottes besteht, gibt Paulus diese ebenso elementare Antwort: »Das ist es, was Gott will, eure Heiligung« (1 Thess 4, 3).
Berufung zur Heiligkeit
Paulus sagt damit, dass der Wille Gottes ganz einfach und letztlich für alle Menschen gleich ist, nämlich Heiligkeit. Die christliche Berufung zur Heiligkeit ist nicht elitär, sondern ganz und gar egalitär. Heiligkeit besteht nicht in irgendwelchen unnachahmbaren Heroismen, sondern im alltäglichen Leben von uns Christen von Gott her, mit Gott und auf Gott hin, um dieses Leben im Geist des Glaubens zu durchformen. Heilig ist jener Mensch, der in seinem Leben den Willen Gottes sucht und gewillt ist, in ihn einzuwilligen.
Dass wir alle aufgrund unserer Taufe zur Heiligkeit berufen sind, dies hat uns in besonderer Weise auch das Zweite Vatikanische Konzil ans Herz gelegt. Der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit als der entscheidenden Leitperspektive des christlichen Lebens hat das Konzil das ganze fünfte Kapitel seiner Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium gewidmet. Darin hat das Konzil das wahre Programm einer gewiss stets notwendigen Erneuerung der Kirche gesehen, der auch Bruder Klaus sein ganzes Leben gewidmet hat.
Der Gedenktag seiner Heiligsprechung stellt uns die ganz persönliche Frage, ob auch wir solche heilige Menschen sind und immer mehr werden wollen. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns der noch tieferen Frage stellen, ob wir wirklich für Gott bewohnbar und deshalb für unsere Mitmenschen empfänglich sind. Oder ist unsere innere Wohnung derart mit den alltäglichen Geschäften vollgestopft, dass für Gott und die Menschen kein Platz mehr ist?
Dann hätte vielleicht auch unsere innere Wohnung eine »Frühlingsputzete« nötig, um den Raum zu schaffen, der unser Herz wieder bewohnbar für Gott und die uns anvertrauten Menschen machen kann. Bitten wir den heiligen Bruder Klaus, dass er uns in unserer Berufung zur Heiligkeit mit seiner Fürbitte begleitet: »Mein Herr und mein Gott. Nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich führet zu dir. Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.« Amen.