Leitartikel unseres Direktors

Am Fuß des Kreuzes stehen

Daughters Anna and Sofiia of Ukrainian serviceman Ruslan Borovyk, who was killed in a battle amid ...
27. Mai 2022

Der Krieg hat eine zweifache und entgegengesetzte Wirkung: Entweder lässt er einen verstummen, oder bringt einen dazu, zu viel zu reden. Leider sind die Reden, die man hört, voll von unmäßigen, oft unangemessenen Worten: es genügt, den Fernseher, das Radio einzuschalten oder ein wenig im Internet zu surfen, und leider auch die Worte aus einigen Reden der Politiker und Regierenden der verschiedenen Länder zu hören. Das endgültige Wort zum Krieg und der Unterscheidung zwischen Völkern und Regierenden, das notwendig ist und aus Eile oft übersehen wird, wurde von einem der umstrittensten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Louis-Ferdinand Céline, gesprochen: »Der Krieg ist das Gemetzel von Millionen von Menschen, die sich nicht kennen, zugunsten einiger weniger Menschen, die sich kennen, einander aber nicht niedermetzeln.«

In diesen schrecklichen Tagen und Monaten des Krieges sind wir auch »voll« von jenen Worten, die uns fehlen, so wie man ja auch erfüllt sein kann von einer Abwesenheit. Uns fehlen die Worte, um den Schmerz auszudrücken, das Grauen zu beschreiben, das Böse zu erklären. Vielleicht ist das auch zu viel verlangt, vielleicht gibt es keine Worte, um all das auszudrücken… oder vielleicht sind sie »viel zu gefroren, um an der Sonne zu schmelzen«, wie Fabrizio De André vor nahezu sechzig Jahren in seinem Anti-Kriegs-Lied La guerra di Piero (»Pieros Krieg«) sang: Jeder bewaffnete Konflikt entspricht dieser ungeheuren Kälte, die alles und jeden gefriert, das Leben kristallisieren lässt und es der Lebenskraft beraubt. Ein weiteres Lied kommt einem in den Sinn, Hanno ammazzato un angelo (»Sie haben einen Engel ermordet«), ein Lied des venezianischen Liedermachers Massimo Bubola, eines Schülers und Mitarbeiters De Andrés, das vor genau zehn Jahren geschrieben wurde und seine Inspiration einer Nachrichtenmeldung vom 3. Januar 2012 verdankt, als zwei Diebe zur Schließungszeit eine chinesische Familie in der vom Vater betriebenen Bar überfielen und wo während des Handgemenges Joy, ein neun Monate altes Mädchen, ums Leben kam. Bubola besingt die Unfähigkeit zu singen, zu sprechen wie auch zu weinen: »Was können wir weinen, wenn wir keine Tränen haben. Was können wir schreiben, wenn wir keine Seiten haben. Was können wir sagen, wenn wir keine Stimme haben. Wir, die wir nicht verstehen, am Fuß des Kreuzes zu stehen, und nicht glauben können, dass das Erbarmen (Pietà) tot ist.« Und der Gedanke geht zu Maria, dieser jungen Frau, die die »Pietà« ist, die im Evangelium so wenig spricht, aber schweigend präsent ist, dort unterm Kreuz. Nicht allein, denn sie ist begleitet von Johannes und, dessen sind wir uns gewiss, von der Gabe der Tränen.

Ein junger, von missionarischem Eifer erfüllter Priester begab sich nach Kalkutta zu Mutter Teresa und fragte sie, wie er ihr helfen könne; die Mutter schickte ihn sogleich in die Station mit den Kranken, denen es am schlechtesten ging, den unheilbar Kranken. Er verbrachte dort einen Tag. Abends trafen sie wieder zusammen: »Wie ist es gegangen?«, fragte sie ihn. »Ach, ich weiß nicht recht, was ich sagen soll… Ich war dort, ich hätte viel mehr machen wollen, ich habe sie sterben gesehen und habe nicht verstanden, ihnen wenigstens ein Wort des Trostes zu sagen«, antwortete der junge Priester untröstlich. »Sie waren dort, wie die Muttergottes. Auch Maria war dort, unter dem Kreuz, und hat keine großen Worte gemacht. Aber sie war dort.«

Von Andrea Monda