Zu den weniger bekannten Details aus dem Leben von Charles de Foucauld (1858-1916) gehören sicherlich seine Aufenthalte in Jerusalem. Dabei handelt es sich um relativ kurze Zeitabschnitte, vor allem in den drei Jahren, die er als Hausmeister der Klarissen in Nazaret verbrachte. Wie aus dem Briefwechsel mit seinem geistlichen Vater, Abbé Huvelin, klar hervorgeht, war sein bevorzugter Wohnort das verborgene Nazaret und nicht die Heilige Stadt Got-tes. Doch verdient auch das, was er bei den Klarissen in Jerusalem erlebt hat, Erwähnung und weitere Vertiefung. Das Kloster der heiligen Klara bewahrt in einem Fonds des Privatarchivs einige wertvolle Zeugnisse, die nunmehr, nach der Heiligsprechung, zu Recht als Reliquien betrachtet werden dürfen.
Charles war Anfang März 1897 in Nazaret angekommen. Und wahrscheinlich wäre er von dort auch nicht mehr weggegangen, wenn die Äbtissin des Klarissenklosters von Nazaret ihn nicht nach Jerusalem geschickt hätte, offiziell mit der Aufgabe eines Briefträgers, in Wirklichkeit aber wünschte sie, dass diese ganz und gar nicht den konventionellen Mustern des Ordenslebens entsprechende Persönlichkeit – dessen außerordentliche Qualitäten sie allerdings zu schätzen begonnen hatte – die Äbtissin des Jerusalemer
Klosters treffen sollte, die älter und erfahrener war als sie selbst.
Charles traf am 10. Juli 1898 in Jerusalem ein und blieb nur vier Tage. Das reichte aus, um einige Male mit der dortigen Äbtissin, Mutter Elisabeth vom Kalvarienberg, zu sprechen. Diese hatte, von den Mitschwestern aus Nazaret unterrichtet, spontan die Heiligkeit dieses einzigartigen Mannes erahnt und hatte ihn als entschlossene, pragmatische Persönlichkeit, die sie war, ohne viel Umschweife gebeten, sich in Jerusalem niederzulassen, wobei sie den Plan hatte, er könne der Seel-sorger des Klosters werden. Diese Bitte ver-blüffte Charles, der beunruhigt und verwirrt nach Nazaret zurückkehrte. Er schrieb an Abbé Huvelin und fragte ihn um Rat. Überraschenderweise stimmte er der Übersiedlung nach Jerusalem zu.
Der zweite Aufenthalt von Charles in Jerusalem dauerte sechs Monate: vom 13. September 1898 bis 20. Februar 1899. Es waren Monate innerer Suche, der Entscheidungsfindung in Bezug auf große Pläne, aber auch der Unsicherheit und des Zweifels. Auf der einen Seite spürte er den Wunsch, etwas Neues zu gründen, sicherlich auch angeregt durch die Worte und das Beispiel von Mutter Elisabeth, auf die die Niederlassungen in Nazaret und Jerusalem zurückgingen. Außerdem war da die bisher abgelehnte Idee, Priester zu werden, was ihm bei der Leitung einer entstehenden Gruppe von Brüdern größere Autorität verliehen hätte. Aber dieser Wunsch
schien der Entscheidung zu einem Leben in Verborgenheit und Erniedrigung zu widersprechen, und er spürte, dass er sich davon nicht entfernen durfte. Mit der Zeit klärten sich die Dinge, und es gelang, das, was dem menschlichen Blick unvereinbar erschien, in Einklang zu bringen: Bruder Charles wird zum Priester geweiht werden und es wird ihm auch gelingen, sein Charisma als Gründer zu leben, ohne den Geist von Nazaret zu verraten. Die Monate in Jerusalem waren demnach »die Zeit, in der er seinen wahren Weg suchte und auf die Stunde Gottes wartete«, wie die Klarissen von Jerusalem in einem Zeugnis aus den 1920er-Jahren über ihn sagten. Ihr Archiv dokumentiert diese Etappe des inneren Weges von Bruder Charles, wobei die verschiedenen Elemente seiner Persönlichkeit hervortreten, die bei ihm im Alter von vierzig Jahren noch nicht den endgültigen Platz gefunden hatten.
Das erkennt man auch an einigen seiner Zeichnungen des Klos-ters, auf denen im Hintergrund Jerusalem dargestellt ist. Die Heilige Stadt zeigt er nicht so, wie sie »ist«, sondern vor allem, wie »er sie sieht«. Die mächtigen Stadtmauern sind nur angedeutet, größer dargestellt sind Golgotha, das Heilige Grab und der Abendmahlssaal. Im Zentrum des Bildes dominiert der Ölberg, auch Bethanien ist gut zu erkennen. Nicht die Größe Jerusalems interessiert Bruder Charles, sondern die Orte der Verborgenheit Jesu: Orte des Gebets (Getsemani) und des täglichen Lebens (das Haus von Marta, Maria und Lazarus). Sein Blick sucht stets das verborgene Leben, er sucht sozusagen »Nazaret in Jerusalem«.
Ein weiteres Zeugnis aus dem Archiv sind die Vorlagen für Paramente. Es ist bekannt, dass Klausurnonnen kunstfertige Stickerinnen sind. Aber eine Stickerei auszuführen ist etwas anderes, als Zeichnungen zu entwerfen. Im Zeugnis der Klarissinnen heißt es weiter: »Nachdem er uns einige von ihm gemalte Bilder geschenkt hatte, bat man ihn, eine ganze Reihe von Zeichnungen für Paramente anzufertigen, wobei er vollkommenen Geschmack bewies, die wir eifersüchtig hüten.« Wir werden nie erfahren, ob die Bitte, Muster für Paramente zu entwerfen, ein Trick von Mutter Elisabeth war, um den zögernden Charles indirekt dazu zu bewegen, das Geheimnis des Priestertums zu betrachten. In diesen quälenden Monaten verbrachte er viele Stunden damit, liturgische Gewänder zu entwerfen – Gewänder, die ihn gleichzeitig anzogen und ängstigten.
Das Archiv birgt noch mehr, unter anderem originelle »Spielkarten«, angefertigt von Bruder Charles (siehe Bild oben rechts). Jede Karte ist etwa 11,5 mal 6,5 cm groß und besteht aus Karton, auf den ein dünnes Blatt Papier mit Zeichnungen und handschriftlichen Anmerkungen aufgeklebt ist. Auf der einen Seite der Karten ist stets in roter Farbe das Herz Christi mit einem Kreuz darüber zu sehen, begleitet von den Worten »Jesus Charitas«,während im unteren Teil zu lesen ist: »Um heilig zu werden, muss man es wollen. Hl. Benedikt«. Auf der anderen Seite der Karte dagegen steht immer etwas anderes: oben einige Zeilen aus der Heiligen Schrift oder aus der Liturgie, darunter eine asketische Übung oder ein Gebet und schließlich die Bemerkung: »30 Tage lang alle Ablässe unseren verstorbenen Mitschwestern zukommen lassen.« Es handelt sich also um ein »geistliches Spiel«, erfunden, um den Klausurnonnen zu helfen, Askese und Heiligung eifriger zu leben. Mit dem Ziehen einer Karte war die Klarissin aufgefordert, eine bestimmte Übung als himmlische Inspiration anzunehmen und sie mit gewissenhafter Liebe zu erfüllen. Die von Bruder Charles gewählten Bußübungen sind zum Beispiel: »30 Mal sich in Demut üben«, »30 Mal sich Gott überlassen in den inneren Prüfungen«, »30 Mal Sanftmut üben«. Liebe, Stille, Hingabe an Gott, Sanftmut und Verborgenheit sind bereits hier die von Bruder Charles bevorzugten Mittel der Heiligung.
Im Jerusalemer Archiv der Klarissen gibt es darüber hinaus einige Bilder mit Darstellungen der Heiligen Familie von Nazaret bei der Arbeit: Josef und Jesus stehen an der Hobelbank, Maria ist mit dem Spinnen von Wolle beschäftigt, Jesus steht immer im Mittelpunkt. Das kleine Bild mit der Darstellung von einfacher handwerklicher Tätigkeit ist umgeben von Zitaten aus der Bibel und Stoßgebeten sowie der Anrufung: »Von euch werde ich lernen zu schweigen, unbekannt auf der Erde unterwegs wie ein Reisender in der Nacht.« Die Metapher des verstohlenen nächtlichen Reisenden bringt die Spiritualität des zukünftigen »kleinen Bruders« vollkommen zum Ausdruck.
Im Archiv der Klarissen von Jerusalem gibt es noch viel weiteres Material, Zeichnungen und Handschriften, die eine eingehende Beschäftigung verdienen würden. Insgesamt handelt es sich nicht um Quellen, die ein bisher unbekanntes Bild von Charles de Foucauld zeichnen würden, vielmehr sind es wertvolle Reliquien. Die Klarissen hatten die Wahrheit geahnt: »Wir haben einen Heiligen im Haus!« Die Kirche hat dies am vergangenen Sonntag feierlich bestätigt.
Von Filippo Morlacchi