Liebe Brüder und Schwestern,
guten Morgen und herzlich willkommen!
Ich danke Bischof Poisson für seine Worte und einem jeden von euch für seine Anwesenheit und für die Gebete, die zum Himmel erhoben wurden. Ich bin euch dankbar dafür, dass ihr trotz der pandemiebedingten Unannehmlichkeiten nach Rom gekommen seid. In den letzten Tagen habe ich euren Berichten aufmerksam zugehört. Ich habe sie in meine Reflexion und mein Gebet einfließen lassen und mir dabei eure Geschichten und Situationen vorgestellt. Ich bin euch dankbar dafür, dass ihr euer Herz geöffnet habt und dass ihr durch diesen Besuch den Wunsch zum Ausdruck gebracht habt, gemeinsam zu gehen.
Ich möchte einige der zahlreichen Aspekte aufgreifen, die mir aufgefallen sind. Lasst mich mit einer Redewendung beginnen, die zu eurer Weisheit gehört und die nicht nur ein Sprichwort ist, sondern eine Lebenseinstellung: »Man muss sieben Generationen vorausdenken, wenn man heute eine Entscheidung trifft.« Dieser Satz ist weise, er ist weitsichtig, und er ist das Gegenteil von dem, was unserer Tage oft geschieht, wo wir nützliche und unmittelbare Ziele verfolgen, ohne an die Zukunft der nächsten Generationen zu denken. Dagegen ist die Verbindung zwischen älteren und jungen Menschen unverzichtbar! Sie muss gehegt und gepflegt werden, denn sie sorgt dafür, dass die Erinnerung nicht gelöscht wird und die Identität nicht verloren geht. Und wenn die Erinnerung und die Identität geschützt werden, dann wird die Menschheit besser.
Beziehung
zum Schöpfer
Sodann ist in den letzten Tagen ein wunderschönes Bild aufgetaucht. Ihr habt euch mit den Ästen eines Baumes verglichen. Wie diese seid auch ihr in verschiedene Richtungen gewachsen, habt verschiedene Jahreszeiten durchlebt und seid von starken Winden umweht worden. Aber ihr habt euch mit aller Kraft in den Wurzeln verankert, die ihr festgehalten habt. Und so tragt ihr auch weiterhin Frucht, denn die Zweige strecken sich nur dann nach oben, wenn die Wurzeln tief sind.
Ich möchte einige Früchte erwähnen, die es verdienen, gekannt und geschätzt zu werden. An erster Stelle eure Fürsorge für das Land, das ihr nicht als ein Gut betrachtet, das beliebig ausgebeutet werden kann, sondern als ein Geschenk des Himmels; für euch bewahrt es die Erinnerung an die Ahnen, die dort ruhen, und es ist ein lebenswichtiger Raum, in dem man sein Leben in einem Beziehungsgeflecht mit dem Schöpfer, mit der menschlichen Gemeinschaft, mit allen lebendigen Arten und mit dem gemeinsamen Haus, das wir bewohnen, begreifen kann. All das bewegt euch dazu, nach innerer und äußerer Harmonie zu streben, eine tiefe Liebe zur Familie zu hegen und über einen lebendigen Gemeinschaftssinn zu verfügen. Hinzu kommt der besondere Reichtum eurer Sprachen, eurer Kulturen, eurer Traditionen und künstlerischen Ausdrucksformen, ein Erbe, das nicht nur euch, sondern der gesamten Menschheit gehört, da es Menschlichkeit zum Ausdruck bringt.
Aber euer Baum, der so reiche Früchte trägt, hat eine Tragödie erlitten, von der ihr mir in den letzten Tagen berichtet habt: die Tragödie der Entwurzelung. Die Kette, die das Wissen und die Lebensweisen weitergegeben hat, in Symbiose mit dem Land, wurde durch die Kolonisierung unterbrochen, die viele von euch rücksichtslos aus eurem Lebensumfeld gerissen und versucht hat, euch an eine andere Mentalität anzupassen. Auf diese Weise wurden eure Identität und eure Kultur verletzt, viele Familien wurden getrennt, viele Kinder wurden Opfer dieser Form von Gleichschaltung, die von der Vorstellung gestützt wurde, dass der Fortschritt durch ideologische Kolonisierung nach am Schreibtisch ausgeklügelten Programmen erfolge, anstatt das Leben der Völker zu respektieren. Das ist etwas, das leider auf verschiedenen Ebenen auch heute noch geschieht: die ideologischen Kolonisierungen. Wie viele politische, ideologische und wirtschaftliche Kolonisierungen gibt es noch in der Welt, die von Habgier und Profitsucht getrieben werden, ohne Rücksicht auf die Völker, ihre Geschichte und Traditionen und auf das gemeinsame Haus der Schöpfung. Leider ist diese koloniale Mentalität immer noch weit verbreitet. Lasst uns einander gemeinsam dabei helfen, sie zu überwinden!
Dank eurer Stimmen habe ich die Berichte von Leid, von Entbehrungen, von diskriminierenden Behandlungen und verschiedenen Formen des Missbrauchs, die einige von euch insbesondere in den Internaten erlitten haben, mit Händen greifen und mit großer Traurigkeit im Herzen betrachten können. Es ist grauenvoll, sich den Willen vorzustellen, Menschen ein Gefühl der Minderwertigkeit einzuflößen, jemandem seine kulturelle Identität zu nehmen, seine Wurzeln zu kappen, mit all den persönlichen und sozialen Folgen, die dies mit sich gebracht und auch weiterhin mit sich bringt: unbewältigte Traumata, die zu generationenübergreifenden Traumata geworden sind.
All das hat in mir zwei Gefühle hervorgerufen: Empörung und Scham. Empörung, weil es unrecht ist, das Böse zu akzeptieren, und noch schlimmer ist es, sich an das Böse zu gewöhnen – als wäre es eine unausweichliche Dynamik, die durch die Ereignisse der Geschichte hervorgerufen wird. Nein, ohne eine entschiedene Empörung, ohne Erinnerung und ohne die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, lassen sich die Probleme nicht lösen und kehren wieder! Das sehen wir dieser Tage im Hinblick auf den Krieg. Man darf die Erinnerung an die Vergangenheit niemals auf dem Altar des vermeintlichen Fortschritts opfern.
Bitte
um Vergebung
Und ich empfinde auch Scham – ich habe es euch gesagt, und ich wiederhole es – Scham, Trauer und Schande im Hinblick auf die Rolle, die einige Katholiken, insbesondere Personen mit pädagogischer Verantwortung, bei all dem gespielt haben, was euch verletzt hat, bei dem Missbrauch und der Missachtung eurer Identität, eurer Kultur und sogar eurer geistigen Werte. All dies steht im Widerspruch zum Evangelium Jesu. Für das beklagenswerte Verhalten dieser Glieder der katholischen Kirche bitte ich Gott um Vergebung und ich möchte euch von Herzen sagen: Ich bin zutiefst betrübt. Und ich schließe mich meinen Brüdern, den Bischöfen Kanadas, an und bitte euch um Verzeihung. Es liegt auf der Hand, dass man die Inhalte des Glaubens nicht auf eine Weise vermitteln kann, die dem Glauben selbst fremd ist: Jesus hat uns gelehrt, aufzunehmen, zu lieben, zu dienen und nicht zu richten; es ist schrecklich, wenn man gerade im Namen des Glaubens ein Gegenzeugnis zum Evangelium ablegt.
Eure Geschichte lässt mich noch intensiver an die hochaktuellen Fragen denken, die der Schöpfer am Anfang der Bibel an die Menschheit richtet. Zunächst fragt er den Menschen nach der begangenen Sünde: »Wo bist du?« (Gen 3:9). Kurz darauf stellt er ihm eine weitere Frage, die nicht von der vorherigen zu trennen ist: »Wo ist dein Bruder?« (Gen 4:9). Wo bist du, wo ist dein Bruder? Das sind Fragen, die wir uns immer stellen müssen, es sind die wesentlichen Fragen unseres Gewissens, damit wir nicht vergessen, dass wir als Hüter der Heiligkeit des Lebens auf dieser Erde sind und damit als Hüter unserer Brüder und Schwestern, jedes Bruder- und Schwestervolkes.
Zugleich denke ich mit Dankbarkeit an viele gute Gläubige, die im Namen des Glaubens, mit Respekt, Liebe und Freundlichkeit eure Geschichte mit dem Evangelium bereichert haben. Ich freue mich zum Beispiel, wenn ich an die Verehrung denke, die sich bei vielen von euch für die heilige Anna, die Großmutter Jesu, verbreitet hat. Ich wäre dieses Jahr an jenen Tagen gerne bei euch. Heute müssen wir ein Bündnis zwischen Großeltern und Enkeln, zwischen Älteren und Jüngeren wiederherstellen, als Grundvoraussetzung für eine größere Einheit der menschlichen Gemeinschaft.
Liebe Brüder und Schwestern, ich hoffe, dass die Begegnungen dieser Tage uns weitere Wege eröffnen, die wir gemeinsam gehen können, die Mut machen und das Engagement auf lokaler Ebene stärken. Ein wirksamer Heilungsprozess erfordert konkrete Maßnahmen. Im Geiste der Geschwisterlichkeit ermutige ich die Bischöfe und die Katholiken, weiterhin Schritte zur transparenten Suche nach der Wahrheit und zur Förderung der Heilung der Wunden und der Versöhnung zu unternehmen; Schritte eines Weges, der es gestatten möge, eure Kultur wiederzuentdecken und wiederzubeleben, der in der Kirche die Liebe, den Respekt und die besondere Aufmerksamkeit für eure echten Traditionen stärken möge. Ich möchte euch sagen, dass die Kirche auf eurer Seite steht und euch weiterhin begleiten möchte. Der Dialog ist der Schlüssel zum Kennenlernen und zum Austausch, und die kanadischen Bischöfe haben deutlich ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, gemeinsam mit euch einen erneuerten, konstruktiven und fruchtbaren Weg zu beschreiten, bei dem Begegnungen und gemeinsame Projekte hilfreich sein können.
Liebe Freunde, eure Worte und noch mehr euer Zeugnis haben mich bereichert. Ihr habt den lebendigen Sinn eurer Gemeinschaften hierher nach Rom gebracht. Ich werde gerne erneut von der Begegnung mit euch profitieren und eure Heimat besuchen, wo eure Familien leben. Aber ich werde nicht gerade im Winter zu euch kommen… Ich verabschiede mich von euch also mit einem »Auf Wiedersehen in Kanada«, wo ich meine Verbundenheit mit euch besser zum Ausdruck werde bringen können. Unterdessen versichere ich euch meiner Gebete und erbitte den Segen des Schöpfers für euch, eure Familien und eure Gemeinschaften.
Und ich will nicht schließen, ohne auch an euch, meine Mitbrüder im bischöflichen Amt, ein Wort zu richten: Danke! Danke für euren Mut. Danke. In Demut: In der Demut offenbart sich der Geist des Herrn. Angesichts von Geschichten wie dieser, die wir gehört haben, ist die Demütigung der Kirche fruchtbar. Danke für euren Mut! Und danke euch allen!
Am Ende der Audienz erteilte der Heilige Vater den Segen und grüßte die Delegationen der indigenen Völker Kanadas in englischer Spracher mit folgenden Worten:
Gott segne euch alle – der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Betet für mich, bitte vergesst das nicht! Ich werde für euch beten. Herzlichen Dank für euren Besuch. Auf Wiedersehen.