Vatikanstadt. Am Sonntagmorgen, 17. April, hat Papst Franziskus die Ostermesse auf dem Petersplatz gefeiert. Nach zwei Jahren coronabedingter Pause nahmen wieder zehntausende Gläubige aus aller Welt an dem Gottesdienst teil. Der Platz vor dem Petersdom war mit rund 40.000 Blumen und Pflanzen aus den Niederlanden geschmückt. Zum Schluss erteilte der Heilige Vater von der Mittelloggia des Petersdoms aus den traditionellen Segen »Urbi et Orbi«, der Stadt Rom und dem Erdkreis. Davor verlas er folgende Osterbotschaft:
Liebe Brüder und Schwestern,
frohe Ostern!
Jesus, der Gekreuzigte, ist auferstanden! Er kommt in die Mitte derer, die sich zu Hause eingeschlossen haben und angst- und schreckerfüllt um ihn trauern. Er kommt in ihre Mitte und sagt: »Friede sei mit euch!« (Joh 20,19). Er zeigt ihnen die Wunden an seinen Händen und Füßen, die Wunde an seiner Seite: Es ist kein Gespenst, er ist es, derselbe Jesus, der am Kreuz starb und im Grab war. Unter den ungläubigen Blicken der Jünger wiederholt er: »Friede sei mit euch!« (V. 21).
Auch unsere Blicke sind an diesem Osterfest in Kriegszeiten ungläubig. Wir haben zu viel Blutvergießen, zu viel Gewalt gesehen. Auch unsere Herzen waren von Angst und Schrecken erfüllt, während so viele unserer Brüder und Schwestern sich einschließen mussten, um sich vor den Bomben zu schützen. Es fällt uns schwer zu glauben, dass Jesus wirklich auferstanden ist, dass er den Tod wirklich besiegt hat. Ist es vielleicht eine Illusion? Das Ergebnis unserer Einbildungskraft?
Nein, es ist keine Illusion! Heute erklingt mehr denn je die Osterbotschaft, die dem christlichen Osten so teuer ist: »Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!« Heute sind wir mehr denn je auf ihn angewiesen, am Schluss einer Fastenzeit, die nicht zu enden wollen scheint. Wir haben zwei Jahre Pandemie hinter uns, die schwere Spuren hinterlassen haben. Es war an der Zeit, gemeinsam aus dem Tunnel herauszukommen, Hand in Hand, mit vereinten Kräften und Mitteln... Aber stattdessen zeigen wir, dass wir immer noch nicht den Geist Jesu in uns tragen, sondern noch den Geist Kains, der Abel nicht als Bruder, sondern als Rivalen ansieht und darüber nachsinnt, wie er ihn beseitigen kann. Wir brauchen den auferstandenen Gekreuzigten, um an den Sieg der Liebe zu glauben, um auf Versöhnung zu hoffen. Heute brauchen wir ihn mehr denn je, der zu uns kommt und uns erneut sagt: »Friede sei mit euch!«
Nur er kann dies tun. Nur er hat heute das Recht, uns den Frieden zu verkünden. Nur Jesus, denn er trägt die Wunden, unsere Wunden. Diese seine Wunden sind auf zweifache Weise die unseren: Sie sind die unseren, weil sie ihm von uns zugefügt wurden, von unseren Sünden, von unserer Herzenshärte, von brudermörderischem Hass; und sie sind die unseren, weil er sie für uns trägt, er hat sie nicht von seinem glorreichen Leib getilgt, er wollte sie für immer an sich behalten. Sie sind ein unauslöschliches Siegel seiner Liebe zu uns, als immerwährende Fürsprache, damit unser himmlischer Vater sie sieht und sich über uns und die ganze Welt erbarmt. Die Wunden am Leib des auferstandenen Jesus sind das Zeichen des Kampfes, den er für uns mit den Waffen der Liebe geführt und gewonnen hat, auf dass wir Frieden haben, in Frieden sein und in Frieden leben können.
Wenn wir auf diese glorreichen Wunden schauen, öffnen sich unsere ungläubigen Augen, unsere verhärteten Herzen lösen sich und lassen die Osterbotschaft eintreten: »Friede sei mit euch!«
Brüder und Schwestern, lassen wir den Frieden Christi in unser Leben, in unsere Häuser, in unsere Länder eintreten!
Möge der leidgeprüften Ukraine, die durch die Gewalt und die Zerstörung des grausamen und sinnlosen Krieges, in den sie hineingezogen wurde, so sehr gelitten hat, Friede widerfahren. Möge bald eine neue Morgendämmerung der Hoffnung über diese schreckliche Nacht des Leidens und des Todes hereinbrechen! Möge man den Frieden wählen. Man möge aufhören, die Muskeln spielen zu lassen, während die Menschen leiden. Bitte, bitte: Gewöhnen wir uns nicht an den Krieg, setzen wir uns alle dafür ein, von unseren Balkonen und auf den Straßen mit lauter Stimme den Frieden zu verlangen! Frieden! Diejenigen, die für die Nationen Verantwortung tragen, mögen auf den Schrei der Menschen nach Frieden hören. Sie mögen die beunruhigende Frage hören, die Wissenschaftler vor fast siebzig Jahren stellten: »Werden wir dem Menschengeschlecht ein Ende setzen, oder wird die Menschheit im Stande sein, auf den Krieg zu verzichten?« (Russell-Einstein-Manifest, 9. Juli 1955).
In meinem Herzen trage ich all die vielen ukrainischen Opfer, die Millionen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die auseinandergerissenen Familien, die allein gelassenen alten Menschen, die zerstörten Leben und die dem Erdboden gleichgemachten Städte. Ich habe den Blick der Waisenkinder, die vor dem Krieg fliehen, in meinen Augen. Wenn wir sie betrachten, können wir nicht umhin, ihren Schmerzensschrei zu hören, ebenso wie den der vielen anderen Kinder, die überall auf der Welt leiden: derjenigen, die an Hunger oder mangelnder Versorgung sterben, derjenigen, die Opfer von Miss-brauch und Gewalt sind, und derjenigen, denen das Recht verweigert wurde, geboren zu werden.
Inmitten des Schmerzes des Krieges fehlt es auch nicht an ermutigenden Zeichen, wie die offenen Türen so vieler Familien und Gemeinschaften, die in ganz Europa Migranten und Flüchtlinge aufnehmen. Mögen diese vielen Taten der Nächstenliebe zum Segen für unsere Gesellschaft werden, die durch so viel Egoismus und Individualismus zuweilen verkommen ist. Mögen diese Taten ein Beitrag sein, der die Gesellschaft bereitmacht, alle aufzunehmen.
Möge der Konflikt in Europa uns auch auf andere Situationen der Spannung, des Leids und des Schmerzes aufmerksam machen, die allzu viele Regionen der Welt betreffen und die wir nicht vergessen können und wollen.
Möge dem Nahen Osten, der seit Jahren von Spaltung und Konflikten zerrissen ist, Frieden beschieden sein. An diesem glorreichen Tag bitten wir um Frieden für Jerusalem und um Frieden für alle, die es lieben (vgl. Ps 121 [122]), Christen, Juden, Muslime. Mögen Israelis, Palästinenser und alle Bewohner der Heiligen Stadt zusammen mit den Pilgern die Schönheit des Friedens erleben, in Geschwis-terlichkeit leben und die Heiligen Stätten unter gegenseitiger Achtung der Rechte jedes Einzelnen frei betreten.
Mögen Frieden und Versöhnung für die Völker des Libanon, Syriens und Irak und insbesondere für alle im Nahen Osten lebenden christlichen Gemeinschaften sein.
Möge auch in Libyen Frieden herrschen, damit das Land nach Jahren der Spannungen zu Stabilität findet, und im Jemen, der unter einem von allen vergessenen Konflikt leidet, der beständig Opfer fordert: Möge der in den letzten Tagen unterzeichnete Waffenstillstand der Bevölkerung wieder Hoffnung geben.
Wir bitten den auferstandenen Herrn um die Gabe der Versöhnung für Myanmar, wo ein dramatisches Szenario von Hass und Gewalt andauert, und für Afghanistan, wo die gefährlichen sozialen Spannungen nicht nachlassen und eine tragische humanitäre Krise die Bevölkerung quält.
Möge auf dem gesamten afrikanischen Kontinent Friede herrschen, damit die Ausbeutung, der er ausgesetzt ist, und das Ausbluten durch terroristische Anschläge – insbesondere in der Sahelzone – aufhören, und möge er eine konkrete Stütze in der Geschwisterlichkeit der Völker finden. Möge Äthiopien, das von einer schweren humanitären Krise heimgesucht wird, den Weg des Dialogs und der Versöhnung finden, und möge die Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo ein Ende finden. Möge es nicht an Gebet und Solidarität für die von verheerenden Überschwemmungen betroffenen Bevölkerungen im Osten Südafrikas mangeln.
Der auferstandene Christus begleite und stehe den Völkern Lateinamerikas bei, deren soziale Lage sich in einigen Fällen in diesen schwierigen Zeiten der Pandemie verschlimmert hat, die zudem durch Kriminalität, Gewalt, Korruption und Drogenhandel verschärft wird.
Wir bitten den auferstandenen Herrn, den Weg der Versöhnung zu begleiten, den die katholische Kirche in Kanada mit den autochthonen Völkern eingeschlagen hat. Möge der Geist des auferstandenen Christus die Wunden der Vergangenheit heilen und die Herzen zur Suche nach Wahrheit und Geschwisterlichkeit befähigen.
Liebe Brüder und Schwestern, jeder Krieg hat Nachwirkungen, welche die ganze Menschheit angehen: von den Todesfällen über das Flüchtlingsdrama bis hin zur Wirtschafts- und Ernährungskrise, deren Vorboten bereits erkennbar sind. Angesichts der anhaltenden Zeichen des Krieges wie auch der vielen schmerzhaften Niederlagen des Lebens ermutigt uns Christus, der Sieger über Sünde, Angst und Tod, nicht dem Bösen und der Gewalt nachzugeben. Brüder und Schwestern, lassen wir uns vom Frieden Christi überwältigen! Der Friede ist möglich, der Friede ist eine Pflicht, der Friede ist die vorrangige Verantwortung aller!