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Wenn wir keine Tränen
mehr haben

Relatives of a civilian man exhumed from his yard react in Gostomel village, Kyiv region on April ...
28. April 2022

»Non ridere, non lugere neque detestari sed intelligere«, so lautet Baruch de Spinozas berühmter Satz, der sich auch leicht übersetzen lässt: »Nicht belachen, nicht betrauern und nicht verabscheuen, sondern (sich bemühen zu) verstehen«. Der große holländische Philosoph bezog sich dabei auf die »menschlichen Handlungen«, die es zu verstehen galt – wohlverstanden mit Intelligenz -, allerdings unter der Voraussetzung, dass vorher die emotionalen Aspekte beiseitegelassen worden waren. Wahrlich weise Worte. Als sie seinerzeit ausgesprochen wurden, waren sie vielleicht auch ein an Spinozas Zeitgenossen gerichteter Schrei, der dazu dienen sollte, dem Irrsinn des unablässigen Krieges ein Ende zu setzen, der in jenen Jahrhunderten Europas Boden mit Blut tränkte. Dieser Schrei ist zu einer Art umgekehrter Prophezeiung geworden, denn leider hat er sich bewahrheitet. Der moderne Mensch hat die emotionalen Aspekte zugunsten der Vernunft beiseitegeschoben - in diesem Sinne erscheint Spinoza als ein »Vater« der Aufklärung -, aber auf eine so radikale Art und Weise, dass er eine Wüste hervorgebracht hat. Wir verstehen nicht mehr zu lachen noch zu trauern, aber wir alle bilden uns ein, zu verstehen. Es ist der historische Augenblick der »Experten«, und alles wird ihren kalten Analysen überlassen. Die Tränen, seien es nun Freudentränen oder solche der Trauer, scheinen sich durch völlige Abwesenheit auszuzeichnen.

In dieser Zeitung war bereits mehrfach die Rede von der Krise des Sinns für Humor, und zwar gerade weil der Humor in Wirklichkeit eine Tugend ist, die die Katholiken nicht vernachlässigen dürfen. Ein Denker wie Jacques Maritain warnte, dass »eine Gesellschaft, die ihren Sinn für Humor verloren hat, ihr eigenes Begräbnis vorbereitet«, und alle der letzten Päpste, speziell Papst Franziskus, haben oft davon gesprochen, wie grundlegend wichtig es ist, dass der Christ die gute Laune pflegt und zu lachen versteht. »Man lernt einen Menschen kennen dank der Art und Weise, wie er lacht«, so beobachtete Dostojewski, aber das trifft vielleicht sogar noch mehr auf das Weinen zu: Es sind gerade die Tränen, die offenbaren, ob in einem Menschen noch eine Spur von Menschlichkeit vorhanden ist. Entgegen der landläufigen Meinung muss bekräftigt werden, dass ein echter Mann weint.

Heute, aus der Perspektive des Krieges, sieht die Lage kaum anders aus als jene in Spinozas 17. Jahrhundert: Immer noch fließt im Herzen Europas Blut. Was fehlt sind allerdings die Tränen. Das hat der Papst am Samstag während der Audienz für die Teilnehmer an der Pilgerfahrt der Pastoralgemeinschaft »Unsere Liebe Frau von den Tränen« aus Treviglio gesagt: »Unsere Zivilisation, unsere Zeit, hat den Sinn für das Weinen verloren«. Auch für Franziskus, einen großen Fan des russischen Romanciers, ist die »Art und Weise« des Seins sehr wichtig: »Ich glaube, dass wir, unsere Zeit – ich spreche im Allgemeinen – die Gewohnheit verloren haben, ›gut‹ zu weinen. Vielleicht weinen wir, wenn etwas geschieht, das uns betrifft, oder wenn wir Zwiebeln schneiden. Aber die Tränen, die von Herzen kommen, die wahren Tränen wie die des Petrus, als er bereute, wie jene der Muttergottes.« Maria weint, und im Allgemeinen sind die Frauen eher imstande zu weinen als die Männer, sie haben die Gabe der Tränen. Denn das Weinen ist eine Gabe, eine Gnade, so der Papst: »Wir müssen um die Gnade bitten, angesichts dessen, was wir sehen, zu weinen, weinen über die Ausbeutung der Menschheit, nicht nur durch Kriege – ich habe darüber gesprochen -, sondern auch durch das Wegwerfen, das Ausrangieren der alten Menschen, das Aussortieren von Kindern noch bevor sie geboren werden… Unzählige Wegwerf-Dramen: dieser Arme, der keinen Lebensunterhalt hat, wird ausgesondert, die Straßen voller Obdachloser… Das Elend unserer Zeit sollte uns zum Weinen bringen, und wir haben es nötig zu weinen.«

Das trauern (lugere) ist nach wie vor unerlässlich. Eine indirekte Antwort wurde dem holländischen «Propheten« der Aufklärung seitens des englischen Schriftstellers Chesterton zuteil, in Umkehrung eines anderen Klischees: »Der Wahnsinnige ist nicht derjenige, der seinen Verstand verloren hat, sondern derjenige, der alles außer seinem Verstand verloren hat.« Die »Desertifikation« der Gefühle hat einen unausgeglichenen Menschen hervorgebracht, der nur noch mit kalter Rationalität ausgestattet ist, aber das Herz der Menschlichkeit verloren hat. Es ist wiederum Chesterton, der bekräftigt, dass »es die Feen sind, die die Vernunft bewahren«, wenn dem Menschen, diesem reichen und komplexen Wesen, die Vorstellungskraft und das Gefühl abhandenkommen und er wie «entstellt« und paradoxerweise auch unfähig zu verstehen (intelligere) zurückbleibt. Im Laufe des Gesprächs zwischen Kardinal Tolentino de Medonça und dem Fußballtrainer José Mourinho hat Letzterer an einen Satz des portugiesischen Philosophen Manuel Sergio erinnert: »Wer alles über Fußball weiß, aber nur über Fußball, weiß nichts über Fußball.« Wir leiden an einem Übermaß an »Experten« und gleichzeitig an einem Mangel an »Erfahrung«, jenem Zustand, der es dem Menschen erlaubt, sich zu verändern, (mit-)gerührt zu sein, möglicherweise bis an den Rand der Tränen.

Von Andrea Monda


(Orig. ital. in O.R. 25.4.2022)