· Vatikanstadt ·

Eröffnung des 93. Gerichtsjahres des Staates der Vatikanstadt

Gezielte Reformmaßnahmen im Bereich der Rechtspflege

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15. April 2022

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich freue mich, Ihnen anlässlich der Eröffnung des 93. Gerichtsjahres des Staates der Vatikanstadt zu begegnen.

Ich begrüße Kardinal Mamberti, Präsident des Kassationshofes, sowie die Kardinäle, die Richter an demselben Gerichtshof sind. Ich begrüße Msgr. Arellano Cedillo und die Richter des Appellationsgerichts. Insbesondere danke ich dem Präsidenten des Gerichtshofes, Giuseppe Pignatone, sowie dem Kirchenanwalt, Gian Piero Milano, den Richtern der jeweiligen Ämter und ihren Mitarbeitern für die Hingabe, mit der sie sich in dem schwierigen Dienst der Rechtspflege einsetzen. Ich freue mich auch über die Anwesenheit der verschiedenen Vertreter der höchsten Rechtsorgane des italienischen Staates und bin dankbar dafür. Allen bringe ich meine besten Wünsche zum Ausdruck für das Gerichtsjahr, das wir heute eröffnen.

Synodaler Stil

Ihre fachkundige und zahlreiche Anwesenheit hebt die große Bedeutung hervor, die wir diesem Anlass zuerkennen. Er bietet Gelegenheit zur Begegnung und zum Dialog zwischen Menschen, die in der Welt der Institutionen und insbesondere der Rechtspflege beschäftigt sind. Denn in einem für die Menschheit so kritischen Augenblick, in dem die Idee des Gemeinwohls – das viel mehr ist als die Summe des Wohls der Einzelnen – auf die Probe gestellt wird, handelt es sich um einen schweren und verantwortungsvollen Einsatz. Er betrifft nämlich die Grundwerte unseres Zusammenlebens und wird umgesetzt in einem Bereich, der ein privilegiertes Territorium der Annäherung und Zusammenarbeit von Gläubigen und Nichtgläubigen darstellt.

Die erste Überlegung, die ich mit Ihnen teilen möchte, entspringt dem synodalen Weg, den wir derzeit leben. Denn dieser Weg betrifft, wie ich kürzlich in Erinnerung gerufen habe (vgl. Ansprache zur Eröffnung des Gerichtsjahres der Römischen Rota), auch das Rechtswesen.

Synodalität bedeutet vor allem, gemeinsam unterwegs zu sein. Im Rechtswesen bedeutet das, dass alle Prozessteilnehmer – unter Berücksichtigung der notwendigen Vielfalt der Rollen und Interessen – aufgerufen sind, durch das Streitverfahren, die Gegen-überstellung der Argumente und die sorgfältige Untersuchung der Beweise zur Feststellung der Wahrheit gemeinsam beizutragen.

Dieses gemeinsame Unterwegssein verlangt daher die Übung des Zuhörens, das – wie wir wissen – zum Wesen eines gerechten Verfahrens gehört. Bei der Rechtstätigkeit wird von den Richtern verlangt, das, was von den Parteien vorgebracht und bewiesen wird, ohne Vorurteile oder vorgefertigte Meinungen ihnen gegenüber beständig und aufrichtig anzuhören. Mit derselben Bereitschaft zum Anhören, das Zeit und Geduld erfordert, muss jedes Mitglied des Richterkollegiums offen sein für die von den anderen Mitgliedern vorgebrachten Argumente, um zu einem ausgewogenen und gemeinsamen Urteil zu gelangen. Alle anhören.

Eine ernsthafte und geduldige Entscheidungsfindung ist daher weiterhin unverzichtbar, um am Ende zu einem gerechten Urteil zu gelangen und so das Wesen und die Ziele des Verfahrens zu verwirklichen. Dies muss die Verwirklichung der Gerechtigkeit gegen-über den betroffenen Personen und gleichzeitig die Wiederherstellung der sozialen Eintracht sein, die in die Zukunft blickt und hilft, einen Neuanfang zu machen.

Um zu diesem Ziel zu gelangen, setzen die Erfordernisse der Gerechtigkeit eine vergleichende Bewertung gegensätzlicher Positionen und Interessen voraus und verlangen eine Wiedergutmachung. Außerdem muss die Gerechtigkeit in den Strafverfahren immer verbunden sein mit dem Streben nach Barmherzigkeit, das letztlich zur Umkehr und zur Vergebung einlädt. Diese beiden Pole ergänzen einander, und man muss einen Ausgleich anstreben, im Bewusstsein, dass es wahr ist, dass eine Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit zur Auflösung der sozialen Ordnung führt, es aber auch wahr ist, dass »die Barmherzigkeit die Fülle der Gerechtigkeit und die leuchtendste Bekundung der Wahrheit Gottes ist« (Apostolisches Schreiben Amoris laetitia, 311).

In dieser Hinsicht ist der Rückgriff auf die Billigkeit wertvoll, weise definiert als Einzelfallgerechtigkeit. Unbeschadet der Gesetzesvorschrift führt sie im Augenblick der Anwendung des allgemeinen Gesetzes dazu, die Erfordernisse des konkreten Falls, besonderer Situationen, die tatsächlich besondere Beachtung verdienen, zu berücksichtigen. Der Rückgriff auf die Billigkeit ist kein ausschließliches Vorrecht des Kirchenrechts, findet aber zweifellos in ihm besondere Anerkennung und Wertschätzung, da es in enger Beziehung zum Liebesgebot des Evangeliums steht, des wahren Inspirationsprinzip des ganzen Handelns der Kirche.

Bekanntlich wird das Kirchenrecht in Anbetracht des besonderen Wesens des Staates der Vatikanstadt als »erste Rechtsquelle und erstes Bezugskriterium zur Rechtsauslegung« (Art. 1 Legge sulle fonti Nr. LXXI vom 1. Oktober 2008) anerkannt.

Außerdem muss daran erinnert werden, dass in den Angelegenheiten, die im Kirchenrecht und in den anderen »Hauptquellen« des Rechts (auf die in Art. 1 des Legge sulle fonti verwiesen wird) nicht vorgesehen sind, ergänzend und nach vorhergehender Annahme von Seiten der zuständigen vatikanischen Autorität, die Gesetze und die anderen im italienischen Staat erlassenen Rechtsakte befolgt werden, unter der Voraussetzung, dass diese weder den Vorschriften des Eigenrechts noch den allgemeinen Grundsätzen des Kirchenrechts und auch nicht den Normen der Lateranverträge sowie der Folgeabkommen zuwiderlaufen (vgl. Art. 3 Legge sulle fonti).

Hinsichtlich eines so gestalteten rechtlichen Rahmens ist die »ratio« der Disziplin über die Ernennung der Richter, die im kürzlich novellierten Gesetz über die Rechtsordnung enthalten ist, offensichtlich (Art. 8). Dort heißt es, dass die Richter des Gerichtshofes – ich zitiere – »vorzugsweise unter Universitäts-professoren […], in jedem Fall aber unter renommierten Juristen mit nachgewiesener Erfahrung im gerichtlichen oder forensischen, zivilen, straf- oder verwaltungsrechtlichen Bereich ausgewählt« werden sollen, und »in jedem Fall die Anwesenheit zumindest eines Richters, der Experte im kanonischen Recht und Kirchenrecht ist, gewährleistet sein muss« (Art. 8). Eine solche Regelung ist sinnvoll darauf ausgerichtet, innerhalb des Richterkollegiums sowie im Amt des Kirchenanwalts das Vorhandensein von Fachkenntnissen zu garantieren, die dazu beitragen, die bestmögliche Kenntnis eines besonderen und komplexen Quellensys-tems wie des vatikanischen sowie die Möglichkeit maßgeblicher und zuverlässiger Entscheidungen zu gewährleisten.

In dieser Hinsicht bietet die Tätigkeit, die die Richter durchführen, um die Ausübung der Gerechtigkeit zu gewährleisten, einen notwendigen und völlig legitimierten Beitrag zur Lösung der Probleme zivilen und strafrechtlichen Charakters, die über jene hinausgehen, für die die Apostolischen und kanonischen Gerichtshöfe zuständig sind, und die anders gelagert sind. Diese Arbeit ist dazu bestimmt, zuzunehmen in einer Zeit der Reformen wie der, die vor einiger Zeit in Gang gesetzt wurde und auch im Verlauf des vergangenen Jahres fortgesetzt wurde, mit einigen bedeutenden Neuerungen sowohl im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich als auch im Rechtswesen. Diese Reformen sollen einerseits den Maßstäben entsprechen, die in verschiedenen Bereichen – wie dem wirtschaftlichen – von der internationalen Gemeinschaft entwickelt wurden, und andererseits dem Erfordernis der Kirche, alle ihre Strukturen einem Stil anzupassen, der immer mehr dem Evangelium entspricht.

Was Ersteres betrifft, so wurden Vorschriften eingeführt, um Sparmaßnahmen zu fördern1, die durch die von der Pandemie verursachten Schwierigkeiten leider noch dringender geworden sind, und um die Transparenz in der öffentlichen Finanzverwaltung weiter zu stärken2, die in einer Wirklichkeit wie der Kirche vorbildlich und untadelig sein muss, vor allem von Seiten von Subjekten, die verantwortungsvolle Posten bekleiden.

Dienst an der Wahrheit

Was das Rechtswesen betrifft, so sollte durch gezielte Veränderungen und Ergänzungen einigen Erfordernissen zur Aktualisierung des Gesetzesrahmens entsprochen werden, die die Überwindung nunmehr ungeeigneter Ordnungen verlangten. Das Streben nach Gerechtigkeit verlangt auch Strukturreformen, die ihre richtige Anwendung gestatten. Unter den bedeutendsten Neuerungen möchte ich – um zu einer immer volleren und gemeinsamen Umsetzung zu gelangen – insbesondere jene hervorheben, die durch eine Änderung des Gesetzes über die Rechtsordnung bestimmt haben, dass das Amt des Kirchenanwalts seine Rolle in den drei Gerichtsinstanzen ausüben soll.3 Auf diese Weise sollte der vorrangigen Erfordernis entsprochen werden, dass im geltenden verfahrensrechtlichen Sys-tem die Gleichheit zwischen allen Gliedern der Kirche sowie ihre gleiche Würde und Position zum Ausdruck kommen muss, ohne überkommene Privilegien, die nicht mehr der Verantwortung entsprechen, die einem jeden in der »aedificatio Ecclesiae« zukommt.4

Weitere Erfordernisse zur Aktualisierung der vatikanischen Gesetzgebung, vor allem im Bereich des Strafverfahrens und der internationalen Zusammenarbeit, können Antwort finden in gezielten Reformmaßnahmen, die bereits untersucht werden, um die Mittel zur Vorbeugung und Bekämpfung von Straftaten zu stärken und auf die wachsende Forderung nach Gerechtigkeit, die auch in unserem Staat zu verzeichnen ist, zu antworten.

In diesem Zusammenhang kann man daran erinnern, dass im Laufe des vergangenen Jahres einige schwierige Rechtsverfahren in Bezug auf Straftaten im Finanzbereich oder Straftaten gegen die guten Sitten zur Entscheidung gelangt sind. Sie haben sowohl kriminelle Verhaltensweisen ans Tageslicht gebracht, die sofort bestraft wurden, als auch unangemessene Verhaltensweisen, die den Eingriff der zuständigen kirchlichen Autorität hervorgerufen haben.

Der Ablauf der Verfahrensdynamik muss es gestatten, die verletzte Ordnung wiederherzustellen und den Weg der Gerechtigkeit zu gehen: den Weg, der zu einer immer volleren und effektiven Geschwisterlichkeit führt, in der alle geschützt sind, insbesondere die schwächeren Menschen. Denn Gesetz und Urteil müssen immer im Dienst der Wahrheit und der Gerechtigkeit stehen, ebenso wie im Dienst der Tugend der Liebe, die dem Evangelium entspricht. Wie der heilige Johannes Paul II. in der Ansprache zur offiziellen Vorstellung des neuen Codex des Kanonischen Rechtes sagte, muss das Recht, um der Sache der Gerechtigkeit zu dienen, stets am Gesetz und Gebot der Liebe inspiriert sein.

In dieser Hinsicht, die jede selbstbezogene Sichtweise des Gesetzes ausschließt, ist die von Jesus Christus angebotene Gerechtigkeit nicht so sehr ein Regelwerk, das mit technischer Sachkenntnis angewandt werden muss, sondern vielmehr eine Lebenseinstellung, die jene leitet, die Verantwortung tragen und die vor allem die Verpflichtung zur persönlichen Umkehr verlangt. Sie verlangt eine Herzens-einstellung, die im Gebet erfleht und genährt werden muss, und dank der wir unsere Pflichten erfüllen können, indem wir die Korrektheit der Gesetze mit der Barmherzigkeit verbinden, die nicht die Aufhebung der Gerechtigkeit, sondern ihre Erfüllung ist (vgl. Röm 13,8-10).

Meine Lieben, ich wünsche euch, dieses Bewusstsein bei der Ausübung eurer wichtigen Verantwortung im Dienst der Gerechtigkeit stets zu bewahren. Mit aufrichtiger Anerkennung eures großherzigen Einsatzes segne ich euch und versichere euch meines Gebets. Und vergesst bitte auch ihr nicht, für mich zu beten. Danke!

Fußnoten

1 Vgl. Apostolisches Schreiben in Form eines »Motu proprio« über die Sparmaßnahmen, die das Personal des Heiligen Stuhls, des Governatorats des Staates der Vatikanstadt und anderer damit verbundener Einrichtungen betreffen (23. März 2021).

2 Vgl. Apostolisches Schreiben in Form eines »Motu proprio« mit Verfügungen über die Transparenz in der öffentlichen Finanzverwaltung (26. April 2021).

3 Vgl. Apostolisches Schreiben in Form eines »Motu proprio« zum Thema der Zuständigkeit der Rechtsorgane des Staates der Vatikanstadt (30. April 2021), Art. 3.

4 Vgl. Ansprache zur Eröffnung des 92. Gerichtsjahrs des Staates der Vatikanstadt,
27. März 2021.

(Orig. ital. in O.R. 12.3.2022)