Bei einer Eucharistiefeier in der maltesischen Stadt Floriana mit rund 15.000 Menschen hat der Papst die Christen des Landes zu noch größerer Überzeugungskraft im Glauben aufgerufen. Im Folgenden die Predigt des Heiligen Vaters im vollen Wortlaut:
Jesus ging »am frühen Morgen […] wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm« (Joh 8,2). So beginnt die Episode mit der Ehebrecherin. Der Hintergrund ist freundlich: ein Morgen an heiliger Stätte, im Herzen Jerusalems. Der Protagonist ist das Volk Gottes, das im Hof des Tempels Jesus, den Meister, aufsucht: Sie wollen ihn anhören, denn was er sagt, erleuchtet und wärmt. Seine Lehre ist nichts Abstraktes, sie betrifft das Leben und macht es frei, verwandelt es, erneuert es. Das ist der »Spürsinn« des Gottesvolkes, das sich nicht mit dem Tempel aus Steinen zufriedengibt, sondern sich um die Person Jesu versammelt. An dieser Episode sehen wir das Volk der Gläubigen aller Zeiten, das heilige Volk Gottes, das hier in Malta zahlreich und lebendig ist, treu in seiner Suche nach dem Herrn, gebunden an einen konkreten, gelebten Glauben. Ich danke euch dafür.
Vor dem Volk, das zu ihm strömt, hat es Jesus nicht eilig: »Er setzte sich«, heißt es im Evangelium, »und lehrte es« (V. 2). Aber in der Schule Jesu gibt es leere Plätze. Es gibt Abwesende: das sind die Frau und ihre Ankläger. Sie sind nicht wie die anderen zum Meis-ter gegangen, und die Gründe für ihre Abwesenheit sind unterschiedlich: Die Schriftgelehrten und Pharisäer meinen, sie wüssten schon alles, sie bräuchten die Lehre Jesu nicht; die Frau hingegen hat sich verirrt, ist vom Weg abgekommen, weil sie ihr Glück auf falschen Pfaden gesucht hat. Die Abwesenheit ist also auf unterschiedliche Beweggründe zurückzuführen, so wie auch der Ausgang ihrer Geschichten unterschiedlich ist. Beschäftigen wir uns mit diesen Abwesenden.
Zunächst einmal die Ankläger der Frau. In ihnen sehen wir das Bild derer, die sich rühmen, gerecht zu sein, das Gesetz Gottes zu befolgen, gute und anständige Menschen zu sein. Sie achten nicht auf ihre eigenen Fehler, sind aber sehr darauf bedacht, die Fehler der anderen zu finden. So gehen sie zu Jesus: nicht mit offenem Herzen, um ihm zuzuhören, sondern sie »wollten […] ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen« (V. 6). Es ist eine Absicht, die das Innere dieser gebildeten und religiösen Menschen deutlich macht, die die Heilige Schrift kennen, den Tempel besuchen, aber alles ihren privaten Interessen unterordnen und nicht gegen die bösen Gedanken ankämpfen, die sich in ihren Herzen regen. In den Augen der Menschen scheinen sie Experten für Gott zu sein, aber gerade sie erkennen Jesus nicht; im Gegenteil, sie sehen in ihm einen Feind, den es zu beseitigen gilt. Dazu stellen sie eine Person vor ihn, so als wäre sie eine Sache, nennen sie verächtlich »diese Frau« und prangern ihren Ehebruch öffentlich an. Sie drängen darauf, die Frau zu steinigen, und schütten ihre Abneigung über sie aus, die sie auch gegen das Mitgefühl Jesu hegen. Und das alles tun sie unter dem Deckmantel ihres Rufs als religiöse Menschen.
Brüder und Schwestern, diese Gestalten zeigen uns, dass sich selbst in unserer Religiosität der Wurm der Heuchelei und das Las-ter, mit dem Finger zu zeigen, einschleichen kann. In jedem Zeitalter, in jeder Gemeinschaft. Es besteht immer die Gefahr, dass wir Jesus missverstehen, dass wir seinen Namen im Munde führen, ihn aber in Wirklichkeit verleugnen. Und dies kann auch geschehen, wenn wir Banner mit Kreuzen darauf aufziehen. Wie können wir also überprüfen, ob wir Jünger in der Schule des Meisters sind? Durch unsere Sichtweise, durch die Art, wie wir unseren Nächsten und wie wir uns selbst sehen. Daran erkennt man, zu wem wir gehören.
Es kommt darauf an, wie wir unseren Nächsten sehen: ob wir es so tun, wie Jesus es uns heute zeigt, also mit einem barmherzigen Blick, oder ob wir urteilend, manchmal sogar verächtlich blicken, wie die Ankläger im Evangelium, die sich als Vorkämpfer Got-tes aufspielen, aber nicht merken, dass sie ihre Brüder und Schwestern mit Füßen treten. In Wirklichkeit haben diejenigen, die glauben, den Glauben zu verteidigen, indem sie mit dem Finger auf andere zeigen, vielleicht eine religiöse Vision, aber sie vertreten nicht den Geist des Evangeliums, denn sie vergessen die Barmherzigkeit, die das Herzstück Gottes ist.
Um zu verstehen, ob wir wahre Jünger des Meisters sind, müssen wir auch überprüfen, wie wir uns selbst sehen. Die Ankläger der Frau sind überzeugt, dass sie nichts zu lernen haben. Ihr äußerer Apparat ist zwar perfekt, aber es fehlt ihnen die Wahrheit des Herzens. Sie sind das Abbild jener Gläubigen, die in jedem Zeitalter aus dem Glauben eine Fassade machen, bei der das feierliche Äußere im Vordergrund steht, aber die innere Armut fehlt, die der kostbarste Schatz des Menschen ist. Was für Jesus zählt, ist die offene Bereitschaft derer, die sich nicht als schon angekommen, sondern als erlösungsbedürftig empfinden. Es tut uns also gut, wenn wir beten und auch wenn wir an schönen Gottesdiensten teilnehmen, uns zu fragen, ob wir im Einklang mit dem Herrn sind. Wir können ihn direkt fragen: »Jesus, ich bin hier bei Dir, aber was willst Du von mir? Was möchtest Du, dass ich in meinem Herzen, in meinem Leben verändere? Wie soll ich die anderen sehen?« Es wird uns guttun, so zu beten, denn der Meis-ter gibt sich nicht mit Äußerlichkeiten zufrieden, sondern sucht die Wahrheit des Herzens. Und wenn wir ihm unser Herz in Wahrheit öffnen, kann er Wunder in uns bewirken.
Wir sehen dies an der ehebrecherischen Frau. Ihre Situation scheint kompromittiert zu sein, doch vor ihren Augen öffnet sich ein neuer, vorher undenkbarer Horizont. Mit Beleidigungen überschüttet, bereit, unerbittliche Worte und harte Strafen zu empfangen, sieht sie sich erstaunt von Gott freigesprochen, der ihr eine unerwartete Zukunft eröffnet: »Hat dich keiner verurteilt?« […] sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr« (VV. 10.11). Welch ein Unterschied zwischen dem Meister und den Anklägern! Diese hatten die Heilige Schrift zitiert, um sie zu verurteilen; Jesus, das Wort Gottes selbst, rehabilitiert die Frau vollständig und gibt ihr die Hoffnung zurück. Aus dieser Geschichte lernen wir, dass jede Bemerkung, die nicht von Nächstenliebe motiviert ist und keine Nächs-tenliebe enthält, denjenigen, der sie erhält, noch mehr niederschmettert. Gott hingegen lässt immer eine Möglichkeit offen und versteht es, jedes Mal Wege der Befreiung und Erlösung zu finden.
Das Leben der Frau verändert sich durch Vergebung. Barmherzigkeit und Elend sind sich begegnet. Barmherzigkeit und Elend sind dort. Und die Frau verändert sich. Man könnte sogar meinen, dass sie, nachdem ihr Jesus vergeben hat, ihrerseits gelernt hat, zu vergeben. Vielleicht hat sie ihre Ankläger nicht mehr als starre und böse Menschen gesehen, sondern als diejenigen, die ihr die Begegnung mit Jesus ermöglicht haben. Der Herr will, dass wir, seine Jünger, dass wir als Kirche, der er vergeben hat, unermüdliche Zeugen der Versöhnung werden: Zeugen eines Gottes, für den es das Wort »unwiederbringlich« nicht gibt; eines Gottes, der immer vergibt, immer. Gott vergibt immer. Wir sind es, die darin nachlassen, um Vergebung zu bitten. Gott glaubt weiter an uns und er gibt uns jedes Mal die Chance, wieder neu anzufangen. Es gibt keine Sünde und kein Versagen, das, wenn es zu ihm gebracht wird, nicht zu einer Gelegenheit werden könnte, ein neues, anderes Leben im Zeichen der Barmherzigkeit zu beginnen. Es gibt keine Sünde, die man nicht zu ihm bringen könnte. Gott vergibt alles. Alles.
Das ist Jesus, der Herr. Diejenigen, die seine Vergebung erfahren, kennen ihn wirklich. Diejenigen, die, wie die Frau im Evangelium, entdecken, dass Gott uns durch unsere inneren Wunden besucht. Gerade dort wird der Herr gegenwärtig, denn er ist nicht für die Gesunden gekommen, sondern für die Kranken (vgl. Mt 9,12). Und heute schlägt diese Frau, die in ihrem Elend Barmherzigkeit erfahren hat und die durch die Vergebung Jesu geheilt in die Welt hinausgeht, uns als Kirche vor, wieder in die Schule des Evangeliums zurückzukehren, in die Schule des Gottes der Hoffnung, der immer wieder überrascht. Wenn wir ihn nachahmen, werden wir uns nicht auf das Anprangern von Sünden konzentrieren, sondern in Liebe nach den Sündern suchen. Wir werden nicht die Anwesenden zählen, sondern die Abwesenden aufsuchen. Wir werden nicht wieder mit dem Finger auf andere zeigen, sondern beginnen zuzuhören. Wir werden die Verachteten nicht ausgrenzen, sondern wir werden uns zuerst um die kümmern, die als Letzte angesehen werden. Das ist es, liebe Brüder und Schwestern, was Jesus uns heute durch sein Beispiel lehrt. Lassen wir uns von ihm in Erstaunen versetzen und lasst uns seine Neuheit mit Freude annehmen.