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FRAUEN KIRCHE WELT

Ein Interview mit der Consolata-Missionarin, einer Pionierin des Kampfes gegen den Frauenhandel

Eugenia Bonetti

30. April 2022

Dieser Artikel wurde in der Oktober-Nummer des Jahres 2015 veröffentlicht

Schwester Eugenia Bonettis Worte sprudeln wie ein Fluss, der Hochwasser führt. Sie erzählt von ihrer Aufgabe, von ihren Begegnungen mit »den Straßenmädchen und den ›Schönen der Nacht‹«, mit der Leidenschaft eines Menschen, der dieser Mission sein ganzes Leben gewidmet hat und ihr, so dies möglich wäre, auch noch ein weiteres widmen würde. Am Sitz der Italienischen Ordensoberenkonferenz (USMI), wo sie die Ordensschwestern verschiedener Kongregationen koordiniert, die gegen den Menschenhandel und gegen die Sklaverei ankämpfen, berichtet sie so frisch und enthusiastisch wie eine junge Frau von ihren Initiativen und Projekten. Dabei schaut sie auf Jahrzehnte der Arbeit, der Mühe und der Mission zurück.

Sie befassen sich seit zwanzig Jahren mit dem Frauenhandel, mit dem, was Franziskus als die Sklaverei des 21. Jahrhunderts bezeichnet hat. Warum?

Das war nicht meine Entscheidung, sie ist von jemand anderem für mich getroffen worden. Ich habe viele Jahre lang in Afrika gearbeitet, und die Frauen dort waren meine Lehrmeisterinnen. Ich habe von ihnen die Gastfreundschaft, die Freude und das Miteinander-Teilen gelernt. Die afrikanischen Frauen sind in all ihrer materiellen Armut absolut einzigartig. Als ich nach Italien zurückgekehrt bin, bin ich in eine Krise geraten. Es kam mir vor, als hätte ich meine Berufung verraten. Ich wollte solange nach Afrika zurückkehren, bis ich in Turin, wo ich damals arbeitete, eine Begegnung hatte. Ich erinnere mich bestens daran: man schrieb den 2. November 1993 und ich habe Maria kennengelernt, eine Nigerianerin, eine kranke Prostituierte mit drei Kindern, die keinerlei Ausweispapiere hatte. Sie hat meine Wirklichkeit als Missionarin, meine Art und Weise, meine Berufung zu leben, völlig auf den Kopf gestellt. Der Herr hat sie mir geschickt, um mich erkennen zu lassen, dass die Missionsarbeit keineswegs eine Frage der Geographie war. Maria hat mir dabei geholfen, die Welt der Nacht und der Straße zu betreten. Später habe ich viele weitere Frauen ihrer Art kennengelernt: versklavte, zerstörte Frauen, die der Gegenstand von Verachtung waren, die beliebig verfügbar waren und deren man sich hinterher entledigen konnte. Ausgebeutet von meinen Landsleuten, von denen 90 Prozent behaupten, katholisch zu sein. Ich habe begriffen, dass ich ihnen beistehen musste. Und sie haben, geradeso wie Maria, den Unterschied zwischen solchen Leuten begriffen, die sie ausbeuteten, und denen, die ihnen halfen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen.

Also war die Begegnung mit einer Frau das auslösende Moment Ihrer Mission?

Eine neue Welt hat sich mir aufgetan. Im Kontakt mit diesen Frauen habe ich angefangen zu begreifen, dass wir es nicht mit Prostitution, sondern mit einer neuen Form der Sklaverei zu tun haben. In jenen Jahren war noch nicht einmal die Polizei auf dem Laufenden darüber, dass es diesen Menschenhandel gab. Nur wir, einige Ordensfrauen, haben es begriffen. Es gab in diesen Jahren in Turin 3.000 Frauen auf dem Strich, die fünf verschiedene Regionen [das italienische Gegenstück zu den Bundesländern] »bedienten«.  Wir haben uns ihnen genähert und haben ihnen ganz konkrete Vorschläge unterbreitet: Sprachkurse, medizinische Versorgung, eine Arbeit. Ich war das Bindeglied zwischen unserer Welt und der ihren – die Kenntnis ihrer Sprache und ihrer Länder hat mir den Weg geebnet.

Was war in jenen Jahren Ihr größtes Problem?

Wir konnten ihnen helfen, aber wir konnten ihre Papiere nicht in Ordnung bringen. Ihre Ausweise waren in Händen der Menschenhändler. Sie hatten sich Voodoo-Riten unterzogen und waren überzeugt, dass das, was sie taten, dem Wunsch der göttlichen Geistwesen entsprach und dass es zum Wohl ihrer Familien geschah. Wenn sie es nicht getan hätten, dann wäre ihr Geist entfleucht. Sie mussten ihre Schulden bei den Menschenhändlern und bei den »Madames« abzahlen. Damals handelte es sich um Dutzende von Millionen Lire. Heute sind es zwischen 60.000 und 70.000 Euro. Und unterdessen gingen sie an Leib und Seele zugrunde.

Mittlerweile sind zwanzig Jahre vergangen. Sie arbeiten heutzutage mit 250 Personen aus 80 verschiedenen Ordenskongregationen zusammen. Der Einsatz gegen den Menschenhandel hat Riesenschritte getan.

Ja. Wir haben die Regierung darum ersucht, die Existenz der Sklaverei anzuerkennen, wir haben die weiblichen Parlamentarier mit dieser Wirklichkeit vertraut gemacht, und 1998 wurde uns ein Gesetz bewilligt, das den Menschenhandel bekämpft. Dieses Gesetz hat ein großes Tor aufgestoßen. Nachdem die Existenz des Menschenhandels einmal anerkannt worden war, war es uns möglich, Häuser für die Frauen zu öffnen, die versuchen wollten, sich aus der Sklaverei zu befreien. Im Jahr 2000 bin ich nach Rom übergesiedelt, um die Arbeit jener Ordensgemeinschaften zu koordinieren, die diese Häuser öffneten. Es war das Jubiläumsjahr, wir wollten ein positives Zeichen setzen, wir wollten wirklich die Ketten zerbrechen, die Sklavinnen befreien. Und zwar noch gleich in diesem Jahr. Zu diesem Zweck haben 13 Ordenskongregationen diesen Frauen die Pforten ihrer Konvente geöffnet. Und 250 Ordensfrauen haben angefangen, in den Frauenhäusern, an den Beratungsstellen, in den Streifen auf der Straße zu arbeiten. Wir haben begriffen, dass wir unsere Kräfte vereinen müssen. Alle mussten ihren Beitrag leisten: die Regierung, die Kirche, die Schulen, die Familien, die Massenmedien.

Die Welt der Prostitution und des Menschenhandels ist eine schwer zu knackende Nuss: ein unheimlicher Aufwand und kaum ein Ergebnis. Ist es auch Ihnen so ergangen?

Wir haben im Jahr 2000 den Ordenskongregationen Gelegenheit gegeben, das Heilige Jahr ganz konkret zu erleben, wir haben unsere Konvente geöffnet. Seit damals sind über 6.000 Frauen gerettet worden. Wir haben sie aufgenommen und ihnen psychologische Hilfe und Sozialhilfe besorgt. Wir haben dafür gesorgt, dass sie Papiere, Aufenthaltsgenehmigungen und Ausweise bekamen.

Wie ist es heute um den Menschenhandel bestellt? Sind im Vergleich zum Jahr 2000 Fortschritte gemacht worden oder ist es wieder schlechter geworden?

Es gibt ein negatives Faktum: Die Wirtschaftskrise hat die Frauen, denen es gelungen ist, der Sklaverei zu entkommen, sehr belastet. Sie sind immer die ersten, die ihre Arbeit verlieren. Und gerade an diesem Punkt ist die Kreativität der Nächstenliebe ins Spiel gekommen. Um den Frauen zu helfen, die nicht zurechtkommen und es nicht mehr schaffen, in Italien zu leben, ein Projekt für ihre unterstützte und voll finanzierte Repatriierung ins Leben gerufen. Wir haben zu Ordensfrauen in ihren Heimatländern Kontakt aufgenommen. Wir haben die nigerianischen Schwestern angerufen, wir haben ihnen die Lage und die Gefahren geschildert, in denen diese Frauen schwebten. Seit 2013 haben wir auch die Caritas um Finanzmittel für ein Projekt gebeten. Den nigerianischen Mädchen, die in ihre Heimat zurückkehren, wird die Reise bezahlt, außerdem wird ihnen zwei Jahre lang die Miete bezahlt und man gibt ihnen etwas Geld, um eine kommerzielle Tätigkeit anzufangen. Wir versuchen, durchzuhalten; die Regierung hat wenige Finanzmittel zu vergeben, viele gemeinnützige Organisationen haben aufgehört, aber unsere Kongregationen bringen es fertig, mit wenig viel auszurichten. Es gibt jetzt das Netzwerk Talitha Kum, das die Ordensfrauen der Heimat-, Durchgangs- und Zielländer dieser Frauen koordiniert, um sie der Sklaverei zu entreißen.

Konnten Sie bei ihrer Mission auf Unterstützung zählen? Ist es Ihnen beispielsweise gelungen, auch die männlichen Ordensgemeinschaften mit einzubeziehen?

Bisher nicht. Es kostet uns ungeheure Mühe, es ihnen begreiflich zu machen. Mitfühlende Menschen kann man wirklich suchen wie die sprichwörtliche Nadel in einem Heuhaufen. Und dabei wäre es so wichtig: wenn wir es nicht fertigbringen, sie zur Zusammenarbeit mit uns zu bewegen, dann wird sich die zugrundeliegende Kultur niemals ändern. Und in den Gemeinden wird in den Predigten der Priester niemals auf diese Wirklichkeit angespielt, die wir zu bekämpfen suchen. Sie sagen, dass das Frauensache ist. Nein, so erwidere ich, es ist Männersache. Wenn Monat für Monat neun Millionen Mal die »Dienstleistungen« der Prostituierten gefragt sind, dann ist das Männersache. Und angesichts der Tatsache, dass wir uns hier in Italien befinden, Sache der katholischen Männer. Unsere künftige Arbeit zielt darauf ab, die Gemeinden, die Diözesen, die Bischofskonferenzen zu involvieren. Wir hoffen darauf, dass Papst Franziskus am 8. Februar, dem 2. Weltgebetstag gegen den Menschenhandel, ein klares Wort sprechen wird.

Sie gehen seit 2013 in das Auffanglager in Ponte Galeria bei Rom: was können Sie für diese Frauen tun?

Wir gehen jeden Samstag dorthin: wir begegnen dort der völligen Verzweiflung. Diese Frauen haben nichts, nur ein Bett, in dem sie schlafen, und sie haben den ganzen Tag absolut nichts zu tun. Sie haben noch nicht einmal einen Gemeinschaftsraum zur Verfügung. Sie wissen nicht, was ihnen die Zukunft bringen wird. Wir tun, was immer wir können: Wir stellen Kontakte zu ihren Heimatländern her, versuchen, sie in unseren Häusern unterzubringen. Mitunter scheint uns, wir brächten rein gar nichts zuwege. Man hat uns das auch ins Gesicht gesagt: Wozu geht Ihr dahin? Wissen Sie, was eine Schwester darauf geantwortet hat? »Wir tun dasselbe, was die Muttergottes unter dem Kreuz getan hat.« Sie hat nichts ändern können, aber sie ist mit ihrem Sohn gestorben.

Angesichts des Massenexodus der Menschen, die vor Krieg und Hunger fliehen, sprechen heutzutage viele Leute von der Notwendigkeit, diese Menschen aufzunehmen: Was heißt es für Sie?

Aufnehmen heißt für mich, dass ich einer Frau eine Zukunft schenke, dass ich ihr sage, dass sie nicht allein ist, ihr zu vermitteln, dass es in ihrem Leben noch Liebe und Freude geben kann.

Wie ist es um das Verhältnis der Frauen, die ihr auf der Straße findet, zum Glauben bestellt?

Vor allem die Nigerianerinnen bitten uns sofort um einen Rosenkranz und eine Bibel. Sie nähren sich mit dem Wort Gottes, sie sind frömmer als wir. Sie leben eine furchtbare Dichotomie. Maria sagte mir: Allmorgendlich, bevor ich meinen Bürgersteig verließ, bat ich den Herrn um seine Vergebung. Ich wusste, dass das, was ich tat, schlecht war, aber ich wusste auch, dass ich abends wieder hingehen würde.

Tolstoi hat einmal gesagt: Es hat Prostitution schon vor Mose gegeben, und es gab sie nachher. Es wird sie immer geben. Die Wahrheit der ersten beiden Behauptungen ist nicht zu widerlegen: was antworten Sie auf die dritte?

Es gibt eine freiwillige Prostitution, und es gibt eine, die erzwungen wird. Das sind zweierlei Dinge. Im ersten Fall bedient sich die Frau ihres eigenen Körpers, im zweiten Fall hingegen haben wir es mit Sklaverei zu tun. Eine Frau in den Händen der Menschenhändler muss bis zu 4.000 mal ihre Dienste erweisen, um ihre Schulden zu begleichen. Am Ende ist sie nicht mehr sie selbst. Afrika kann es sich nicht erlauben, eine ganze Frauengeneration zu zerstören. Wenn es das tut, dann stirbt der gesamte Kontinent.

Von Ritanna Armeni
Journalistin und Schriftstellerin, Mitglied des Direktionskomitees von »Frauen – Kirche - Welt«


Wer sie ist

Schwester Eugenia Bonetti, die 1939 in Bubbiano (Mailand) geboren wurde, trat im Alter von zwanzig Jahren den Consolata-Missionsschwestern bei. Sie wurde 1967 nach Kenia gesandt, wo sie 24 Jahre lang blieb. Nach ihrer Rückkehr nach Italien lebte sie zunächst in Turin und dann in Rom, wo sie zur Leiterin der Abteilung für Menschenhandel, Frauen und Minderjährige der Italienischen Ordensoberenkonferenz (USMI) ernannt wurde. Einer der zahlreichen Preise, die ihr verliehen wurden, war die 2011 verliehene Ernennung zum Servitor pacis der »Path to Peace Foundation« der Ständigen Vertretung des Heiligen Stuhles bei den Vereinten Nationen.